Ankleben verboten!
Die Technik des Schriftstellers in dreizehn Thesen
I. Wer an die Niederschrift eines größeren Werks zu gehen beabsichtigt, lasse sich's wohl sein und gewähre sich nach erledigtem Pensum alles, was die Fortführung nicht beeinträchtigt.
II. Sprich vom Geleisteten, wenn du willst, jedoch lies während des Verlaufes der Arbeit nicht daraus vor. Jede Genugtuung, die du dir hierdurch verschaffst, hemmt dein Tempo. Bei der Befolgung dieses Regimes wird der zunehmende Wunsch nach Mitteilung zuletzt ein Motor der Vollendung.
III. In den Arbeitsumständen suche dem Mittelmaß des Alltags zu entgehen. Halbe Ruhe, von schalen Geräuschen begleitet, entwürdigt. Dagegen vermag die Begleitung einer Etüde oder von Stimmengewirr der Arbeit ebenso bedeutsam zu werden, wie die vernehmliche Stille der Nacht. Schärft diese das innere Ohr, so wird jene zum Prüfstein einer Diktion, deren Fülle selbst die exzentrischen Geräusche in sich begräbt.
IV. Meide beliebiges Handwerkszeug. Pedantisches Beharren bei gewissen Papieren, Federn, Tinten ist von Nutzen. Nicht Luxus, aber Fülle dieser Utensilien ist unerläßlich.
V. Laß dir keinen Gedanken inkognito passieren und führe dein Notizheft so streng wie die Behörde das Fremdenregister.
VI. Mache deine Feder spröde gegen die Eingebung, und sie wird mit der Kraft des Magneten sie an sich ziehen. Je besonnener du mit der Niederschrift eines Einfalls verziehst, desto reifer entfaltet wird er sich dir ausliefern. Die Rede erobert den Gedanken, aber die Schrift beherrscht ihn.
VII. Höre niemals mit Schreiben auf, weil dir nichts mehr einfällt. Es ist ein Gebot der literarischen Ehre, nur dann abzubrechen, wenn ein Termin (eine Mahlzeit, eine Verabredung) einzuhalten oder das Werk beendet ist.
VIII. Das Aussetzen der Eingebung fülle aus mit der sauberen Abschrift des Geleisteten. Die Intuition wird darüber erwachen.
IX. Nulla dies sine linea – wohl aber Wochen.
X. Betrachte niemals ein Werk als vollkommen, über dem du nicht einmal vom Abend bis zum hellen Tage gesessen hast.
XI. Den Abschluß des Werkes schreibe nicht im gewohnten Arbeitsraume nieder. Du würdest den Mut dazu in ihm nicht finden.
XII. Stufen der Abfassung: Gedanke – Stil – Schrift. Es ist der Sinn der Reinschrift, daß in ihrer Fixierung die Aufmerksamkeit nur mehr der Kalligraphie gilt. Der Gedanke tötet die Eingebung, der Stil fesselt den Gedanken, die Schrift entlohnt den Stil.
XIII. Das Werk ist die Totenmaske der Konzeption.
Dreizehn Thesen wider Snobisten
(Snob im Privatkontor der Kunstkritik. Links eine Kinderzeichnung, rechts ein Fetisch. Snob: »Da kann der ganze Picasso einpacken.«)
I.
Der Künstler macht ein Werk.
Der Primitive äußert sich in Dokumenten.
II.
Das Kunstwerk ist nur nebenbei ein Dokument.
Kein Dokument ist als ein solches Kunstwerk.
III.
Das Kunstwerk ist ein Meisterstück.
Das Dokument dient als Lehrstück.
IV.
Am Kunstwerk lernen Künstler das Metier.
Vor Dokumenten wird ein Publikum erzogen.
V.
Kunstwerke stehen eins dem andern fern durch Vollendung.
Im Stofflichen kommunizieren alle Dokumente.
VI.
Inhalt und Form sind im Kunstwerk eins: Gehalt.
In Dokumenten herrscht durchaus der Stoff.
VII.
Gehalt ist das Erprobte.
Stoff ist das Geträumte.
VIII.
Im Kunstwerk ist der Je tiefer man sich in ein Stoff ein Ballast, den die Betrachtung abwirft.
Dokument verliert, desto dichter: Stoff.
IX.
Im Kunstwerk ist das Formgesetz zentral.
Ins Dokument sind Formen nur versprengt.
X.
Das Kunstwerk ist synthetisch: Kraftzentrale.
Die Fruchtbarkeit des Dokuments will: Analyse.
XI.
Im wiederholten Anblick steigert sich ein Kunstwerk.
Ein Dokument bewältigt nur durch Überraschung.
XII.
Die Männlichkeit der Werke ist im Angriff.
Dem Dokument ist seine Unschuld eine Deckung.
XIII.
Der Künstler geht auf die Eroberung von Gehalten.
Der primitive Mensch verschanzt sich hinter Stoffen.
Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen
I. Der Kritiker ist Stratege im Literaturkampf.
II. Wer nicht Partei ergreifen kann, der hat zu schweigen.
III. Der Kritiker hat mit dem Deuter von vergangenen Kunstepochen nichts zu tun.
IV. Kritik muß in der Sprache der Artisten reden. Denn die Begriffe des cénacle sind Parolen. Und nur in den Parolen tönt das Kampfgeschrei.
V. Immer muß ›Sachlichkeit‹ dem Parteigeist geopfert werden, wenn die Sache es wert ist, um welche der Kampf geht.
VI. Kritik ist eine moralische Sache. Wenn Goethe Hölderlin und Kleist, Beethoven und Jean Paul verkannte, so trifft das nicht sein Kunstverständnis, sondern seine Moral.
VII. Für den Kritiker sind seine Kollegen die höhere Instanz. Nicht das Publikum. Erst recht nicht die Nachwelt.
VIII. Die Nachwelt vergißt oder rühmt. Nur der Kritiker richtet im Angesicht des Autors.
IX. Polemik heißt, ein Buch in wenigen seiner Sätze vernichten. Je weniger man es studierte, desto besser. Nur wer vernichten kann, kann kritisieren.
X. Echte Polemik nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet.
XI. Kunstbegeisterung ist dem Kritiker fremd. Das Kunstwerk ist in seiner Hand die blanke Waffe in dem Kampfe der Geister.
XII. Die Kunst des Kritikers in nuce: Schlagworte prägen, ohne die Ideen zu verraten. Schlagworte einer unzulänglichen Kritik verschachern den Gedanken an die Mode.
XIII. Das Publikum muß stets Unrecht erhalten und sich doch immer durch den Kritiker vertreten fühlen.