Paul Léautaud, Le théâtre de Maurice Boissard. 1907-1923. Bd. 1. Paris: Librairie Gallimard (1926). 270 S.
Schriftsteller sollten daran gewöhnt werden, das Wörtchen »Ich« als ihre eiserne Ration zu betrachten. Wie Soldaten vor Ablauf von dreißig Tagen die ihrige nicht anrühren dürfen, so sollten Schriftsteller nicht vor geendigtem dreißigstem Jahr das »Ich« auskramen. Je früher sie darauf zurückgreifen, desto schlechter verstehen sie sich auf ihr Handwerk. Es gibt aber Ausnahmen. Ausnahmen sind die großen Polemiker. Ihr »Ich« ist eine konstruktive Leistung. Es ist durchsichtig und prismatisch angelegt und jede Reaktion in ihnen untersteht moralischen Gesetzen, die exakt sind wie die Gesetze über die Brechungswinkel. Zur Zeit ist Karl Kraus bekanntlich der größte europäische Vertreter dieses Typus. Der Deutlichkeit halber nennen wir Shaw, damit wir ganz genau erfahren, wie wir uns diesen Typus nicht vorzustellen haben. Ich weiß nicht, ob Paul Léautaud außerhalb von Paris einen Namen hat. Außerhalb Frankreichs hat er ihn nicht. Es wäre ein schöner Gegenstand zu zeigen, warum die große Satire nur in eingeschränkterem Wirkungskreise und aus kleinen Anlässen sich entwickeln kann, wie Wien die Stärke von Kraus, Paris die von Léautaud ausmacht, wie beide ihre Verve in geringen Dingen, und als Theaterrezensenten, zu entfalten wissen. Es ist auch gar nicht zu übersehen, daß der große Satiriker, noch mehr als der große Schriftsteller überhaupt, dem technischen Betrieb nicht nahe genug stehen kann. Kraus ediert seine eigene Zeitschrift und Léautaud ist in den Jahren, da er für den »Mercure de France« die Theaterkritik besorgte, Angestellter dieses Verlages gewesen. Die souveräne Haltung dieser Kritiken hat etwas derartiges zur Voraussetzung. Nur jemand, der nach Person und Leistung in einem großen literarischen Betrieb einen bestimmten Posten ausfüllt, konnte sich eine Kritik erlauben, die oft in einem seitenlangen Referat dem fraglichen Theaterabend nur drei Zeilen widmet, um Raum – wofür? für alles zu gewinnen, das dem Verfasser gerade in den Sinn kommt. Es gibt bestimmt Leute, die mehr von Dramaturgie verstehen als Léautaud, und hie und da (wenn auch nicht gerade in der Presse) kompetentere Fachleute für Regie. Man darf sogar behaupten, daß sich Kunst von anderm Standort aus sichten läßt als dem eines Rationalismus, der freilich in seiner Erscheinung bei Léautaud unendlich viel tiefer ist als die Mystik des von ihm – und von wem denn sonst noch? – durchschauten Claudel. Aber nie hat es einen Kritiker gegeben, der den Vorgang des Kritisierens selbst so erstaunlich und wahr zu gestalten gewußt hat. Das ist die außerordentliche Kunst dieses Mannes. Er mußte um das Ziel zu erreichen sich so schrankenlos exponieren: von seinen Feinden und Freunden, seinen Nachbarn im Theater und zu Hause, seinen Tieren und seinen Schriften, seinen politischen Oberzeugungen und seinen Rankünen, seinen Leidenschaften und seinen Verwandten sprechen. Es ist für einen Leser dieses Buches beinahe selbstverständlich, daß dieser Mann ein enragierter Menschenfeind und Sonderling ist, unzugänglich von jeher, sich mehr und mehr auf seinen Umgang mit den Katzen und Hunden zurückzieht, die er auf der Straße gefunden und zu sich genommen hat. Auch darin dem klassischen Charakterbilde der großen Satiriker völlig entsprechend. Nur ein sehr einsamer Mensch kann sein Ich so unverbraucht und unbestechlich mitten ins sachliche Bereich hineinstellen, so entscheidend mit dessen flüchtigsten Gedankenblitzen es erleuchten. Dies Boulevardtheater der Flers et Caillavet, der Bernstein, der Porto-Riche ist ganz einfach am eigenen Leibe von diesem Mann als Plage empfunden worden, als menschenunwürdige wie die Mücken- oder die Heuschreckenplage; sein Kampf dagegen hat die ganze Überlegenheit und Resignation, aber auch den Einschlag bewußter und weiser Komik, den ein Kampf gegen Ungeziefer besitzen kann.