I. Wer ich war und wer sie war
Solange sie hier liegt, ist noch alles gut: ich trete jeden Augenblick hinzu und sehe sie an; morgen wird man sie forttragen — wie werde ich dann allein bleiben können? Sie liegt jetzt im Gastzimmer auf dem Tisch; man hat zwei Kartentische zusammengeschoben; den Sarg wird man erst morgen bringen, einen weißen, mit weißem Gros de Naples ausgeschlagenen Sarg; eigentlich wollte ich gar nicht davon sprechen ... Ich gehe immer auf und ab und will mir über alles klar werden. Seit sechs Stunden gebe ich mir die größte Mühe, kann aber noch unmöglich meine Gedanken sammeln. Die Sache ist nämlich die, daß ich immer auf und ab gehe, immer auf und ab ... Die Sache war so ... Ich werde alles ordentlich der Reihe nach erzählen. (Ja, die Ordnung!) Meine Herren, ich bin ja gar kein Literat, Sie sehen es ja selbst. Das ist ja auch ganz gleich; ich will einfach so erzählen, wie ich es eben verstehe. Das ist ja gerade so entsetzlich, daß ich alles verstehe!
Das war, wenn Sie es durchaus wissen wollen, d. h. wenn ich von Anfang an erzählen soll, das war nämlich so: sie kam ganz einfach zu mir, um ihre Sachen zu versetzen. Mit dem Gelde wollte sie in der Zeitung annoncieren: eine Gouvernante sucht eine Stelle, ginge auch nach auswärts, wäre unter Umständen bereit, auch einfach Stunden zu geben usw., usw. So war es ganz zu Anfang, und sie war für mich nur eine von den vielen, die zu mir kamen. Später begann ich sie aber von den anderen zu unterscheiden. Sie war so schmächtig, blond, von mittlerem Wuchs, im Verkehr mit mir etwas ungelenk und verlegen (ich glaube, daß sie zu jedem Fremden so gewesen ist; ich war für sie natürlich auch ein Fremder wie jeder andere; d. h. wenn man mich als Mensch und nicht als Pfandleiher nimmt). Kaum hatte sie das Geld in der Hand, als sie mir sofort den Rücken kehrte und ging. Und machte alles schweigend. Die anderen feilschen mit mir, zanken, wollen mehr haben; sie sprach aber nie ein Wort und nahm, was ich ihr gab ... Mir scheint, ich werfe alles durcheinander ... Ja: zuerst fielen mir die Sachen auf, die sie mir brachte: silbervergoldete Ohrringe, ein kleines billiges Medaillon — lauter Gegenstände zu zwanzig Kopeken. Sie wußte auch selbst, daß ihre Sachen nicht mehr wert waren, ihrem Gesicht aber konnte ich es ablesen, daß das Zeug für sie einen viel größeren Wert hatte; das war nämlich alles, was sie noch von ihren Eltern besaß; später habe ichs erfahren. Nur einmal erlaubte ich mir, über ihre Sachen zu lächeln. D. h. ich muß Ihnen sagen, daß ich mir sonst so etwas nie erlaube: ich benehme mich der Kundschaft gegenüber immer wie ein Gentleman: wenig Worte, höflich und streng. »Ja, streng, streng, streng ...« Einmal erlaubte sie sich aber, mir die Überreste (es waren tatsächlich nur Überreste) einer alten Jacke aus Hasenfell zu bringen, und ich konnte mich nicht enthalten, eine Bemerkung fallen zu lassen, die vielleicht wie ein Scherz klang. Du lieber Himmel, wie sie da rot wurde! Sie hatte so große, blaue, verträumte Augen — wie die plötzlich aufblitzten! Sie sagte aber kein Wort, packte ihre »Überreste« ein und ging. An diesem Tage erst hatte ich auf sie mein Augenmerk gerichtet und mir so ganz gewisse Gedanken, ja ganz besondere Gedanken über sie gemacht. Ich kann mich noch auf einen anderen Eindruck besinnen; wenn Sie wollen, war es sogar der Haupteindruck, die Synthese des Ganzen: nämlich, daß sie furchtbar jung war, so jung, daß man ihr vierzehn Jahre geben konnte. In der Tat war sie damals noch nicht volle sechzehn Jahre alt, es fehlten noch drei Monate. Übrigens wollte ich gar nicht das sagen, und nicht darin lag die Synthese, von der ich eben sprach. Am nächsten Tage kam sie wieder. Sie war inzwischen, wie ich später erfuhr, mit ihrer Pelzjacke bei den anderen Pfandleihern Dobronrawow und Moser gewesen; diese nehmen aber nur Goldsachen, wollten mit ihr gar nicht reden. Ich hatte aber von ihr schon früher einmal eine Gemme (ein ganz wertloses Ding) genommen; wunderte mich später selbst darüber, daß ich es getan hatte: denn ich nehme ja sonst auch nichts als Gold- und Silbersachen an; hatte also bei ihr mit der Gemme eine Ausnahme gemacht. Das war eben der zweite Gedanke, den ich mir über sie machte, ich weiß es noch genau.
Diesmal, nachdem sie also bei Moser gewesen war, brachte sie mir eine Zigarrenspitze aus Bernstein; der Gegenstand war gar nicht so übel, hatte vielleicht einen Liebhaberwert, für mich aber war er ganz wertlos, denn ich nehme ja nur Goldsachen. Sie kam also nach der gestrigen Revolte wieder; daher empfing ich sie streng. Meine Strenge ist Trockenheit. Ich gab ihr für die Zigarrenspitze zwei Rubel, konnte mich aber nicht enthalten, ihr mit etwas gereizter Stimme zu sagen: »Ich tue es nur für Sie; Moser würde einen solchen Gegenstand gar nicht annehmen.« Die Worte »für Sie« betonte ich ganz besonders und gerade in einem gewissen Sinne. Denn ich war wütend. Als sie dieses »für Sie« hörte, wurde sie wieder rot, sagte aber kein Wort, warf mir das Geld nicht vor die Füße, sondern steckte es ein — diese Armut! Wie rot sie aber wurde! Ich sah, wie sehr ich sie verletzt hatte ... Und als sie schon fort war, fragte ich mich plötzlich: war denn dieser Triumph über sie zwei Rubel wert? Ha, ha, ha! Ich kann mich noch gut erinnern, daß ich mir diese Frage sogar zwei Mal vorlegte: »Ob es sich lohnte?« Und ich entschied sie lachend im bejahenden Sinne. Denn das Ganze erschien mir gar zu amüsant. Es war aber kein schlechtes Gefühl: ich tat es mit Absicht, ja, mit einer ganz bestimmten Absicht; ich wollte sie prüfen, denn es waren mir plötzlich gewisse Gedanken in bezug auf sie gekommen. Das war eben das dritte Mal, daß ich über sie in einem ganz bestimmten Sinne nachdachte.
... Nun, von da ab hat das Ganze begonnen. Selbstverständlich bemühte ich mich sofort, auf Umwegen alles Nähere über sie zu erfahren; wartete auch mit besonderer Ungeduld auf ihr nächstes Erscheinen. Ich hatte das bestimmte Gefühl, daß sie bald kommen würde. Als sie kam, sprach ich sie mit ausgesuchter Höflichkeit an und versuchte, sie in ein Gespräch zu ziehen. Ich habe ja eine gute Erziehung genossen, habe auch gute Manieren. Hm! Da merkte ich sofort, wir gut und sanft sie war. Die Guten und Sanften widerstreben nicht lange. Wenn sie auch nicht gleich offenherzig werden, so verstehen sie es doch nicht, einem Gespräch auszuweichen: sie sind wortkarg, antworten kurz, aber sie antworten, und je weiter, desto mehr. Man darf nur selbst dabei nicht müde werden, wenn man bei ihnen etwas erreichen will. Von ihr selbst habe ich natürlich nichts erfahren. Das von der Annonce und alles übrige erfuhr ich erst viel später. Damals verwendete sie ihre letzten Kopeken auf die Annoncen; zuerst hieß es noch ganz stolz: »Gouvernante sucht Stelle, auch nach auswärts; Angebote in geschlossenen Briefen ...« Später klang es viel bescheidener: »Nimmt jede Stelle, als Lehrerin, Gesellschaftsdame, Haushälterin, Krankenpflegerin, kann auch nähen usw.« Man kennt es ja! Selbstverständlich veränderte sich der Text ganz allmählich; und zuletzt, als sie schon verzweifelte, hieß es sogar: »Ohne Gehalt, gegen freie Station.« Nein, sie fand keine Stelle! Ich beschloß, sie zum letzten Male auf die Probe zu stellen: ich nahm plötzlich die letzte Zeitung und zeigte ihr folgende Annonce: »Junge Dame, ohne Anhang, sucht Stelle zu kleinen Kindern, am liebsten bei einem Witwer in mittleren Jahren. Kann auch in der Wirtschaft helfen.«
»Da sehen Sie's, die hat heute früh annonciert und findet bis heute abend sicher eine Stelle. So muß man eben annoncieren!« Sie wurde wieder rot, in ihren Augen blitzte es auf, sie kehrte mir den Rücken und ging. Das gefiel mir sehr. Ich war übrigens schon damals meiner Sache sicher und fürchtete nichts mehr: niemand anders würde ihr ihre Zigarrenspitzen abnehmen. Es war übrigens auch mit den Zigarrenspitzen schon zu Ende. Ich hatte mich nicht getäuscht: am dritten Tage kam sie wieder, ganz bleich und aufgeregt — ich merkte sofort, daß bei ihr zu Hause etwas vorgefallen war; es war auch in der Tat etwas vorgefallen. Ich werde gleich darauf zurückkommen, will zuerst nur noch erzählen, wie es mir damals gelang, ihr zu imponieren und in ihren Augen zu wachsen. Der Entschluß dazu war mir so ganz plötzlich gekommen. Sie brachte mir nämlich dieses Mal ein Heiligenbild — da hängt es noch ... So weit war es mit ihr gekommen ... Ach, hören Sie! Hören Sie! Jetzt fange ich erst mit der Geschichte an; was ich bisher erzählte, war nicht das Richtige. Ich will mich jetzt nämlich an jedes Detail, an jede Kleinigkeit erinnern. Ich will alle meine Gedanken auf einen Punkt konzentrieren, und kann es nicht, denn diese Einzelheiten, diese nebensächlichen Details ...
Es war ein Muttergottesbild. Die Jungfrau mit dem Kinde, ein altes Erbstück mit silbervergoldeten Beschlägen; wert ... nun, sechs Rubel war es wert. Ich sehe, sie hängt sehr an dem Bild, versetzt es als Ganzes, mit den Beschlägen. Ich sage ihr: »Lassen Sie doch lieber nur die Beschläge da, das Bild können Sie gleich wieder mitnehmen; denn ein Heiligenbild zu versetzen, ist ja immerhin, wie soll ich es nur sagen ...«
»Ist es Ihnen verboten, Heiligenbilder als Pfand zu nehmen?«
»Nein, verboten ist es nicht, ich meine nur, daß es vielleicht Ihnen selbst ...«
»Nehmen Sie also die Beschläge ab.«
»Wissen Sie was, ich werde sie doch nicht abnehmen, sondern das Bild, wie es ist, in meinen Heiligenschrein stellen«, sagte ich nach einer Pause, »zu den anderen Heiligenbildern, unter das Lämpchen (seitdem ich mein Geschäft eröffnet habe, brennt bei mir immer das Lämpchen vor dem Heiligenschrein), und nehmen Sie ganz einfach zehn Rubel.«
»Ich brauche keine zehn Rubel, geben Sie mir nur fünf. Ich werde das Bild ganz bestimmt auslösen.«
»Zehn Rubel wollen Sie also nicht? Das Bild ist so viel wert,« fügte ich hinzu, als ich merkte, daß es in ihren Augen wieder aufblitzte.
Sie erwiderte kein Wort. Ich gab ihr fünf Rubel.
»Verachten Sie niemand; ich bin ja selbst einmal in solcher Klemme gewesen, habe sogar noch Schlimmeres erlebt; und wenn Sie mich jetzt bei einem solchen Gewerbe sehen, so ist es doch, nach allem, was ich durchgemacht ...«
»Sie wollen sich an der Gesellschaft rächen? Nicht wahr?« unterbrach sie mich plötzlich mit ziemlich spöttischer Miene; ihr Spott erschien mir aber recht harmlos (d. h. unpersönlich, denn damals hatte sie noch keinen Grund, mich von den anderen zu unterscheiden; in ihrer Bemerkung lag also nichts Verletzendes).
Aha — dachte ich — so eine bist du also! Zeigst deinen Charakter, gehörst also auch zu der neuen Richtung!
»Sehen Sie,« sagte ich halb scherzend und halb geheimnisvoll, »ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.«
Sie blickte schnell mit großer Neugierde, in der etwas Kindliches lag, zu mir auf.
»Warten Sie ... Was ist das für ein Ausspruch? Woher haben Sie ihn? Er kommt mir bekannt vor ...«
»Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf; mit diesen Worten stellt sich Mephistopheles dem Faust vor. Haben Sie den Faust gelesen?«
»Ja ... ganz flüchtig ...«
»Das heißt, Sie haben ihn gar nicht gelesen. Sie sollten ihn lesen. Ich sehe jetzt auf Ihren Lippen wieder so eine spöttische Falte. Halten Sie mich, bitte, nicht für so geschmacklos, daß ich vor Ihnen, um meine Rolle als Pfandleiher zu beschönigen, etwa als Mephistopheles auftreten will. Ein Pfandleiher bleibt immer Pfandleiher. Das wissen Sie ebensogut wie ich.«
»Sie kommen mir so sonderbar vor ... Ich habe es durchaus nicht so gemeint ...«
Sie wollte wohl sagen: »Ich hätte nicht gedacht, daß ich es mit einem so gebildeten Menschen zu tun habe« — sie sagte es aber nicht; dafür wußte ich ganz bestimmt, daß sie es gedacht hatte; meine Bemerkung hatte ihr offenbar gefallen.
»Sehen Sie,« bemerkte ich, »auf jedem Gebiete kann man Gutes tun. Ich spreche natürlich nicht von mir: was mich betrifft, so tue ich überhaupt nur Böses, allein ...«
»Selbstverständlich kann man auf jedem Gebiete Gutes tun,« sagte sie und streifte mich mit einem schnellen, durchdringenden Blick. »Ja, auf jedem Gebiete«, fügte sie plötzlich hinzu.
O, wie erinnere ich mich noch an all diese Augenblicke! Ich möchte noch hinzufügen: wenn diese Jugend, diese liebe Jugend etwas Kluges und Bedeutungsvolles sagen will, so kann man schon vorher in ihren Augen, die gar zu naiv und aufrichtig sind, lesen: »Siehst du, wie klug und wohldurchdacht ich jetzt spreche!« Sie tut es nicht aus Eitelkeit, wie unsereiner; man sieht es ja, daß sie alles, was sie sagt, selbst außerordentlich schätzt, daran glaubt und annimmt, daß wir es ebenso hoch schätzen wie sie. O, diese Aufrichtigkeit! Das ist es eben, was uns gefangen nimmt. An ihr war das ganz besonders schön!
Ja, ich weiß es noch, habe nichts vergessen! Als sie gegangen war, faßte ich meinen Entschluß ganz plötzlich. Am gleichen Tage zog ich noch die letzten Erkundigungen ein und erfuhr die »nackte Wahrheit« über ihre gegenwärtigen Verhältnisse; das meiste von ihrer Vergangenheit wußte ich bereits durch Lukerja, die damals in Stellung bei ihnen war und die ich vor einigen Tagen bestochen hatte. Diese »nackte Wahrheit« war so schrecklich, daß ich gar nicht begreifen kann, wie sie noch überhaupt lachen und sich für die Worte des Mephistopheles interessieren konnte, wenn sie selbst in so schrecklichen Umständen lebte. Ja, diese Jugend! Gerade das dachte ich mir damals von ihr. Ich sagte es mir mit Freude und Stolz, denn ich sah darin auch eine seltene Großmut: »Ich stehe zwar selbst am Rande des Abgrundes, doch die großen Worte Goethes strahlen ewig ...« Die Jugend ist eben immer großmütig, selbst da, wo es wenig am Platze ist. Das heißt, ich will ja jetzt gar nicht von der Jugend sprechen. Ich meine nur sie allein. Die Hauptsache ist, daß ich sie schon damals als die Meine betrachtete und an meiner Macht über sie nicht mehr zweifelte. Wissen Sie, es ist ein ganz wunderbares, wollüstiges Gefühl, wenn man nicht mehr zweifelt! ...
Doch was erzähle ich da! Wenn ich so fortfahre, werde ich meine Gedanken nie konzentrieren können. Schneller, schneller vorwärts, das sind ja lauter Nebensächlichkeiten, o Gott!