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ZWEITER TEIL

I. Die Verfolgung

Ich schlief fest und traumlos. Auf einmal fühlte ich, daß sich eine Last von mehr als drei Zentnern auf meine Beine legte. Ich schrie auf und erwachte. Es war schon Tag; die Sonne schien hell durchs Fenster herein. Auf meinem Bett oder, richtiger gesagt, auf meinen Beinen saß Herr Bachtschejew.

Daran zu zweifeln war nicht möglich: er war es. Nachdem ich mit Mühe und Not meine Beine befreit hatte, richtete ich mich im Bett auf und sah ihn mit der stumpfen Verwunderung eines eben Aufgewachten an.

„Er sieht mich erst noch lange an!“ schrie der Dicke. „Was starren Sie mich denn so an? Stehen Sie auf, lieber Freund, stehen Sie auf! Eine halbe Stunde lang wecke ich Sie schon; machen Sie endlich die Augen auf!“

„Was ist denn passiert? Wie spät ist es denn?“

„Es ist noch ziemlich früh, mein Bester; aber unsere holde Fee hat nicht abgewartet, bis es hell wurde, sondern ist ausgerissen. Stehen Sie auf; wir wollen uns an die Verfolgung machen!“

„Was für eine holde Fee?“

„Na unsere, die im Kopf ein bißchen dämlich ist! Ausgerissen ist sie! Schon vor Tagesanbruch ist sie ausgerissen! Ich bin zu Ihnen auf einen Augenblick reingekommen, mein Lieber, bloß um Sie zu wecken, und nun quäle ich mich mit Ihnen schon zwei Stunden lang herum! Stehen Sie auf, lieber Freund; auch Ihr Onkel wartet schon auf Sie. Ein netter Festtag ist das!“ fügte er in gereiztem, schadenfrohem Ton hinzu.

„Aber von wem und wovon reden Sie denn?“ fragte ich ungeduldig; ich begann übrigens bereits etwas zu erraten. „Doch nicht von Tatjana Iwanowna?“

„Aber gewiß doch! Gerade von ihr! Ich habe es ja vorhergesagt, habe es prophezeit; aber sie wollten nicht hören! Nun hat sie ihnen eine schöne Festtagsbescherung bereitet! Sie ist mannstoll; sie hat nichts anderes als Liebe im Kopf! Pfui Deibel! Und was sagen Sie zu dem Kavalier? Zu dem Kavalier mit dem Spitzbärtchen?“

„Also ist sie wirklich mit Misintschikow davongegangen?“

„Zum Deibel noch mal! Reiben Sie sich doch den Schlaf aus den Augen, mein Lieber, und werden Sie wenigstens jetzt zum hohen Festtag nüchtern! Sie müssen sich wohl gestern beim Abendessen gehörig betrunken haben, wenn Ihnen jetzt noch so wirr im Kopf ist! Wie wird sie denn mit Misintschikow davongegangen sein! Mit Obnoskin ist sie davongegangen, nicht mit Misintschikow! Iwan Iwanowitsch Misintschikow ist ein anständiger Mensch und macht sich jetzt mit uns zur Verfolgung auf.“

„Was Sie nicht sagen!“ rief ich und machte sogar auf dem Bett einen Sprung in die Höhe; „also ist sie wirklich mit Obnoskin davongegangen?“

„Nein, Sie sind aber ein gräßlicher Mensch!“ erwiderte der Dicke und sprang auf. „Ich komme zu ihm und will ihm als einem gebildeten Menschen das ungewöhnliche Ereignis mitteilen, und da zweifelt er noch! Na, mein Verehrter, wenn Sie mit uns mitwollen, dann stehen Sie auf und fahren Sie in die Hosen; ich habe keine Lust, hier bei Ihnen meine Zunge länger zu strapazieren; ich habe so schon viel kostbare Zeit bei Ihnen verloren!“

Höchst empört verließ er das Zimmer.

Von dieser Nachricht sehr aufgeregt, sprang ich aus dem Bett, zog mich eilig an und lief zum Gutshaus, wo ich meinen Onkel zu finden hoffte. Dort schienen alle noch zu schlafen und von dem Vorgefallenen nichts zu wissen; ich stieg behutsam die Stufen zur Haupttür hinan und stieß im Flur auf Nastasja. Sie trug einen eilig übergeworfenen Morgenrock oder Schlafrock; ihr Haar war in Unordnung: offenbar war sie eben erst aus dem Bett gesprungen; sie schien im Flur auf jemand zu warten.

„Sagen Sie, ist es wahr, daß Tatjana Iwanowna mit Obnoskin weggefahren ist?“ fragte sie eilig mit stockender Stimme. Ihr Gesicht sah blaß und erschrocken aus.

„Es soll wahr sein. Ich suche meinen Onkel; wir wollen die beiden verfolgen.“

„Oh, bringen Sie Tatjana Iwanowna zurück, bringen Sie sie so schnell wie möglich zurück! Sie ist verloren, wenn Sie sie nicht zurückbringen!“ „Aber wo ist mein Onkel denn?“

„Gewiß dort bei den Pferdeställen; da wird ein Wagen angespannt. Ich wartete hier auf ihn. Hören Sie, richten Sie ihm von mir aus, daß ich unter allen Umständen noch heute wegfahren will; ich bin fest dazu entschlossen. Mein Vater wird mich mitnehmen; wenn es möglich ist, fahre ich sogleich. Jetzt ist alles aus! Alles ist verloren!“

Während sie das sagte, sah sie mich an, als ob sie selbst verloren wäre, und brach plötzlich in Tränen aus. Es schien, daß sie einen Weinkrampf bekam.

„Beruhigen Sie sich!“ bat ich sie. „All das wird sich noch zum besten wenden; Sie werden sehen ... Was ist mit Ihnen, Nastasja Jewgrafowna?

„Ich ... ich weiß nicht ... was mit mir ist“, erwiderte sie, mühsam atmend, und drückte unbewußt fest meine beiden Hände. „Sagen Sie ihm …“

In diesem Augenblick wurde hinter der rechts gelegenen Tür ein Geräusch vernehmbar.

Sie ließ meine Hände los und lief erschrocken, ohne zu Ende zu sprechen, die Treppe hinauf.

Ich fand die ganze Gesellschaft, das heißt den Onkel, Bachtschejew und Misintschikow, auf dem hinteren Hof bei den Pferdeställen. Vor Bachtschejews Kutsche waren frische Pferde gespannt worden. Alles war zur Abfahrt bereit; man wartete nur auf mich.

„Da ist er!“ rief der Onkel bei meinem Erscheinen. „Hast du die Geschichte gehört, lieber Freund?“ fügte er mit einem sonderbaren Gesichtsausdruck hinzu. Schrecken, Verwirrung und gleichzeitig ein Schimmer von Hoffnung kamen in seinen Blicken, in seiner Stimme und in seinen Bewegungen zum Ausdruck. Er war sich dessen bewußt, daß sich in seinem Schicksal eine entscheidende Wende vollzog.

Ich wurde sogleich in alle Einzelheiten eingeweiht. Herr Bachtschejew war, nachdem er eine sehr unangenehme Nacht verbracht hatte, bei Tagesanbruch von seinem Haus weggefahren, um der Frühmesse in dem Kloster beizuwohnen, das von seinem Gut ungefähr fünf Werst entfernt lag. Gerade an der Stelle, wo der Weg zum Kloster von der Chaussee abbiegt, hatte er auf einmal einen mit höchstem Tempo fahrenden Reisewagen und in demselben Tatjana Iwanowna und Obnoskin erblickt. Tatjana Iwanowna, die ganz verweint und ängstlich ausgesehen hatte, hatte aufgeschrien und die Hände nach Herrn Bachtschejew ausgestreckt, wie wenn sie ihn um Schutz bäte — so kam es wenigstens in seiner Erzählung heraus. „Aber er, der Schurke mit dem Spitzbärtchen“, fügte er hinzu, „saß halbtot vor Angst da und suchte sich zu verstecken; aber da irrst du dich, mein Lieber; dich zu verstecken, das gelingt dir nicht!“ Ohne sich lange zu besinnen, war Stepan Alexejewitsch wieder auf die Chaussee eingebogen und nach Stepantschikowo gejagt, wo er den Onkel und Misintschikow und zuletzt auch mich geweckt hatte. Es war beschlossen worden, sofort zur Verfolgung aufzubrechen.

„Dieser Obnoskin, dieser Obnoskin …“, sagte der Onkel, mich unverwandt anblickend, als ob er mir zugleich noch etwas anderes sagen wollte; „wer hätte das von ihm gedacht!“

„Von diesem gemeinen Menschen konnte man immer jede Schändlichkeit erwarten!“ rief Misintschikow in der energischsten Entrüstung und wandte sich sogleich ab, um meinen Blick zu vermeiden.

„Nun, was tun wir: wollen wir fahren, oder wollen wir hier bis zum Abend stehenbleiben und uns Märchen erzählen?“ unterbrach Herr Bachtschejew dieses Gespräch, indem er in den Wagen stieg.

„Fahren wir, fahren wir!“ fiel mein Onkel ein.

„Es wird sich alles zum besten wenden, lieber Onkel“, flüsterte ich ihm zu. „Sehen Sie, wie gut sich das jetzt alles gestaltet hat?“

„Sei still, lieber Freund, versündige dich nicht ... Ach, mein Bester, sie werden jetzt ganz einfach sie aus dem Haus jagen, zur Strafe dafür, daß ihnen ihr Plan nicht gelungen ist. Ich ahne schrecklich viel Leid!“

„Nun, wie ist's, Jegor Iljitsch? Wollt ihr miteinander flüstern, oder wollt ihr fahren?“ rief Herr Bachtschejew zum zweiten Mal. „Oder sollen wir die Pferde wieder ausspannen und einen Imbiß nehmen? Wie denkt ihr darüber: wollen wir nicht ein Schnäpschen trinken?“

Diese Worte wurden von ihm mit so grimmiger Ironie gesprochen, daß wir nicht umhin konnten, Herrn Bachtschejew sogleich den Willen zu tun. Wir stiegen alle unverzüglich in den Wagen, und die Pferde jagten los.

Eine Weile schwiegen wir alle. Der Onkel sah mich bedeutsam an, mochte aber in Gegenwart der beiden andern nicht mit mir reden. Er versank häufig in Gedanken; dann wieder war es, als ob er erwachte: er fuhr zusammen und blickte aufgeregt um sich. Misintschikow war anscheinend ruhig, rauchte eine Zigarre und machte das würdevolle Gesicht eines Menschen, der ungerechterweise gekränkt ist. Dafür ereiferte sich Bachtschejew für alle. Er brummte etwas vor sich hin, blickte alle an, errötete vor starker Empörung, schnaufte, spuckte unaufhörlich seitwärts aus und konnte gar nicht zur Ruhe kommen. „Bist du denn auch sicher, Stepan Alexejewitsch, daß sie nach Mischino gefahren sind?“ fragte mein Onkel plötzlich. „Das liegt zwanzig Werst von hier, lieber Freund“, fügte er, an mich gewandt, hinzu. „Es ist ein kleines Gut mit dreißig Seelen; kürzlich hat es ein ehemaliger Gouvernementsbeamter von den früheren Besitzern gekauft. Er ist ein Ränkeschmied, wie die Welt keinen zweiten kennt! Wenigstens sagen die Leute das von ihm; vielleicht irren sie sich auch. Stepan Alexejewitsch versichert, daß Obnoskin eben dorthin gefahren sei und daß dieser Beamte ihm hilft.“

„Ganz bestimmt!“ schrie Bachtschejew auffahrend. „Wenn ich dir doch sage: nach Mischino. Nur ist er von Mischino vielleicht schon wieder über alle Berge, dieser Obnoskin! Natürlich, wenn wir drei Stunden unnütz auf dem Hof verplaudern!“

„Regen Sie sich nicht auf“, bemerkte Misintschikow, „wir werden sie schon noch antreffen.“

„Jawohl, wir werden sie antreffen! Er wird da gewiß auf uns warten. Die Schatulle hat er in den Händen; da wird er sich schon aus dem Staub gemacht haben.“

„Beruhige dich, Stepan Alexejewitsch, beruhige dich; wir werden sie einholen“, sagte mein Onkel. „Die beiden haben noch nicht Zeit gehabt, etwas zu tun; du wirst sehen, daß es so ist.“

„Nicht Zeit gehabt, etwas zu tun!“ erwiderte Herr Bachtschejew boshaft. „Was kann die nicht schon alles angerichtet haben, trotz ihres stillen, sanften Wesens! ‚Sie ist so still und sanft‘, heißt es, ‚so still und sanft!‘“ fügte er mit hoher Stimme hinzu, wie wenn er jemanden nachäffen wollte. „‚Sie hat viel Unglück erfahren!‘ Da ist sie uns nun ausgekratzt, die Unglückliche! Nun kann man ihr vor Tau und Tag auf den Landstraßen nachjagen, daß einem die Zunge aus dem Hals hängt. Nicht einmal sein Gebet verrichten lassen sie einen an dem hohen Festtage. Pfui Deibel!“

„Aber sie ist doch schon mündig“, bemerkte ich; „sie steht nicht unter Vormundschaft. Wir können sie nicht zurückholen, wenn sie es nicht selbst will. Was können wir denn tun?“

„Selbstverständlich!“ antwortete der Onkel; „aber sie wird wollen, versichere ich dir. Das hat sie nur einfach so getan. Sowie sie uns erblickt, wird sie sogleich zurückkommen; dafür bürge ich. Wir können sie doch nicht so ihrem Schicksal als Opfer preisgeben, lieber Freund; es ist sozusagen unsere Pflicht, sie zu retten …“

„Sie steht nicht unter Vormundschaft!“ schrie Bachtschejew, der nun über mich herfiel. „Eine Verrückte ist sie, Verehrtester, geradezu eine Verrückte; daß sie nicht unter Vormundschaft steht, ist dabei ganz egal. Ich habe Ihnen gestern von ihr nichts erzählen wollen; aber neulich trat ich mal aus Versehen in ihr Zimmer und sah, wie sie da allein vor dem Spiegel stand, mit den Händen in der Seite, und eine Ecossaise tanzte! Und wie sie herausgeputzt war: wie eine Figur aus dem Modejournal, genauso! Ich spuckte aus und ging weg. Gleich damals wußte ich alles im voraus, als ob ich es schriftlich hätte!“

„Aber darf man sie denn so streng verurteilen?“ bemerkte ich etwas schüchtern. „Es ist ja bekannt, daß Tatjana Iwanowna ... nicht vollständig gesund ist ... oder, richtiger gesagt, so eine gewisse Manie hat ... Mir scheint, daß nur Obnoskin schuldig ist, nicht sie.“

„Nicht vollständig gesund! Na, mit Ihnen ist nichts anzufangen!“ erwiderte der Dicke; er war vor Ärger dunkelrot geworden. „Sie haben sich wohl vorgenommen, mich gänzlich wütend zu machen! Haben sich das wohl schon gestern vorgenommen! Eine Verrückte ist sie, mein lieber Herr, wiederhole ich Ihnen, eine total Verrückte; von ‚nicht vollständig gesund‘ kann gar nicht die Rede sein. Sie ist von klein auf liebestoll gewesen, und jetzt hat Cupido sie zum Äußersten verleitet. Aber von dem mit dem Spitzbärtchen wollen wir lieber gar nicht reden! Der wird von jetzt an gewiß in Saus und Braus leben, mit dem Geld klimpern und sich halbtot lachen.“

„Glauben Sie denn wirklich, daß er sie sofort verlassen wird?“

„Aber natürlich! Er wird doch ein solches Schätzchen nicht mit sich herumschleppen? Was soll er denn mit ihr anfangen? Er wird sie ausplündern, sie irgendwo an der Landstraße unter einem Busch sitzenlassen und sich davonmachen, und sie kann dann unter dem Busch sitzen und an den Blümchen riechen.“

„Na, du siehst das aber doch zu schwarz, Stepan; so wird es denn doch nicht werden!“ rief mein Onkel. „Warum bist du denn übrigens so ärgerlich? Ich wundere mich über dich, Stepan; was hast du denn?“

„Na, als ob ich nicht auch ein Mensch wäre! Da muß man doch wütend werden, auch als Unbeteiligter. Aber vielleicht rede ich so, weil ich sie liebe ... Ach, hol die ganze Welt der Deibel! Na, warum bin ich denn hierhergefahren? Warum bin ich denn von meinem Weg abgebogen? Was geht mich denn die ganze Geschichte an? Ja, was geht sie mich an?“

So räsonierte Herr Bachtschejew; aber ich hörte ihm nicht mehr zu und dachte an diejenige, die wir jetzt verfolgten, an Tatjana Iwanowna. Hier ist ihre kurze Biographie, wie ich sie mir später nach den zuverlässigsten Quellen zusammengestellt habe; sie dürfte zum Verständnis der Abenteuer dieses Mädchens unentbehrlich sein. Als armes Waisenkind, das in einem fremden, ungastlichen Haus aufwuchs, dann als armes junges Mädchen und zuletzt als arme alte Jungfer hatte Tatjana Iwanowna ihr ganzes armseliges Leben hindurch den bis zum Rand gefüllten Becher des Leides, der Vereinsamung, der Erniedrigung und der Vorwürfe leeren müssen und die ganze Bitterkeit fremden Brotes gründlich kennengelernt. Da sie von Natur aus einen außerordentlich vergnügten, heiteren, leichtsinnigen Charakter hatte, so konnte sie anfangs ihr trauriges Los noch einigermaßen ertragen und sogar manchmal munter und sorglos lachen; aber als sie älter wurde, forderte das Schicksal schließlich seinen Tribut. Allmählich wurde Tatjana Iwanowna gelb und mager und von einer krankhaften Reizbarkeit und Empfindlichkeit; auch ergab sie sich schrankenlosen Träumereien, die oft von reichlichen Tränenergüssen und krampfhaftem Schluchzen unterbrochen wurden. Je weniger irdische Genüsse ihr die Wirklichkeit gewährte, um so mehr ergötzte und tröstete sie sich durch ihre Einbildungen. Je sicherer und unwiederbringlicher ihre letzten wirklichen Hoffnungen dahinschwanden und ganz vergingen, um so mehr berauschte sie sich an ihren Träumereien, die sich nie verwirklichen konnten. Unerhörte Reichtümer, nie verwelkende Schönheit, elegante, reiche, vornehme Freier, lauter Fürsten und hohe Herren, die für sie ihre Herzen in jungfräulicher Reinheit bewahrt hatten und zu ihren Füßen vor grenzenloser Liebe starben, und endlich er — er, das Ideal von Schönheit, er, der alle möglichen Vorzüge in sich vereinigte und von leidenschaftlicher Liebe zu ihr erfüllt war, ein Künstler, ein Dichter, ein vornehmer Herr — alles zusammen oder abwechselnd das eine oder das andere: all das stand ihr nicht nur im Traum, sondern sogar beinahe im Wachen vor Augen. Ihr Verstand begann bereits zu leiden und vertrug diese Opiumdosen der geheimen ununterbrochenen Träumereien nicht ... Und auf einmal trieb das Schicksal in besonders folgenschwerer Weise seinen Scherz mit ihr. Auf der tiefsten Stufe der Erniedrigung, mitten in der traurigsten, herzbeklemmenden Wirklichkeit, als Gesellschafterin einer alten, zahnlosen, mürrischen Dame, die sie für alles schalt und ihr jeden Bissen Brot und jedes abgetragene Kleidungsstück vorhielt, von jedem, der dazu Lust hatte, gekränkt und von niemandem beschützt, von ihrem traurigen Leben niedergedrückt und im stillen in den Wonnen der sinnlosesten, glühendsten Phantasien schwelgend — erhielt sie auf einmal die Nachricht von dem Tod eines entfernten Verwandten, dem schon längst (sie hatte sich in ihrer Leichtfertigkeit niemals darum gekümmert) alle seine näheren Verwandten weggestorben waren, eines sonderbaren Menschen, der wie ein Einsiedler irgendwo weit weg in einem kleinen Nest ein einsames, verdrossenes stilles Leben geführt und sich mit Phrenologie und Wuchergeschäften abgegeben hatte. Und siehe da, ein gewaltiger Reichtum fiel wie durch ein Wunder plötzlich vom Himmel und bildete vor Tatjana Iwanownas Füßen einen Goldhaufen: denn es stellte sich heraus, daß sie die einzige gesetzmäßige Erbin des verstorbenen Verwandten war. Fast vierhunderttausend Silberrubel wurden ihr mit einemmal zuteil. Dieser Hohn des Schicksals gab ihr vollends den Rest. In der Tat, wie sollte ihr ohnehin schon geschwächter Verstand nicht an die Wahrheit der Phantasien glauben, wenn dieselben faktisch sich zu verwirklichen anfingen? Und so verlor die arme Person endgültig den letzten ihr verbliebenen Rest von gesundem Menschenverstand. Ganz benommen von ihrem Glück, versank sie unrettbar in ihre bezaubernde Welt unmöglicher Phantasien und verführerischer Visionen. Weg mit allen Überlegungen, mit allen Zweifeln, mit allen Schranken der Wirklichkeit, mit allen unübertretbaren, sonnenklaren Gesetzen derselben. Ein Lebensalter von fünfunddreißig Jahren und die Einbildung, blendend schön zu sein, ein traurig kalter Lebensherbst und der Wahn von unendlicher Liebeswonne: diese Dinge existierten nun in ihrem Wesen nebeneinander, sogar ohne miteinander zu kollidieren. Etwas von ihren Träumereien hatte sich schon in ihrem Leben verwirklicht; warum sollte dasselbe nicht mit allem der Fall sein? Warum sollte ‚er‘ nicht erscheinen? Tatjana Iwanowna überlegte nicht, sie glaubte. Aber während sie auf ihn, auf ihr Ideal wartete, wimmelte es jetzt auf einmal ihrer Meinung nach um sie von Bewerbern: da waren Herren mit allerlei Orden und Herren ohne solche, Zivilisten und Militärs, Linienoffiziere und Chevaliergardisten, Würdenträger und einfache Dichter, Leute, die in Paris, und solche, die nur in Moskau gewesen waren, Männer mit Vollbart und ohne Vollbart, mit Spitzbärtchen und ohne Spitzbärtchen, Spanier und Nichtspanier (aber vorzugsweise Spanier). Alle diese standen ihr Tag und Nacht vor Augen, und zwar in einer erschreckenden Anzahl, die bei ihrer Umgebung ernsthafte Befürchtungen hervorrief; es fehlte nur noch ein Schritt bis zum Irrenhaus. In glänzender Kette drängten sich jetzt all diese schönen Truggestalten liebestrunken um sie. Und das wirkliche Leben faßte sie in derselben phantastischen Weise auf: jeder, den sie ansah, war in sie verliebt; jeder Vorübergehende war ein Spanier; jeder, der starb, war unzweifelhaft aus Liebe zu ihr gestorben. Obendrein fand all dies in ihren Augen noch dadurch seine Bestätigung, daß tatsächlich Dutzende von Leuten wie Obnoskin und Misintschikow, alle mit den gleichen Absichten, sich um sie bemühten. Alle hatten auf einmal begonnen, ihr gefällig zu sein, ihr Liebenswürdigkeiten zu erweisen, ihr zu schmeicheln. Die arme Tatjana Iwanowna wollte nicht argwöhnen, daß das alles um des Geldes willen geschah. Sie war vollständig davon überzeugt, daß alle Menschen plötzlich auf jemandes Wink hin sich gebessert hatten und sämtlich heiter, liebenswürdig, freundlich und gutherzig geworden waren. ‚Er‘ war allerdings noch nicht erschienen; aber es unterlag keinem Zweifel, daß er erscheinen werde, und das derzeitige Leben war auch ohnedies so hübsch, so verführerisch, so voll von allerlei Zerstreuungen und fröhlicher Geselligkeit, daß sie gut und gern noch warten konnte. Tatjana Iwanowna naschte Konfekt, pflückte die Blumen des Vergnügens und las Romane. Die Romane entflammten ihre Phantasie noch mehr und wurden gewöhnlich schon bei der zweiten Seite hingeworfen. Sie brachte es nicht fertig, weiterzulesen, da gleich die ersten Zeilen, die unbedeutendste Anspielung auf die Liebe, manchmal schon die bloße Beschreibung einer Örtlichkeit, eines Zimmers, eines Kleidungsstücks, sie in Träumereien versinken ließen. Unaufhörlich wurden ihr neue Kostüme, Spitzen, Hüte, Häubchen, Bänder, Muster, Schnittbogen, Dessins, Konfekt, Blumen und Schoßhündchen gebracht. Drei Mädchen waren in der Mädchenstube tagaus, tagein mit Nähen beschäftigt; das Fräulein aber probierte vom Morgen bis zum Abend und sogar noch in der Nacht ihre Taillen und Falbelröcke an und drehte sich vor dem Spiegel hin und her. Sie war nach der Erbschaft sogar gewissermaßen jünger und hübscher geworden. Ich weiß bis auf den heutigen Tag nicht, auf welche Weise sie eigentlich mit dem verstorbenen General Krachotkin verwandt war. Ich bin immer davon überzeugt gewesen, daß diese Verwandtschaft lediglich eine Erfindung der Generalin war, die den Wunsch hegte, Tatjana Iwanowna in ihre Gewalt zu bekommen und dann um jeden Preis meinen Onkel mit dem Geld derselben zu verheiraten. Herr Bachtschejew hatte recht, wenn er von Cupido sprach, der sie zum Äußersten verleite; daß aber mein Onkel, sobald er von ihrer Flucht mit Obnoskin hörte, ihr nachzusetzen und sie, nötigenfalls mit Gewalt, zurückzuholen beschloß, war durchaus vernünftig. Die arme Person war nicht imstande, ohne Obhut zu leben, und würde sofort zugrunde gegangen sein, wenn sie in schlechte Hände geraten wäre.

Es war zwischen neun und zehn, als wir nach Mischino kamen. Dies war ein ärmliches kleines Dorf, das ungefähr drei Werst von der Chaussee entfernt in einer ziemlich tiefen Bodensenke lag. Sechs oder sieben verräucherte, schief gesunkene, mangelhaft mit schwarz gewordenem Stroh gedeckte Bauernhäuser schauten den Vorüberfahrenden trübselig und unfreundlich an. Kein Gärtchen, kein Strauch war im Umkreis von einer Viertelwerst zu sehen. Nur ein alter Weidenbaum stand schläfrig über einen grünen Tümpel gebeugt, welcher ‚der Teich‘ genannt wurde. Ein solcher Wohnsitz konnte wahrscheinlich auf Tatjana Iwanowna keinen erfreulichen Eindruck machen. Das herrschaftliche Gebäude war ein neues, langes, schmales Holzhaus mit sechs Fenstern nebeneinander, nachlässig mit Stroh gedeckt. Der ehemalige Beamte, der das Gut jetzt besaß, hatte eben erst angefangen, die Wirtschaft einzurichten. Selbst der Hof war noch nicht umzäunt; nur auf der einen Seite stand schon ein Stück neuer Flechtzaun, von dem die trockenen Haselblätter noch nicht abgefallen waren. Bei diesem Flechtzaun stand Obnoskins Reisewagen. Für die beiden Delinquenten kamen wir völlig überraschend. Aus einem offenen Fenster war Geschrei und Weinen zu hören.

Ein barfüßiger Junge, der uns im Flur begegnete, lief Hals über Kopf davon. Gleich im ersten Zimmer saß auf einem baumwollbezogenen langen ‚türkischen‘ Sofa ohne Lehne Tatjana Iwanowna, die ganz verweint aussah. Als sie uns erblickte, schrie sie auf und verbarg das Gesicht in den Händen. Neben ihr stand Obnoskin; er war so erschrocken und verlegen, daß er einem sogar leid tun konnte. In seiner Verwirrung eilte er auf uns zu, um uns die Hände zu drücken, als ob er über unsere Ankunft erfreut wäre. Durch die ein wenig geöffnete Tür, die ins Nachbarzimmer führte, war ein Frauenkleid sichtbar: es horchte da jemand und spähte durch einen uns nicht sichtbaren Spalt. Die Wirtsleute zeigten sich nicht: anscheinend waren sie nicht im Haus; sie hatten sich wohl irgendwo versteckt.

„Da ist sie ja, die Reisende! Nun versteckt sie sich noch hinter den Händen!“ rief Herr Bachtschejew, der sich hinter uns her ins Zimmer hereinwälzte.

„Bezähmen Sie Ihr Entzücken, Stepan Alexejewitsch! Das paßt in der Tat nicht hierher. Nur Jegor Iljitsch hat jetzt das Recht zu reden; wir andern sind hier vollständig Nebenpersonen!“ bemerkte Misintschikow in scharfem Ton.

Mein Onkel warf Herrn Bachtschejew einen strengen Blick zu, und indem er tat, als bemerkte er Obnoskin gar nicht, der auf ihn zueilte, um ihm die Hand zu drücken, trat er zu Tatjana Iwanowna, die immer noch das Gesicht mit den Händen bedeckte, und sagte zu ihr in ganz mildem Ton und mit aufrichtiger Teilnahme:

„Tatjana Iwanowna, wir alle lieben und achten Sie so sehr, daß wir selbst hergekommen sind, um Ihre Absichten kennenzulernen. Möchten Sie nicht mit uns nach Stepantschikowo zurückfahren? Ilja hat heute seinen Namenstag. Mama wartet ungeduldig auf Sie, und Alexandra und Nastasja haben sich gewiß schon den ganzen Morgen unter Tränen nach Ihnen gesehnt …“

Tatjana Iwanowna hob schüchtern den Kopf, sah durch die Finger meinen Onkel an und fiel ihm dann, plötzlich in Tränen ausbrechend, um den Hals.

„Ach, bringen Sie mich weg, bringen Sie mich recht schnell von hier weg!“ sagte sie schluchzend. „Recht schnell, so schnell wie möglich!“

„Kaum ist sie durchgegangen, hat sie es schon mit der Angst bekommen!“ flüsterte Baditschejew, indem er mir mit der Hand einen Stoß versetzte.

„Dann ist also alles erledigt“, sagte der Onkel, zu Obnoskin gewandt, den er aber kaum ansah, in trockenem Ton. „Tatjana Iwanowna, ich bitte um Ihren Arm. Wir wollen gehen!“

Hinter der Tür wurde das Rascheln eines Kleides vernehmbar; die Tür knarrte und öffnete sich etwas weiter.

„Aber wenn man die Sache von einem andern Standpunkt aus betrachtet“, bemerkte Obnoskin und sah sich dabei unruhig nach der halbgeöffneten Tür um, „so müssen Sie doch selbst sagen, Jegor Iljitsch, daß Ihr Benehmen in meinem Haus ... und dann, ich begrüßte Sie, und Sie haben meinen Gruß nicht einmal erwidern mögen, Jegor Iljitsch …“

„Ihr Benehmen in meinem Hause, mein Herr, war unehrenhaft“, antwortete der Onkel und richtete einen strengen Blick auf Obnoskin; „dieses Haus hier ist aber gar nicht das Ihrige. Sie haben es gehört: Tatjana Iwanowna will keine Minute länger hierbleiben. Was wollen Sie denn nun noch? Kein Wort weiter; hören Sie: kein Wort weiter; ich bitte Sie darum! Ich wünsche sehr, alle weiteren Auseinandersetzungen zu vermeiden, und das wird auch für Sie das Vorteilhafteste sein.“

Aber nun verlor Obnoskin den Mut dermaßen, daß er ganz überraschenden Unsinn zusammenredete.

„Verachten Sie mich nicht, Jegor Iljitsch“, begann er leise, fast flüsternd; er weinte beinahe vor Beschämung und blickte alle Augenblicke nach der Tür, wahrscheinlich aus Furcht, daß er dort gehört werde; „das ist alles nicht mein Werk, sondern Mamas Werk. Ich habe es nicht aus persönlichem Interesse getan, Jegor Iljitsch, sondern ohne mir etwas dabei zu denken; natürlich habe ich es auch in meinem Interesse getan, Jegor Iljitsch ... aber ich habe es in ehrenhafter Absicht getan, Jegor Iljitsch; ich hätte das Kapital nützlich verwendet ... ich hätte die Armen damit unterstützt. Ich wollte auch das jetzige Streben nach Bildung dadurch fördern und hatte sogar die Absicht, ein Stipendium an der Universität zu stiften ... Das ist der Gebrauch, den ich von meinem Reichtum machen wollte, Jegor Iljitsch; von anderen Absichten kann gar keine Rede sein, Jegor Iljitsch …“

Wir alle schämten uns auf einmal außerordentlich. Sogar Misintschikow errötete und wandte sich ab; der Onkel aber wurde so verlegen, daß er nicht wußte, was er darauf erwidern sollte.

„Na, lassen Sie es gut sein, lassen Sie es gut sein!“ sagte er endlich. „Beruhigen Sie sich, Pawel Semjonowitsch! Was ist da zu machen? Das kann jedem passieren ... Wenn Sie wollen, lieber Freund, so kommen Sie mit zum Mittagessen ... ich werde mich freuen, ich werde mich freuen …“

Ganz anders aber verfuhr Herr Bachtschejew.

„Ein Stipendium stiften!“ schrie er zornig. „Dazu ist der gerade der Richtige! Dem ist es ja ein Vergnügen, den ersten besten, der ihm begegnet, auszuplündern ... Hat keine ordentlichen Hosen und schwatzt von Stipendien! O Sie Lump, Sie Lump! Da haben Sie nun ein zartes Herz erobert! Aber wo ist denn sie, die Mutter? Hat sie sich etwa versteckt? Ich möchte darauf wetten, daß sie hier irgendwo hinter einem Bettschirm sitzt oder vor Angst unter das Bett gekrochen ist …“

„Stepan, Stepan! …“ rief mein Onkel.

Obnoskin wurde dunkelrot und schickte sich an, etwas zu entgegnen; aber bevor er den Mund auftun konnte, öffnete sich die Tür, und Anfissa Petrowna kam mit funkelnden Augen, höchst aufgebracht und ganz rot vor Wut, ins Zimmer hereingestürmt.

„Was soll denn das heißen?“ schrie sie. „Was geht hier vor? Sie, Jegor Iljitsch, dringen mit Ihrer Bande in ein anständiges Haus ein, versetzen Damen in Schrecken und erlauben sich hier zu kommandieren! ... Das ist ja unerhört! Ich bin, Gott sei Dank, noch nicht so alt, daß mein Verstand gelitten hätte, Jegor Iljitsch! Und du, Tölpel“, fuhr sie, auf ihren Sohn zustürzend, fort zu schreien, „du fängst hier wohl gar vor denen an zu greinen! Sie beleidigen deine Mutter in ihrem eigenen Haus, und du stehst dabei und sperrst das Maul auf! Bist du ein ordentlicher junger Mann, wenn du dich so benimmst? Ein Waschlappen bist du und kein junger Mann!“

Von der gestrigen Ziererei, von dem modischen Getue, von dem Manövrieren mit der Lorgnette — von alledem war jetzt bei Anfissa Petrowna auch nicht die Spur mehr vorhanden. Sie war eine richtige Furie, eine Furie ohne Maske.

Kaum hatte mein Onkel sie erblickt, als er schnell Tatjana Iwanowna den Arm bot und mit ihr das Zimmer verlassen wollte; aber Anfissa Petrowna versperrte ihm sogleich den Weg.

„Sie sollen so nicht fortkommen, Jegor Iljitsch!“ zeterte sie von neuem los. „Mit welchem Rechte führen Sie Tatjana Iwanowna gewaltsam weg? Es ärgert Sie, daß sie den schändlichen Netzen entgangen ist, in denen Sie zusammen mit Ihrer Mama und diesem Dummkopf, dem Foma Fomitsch, sie verstrickt hatten! Sie wollten sie aus schmählichem Eigennutz selbst heiraten. Entschuldigen Sie, hier denkt man anständiger! Da Tatjana Iwanowna sah, daß man bei Ihnen Böses gegen sie im Schilde führte und sie ins Verderben stürzen wollte, hat sie sich selbst meinem Sohn Pawel anvertraut. Sie selbst hat ihn gebeten, sie sozusagen vor Ihren Netzen zu retten; sie sah sich genötigt, Ihnen bei Nacht zu entfliehen, — so verhält sich das! Dahin haben Sie sie gebracht! Ist es nicht so, Tatjana Iwanowna? Wenn es sich aber so verhält, wie können Sie sich dann unterstehen, mit einer ganzen Rotte in ein anständiges, vornehmes Haus einzudringen und ein ehrenhaftes Mädchen trotz ihres Geschreis und ihrer Tränen mit Gewalt wegzuführen? Das dulde ich nicht! Das dulde ich nicht! Ich habe noch all meine fünf Sinne beisammen ... Tatjana Iwanowna wird hierbleiben, da sie es selbst will! Kommen Sie, Tatjana Iwanowna; wozu sollen wir noch auf diese Menschen hören: es sind Ihre Feinde, nicht Ihre Freunde! Haben Sie keine Angst; kommen Sie! Ich werde die hier sofort hinauswerfen …“

„Nein, nein!“ rief Tatjana Iwanowna erschrocken; „ich will nicht, ich will nicht! Er taugt nicht zum Ehemann! Ich will Ihren Sohn nicht heiraten! Was würde ich an ihm für einen Ehemann haben!“

„Sie wollen nicht!“ kreischte Anfissa Petrowna, vor Wut keuchend; „Sie wollen nicht? Erst sind Sie hierhergefahren, und nun wollen Sie nicht? Wenn's so ist, wie konnten Sie dann so dreist sein, uns zu betrügen? Wenn's so ist, wie konnten Sie ihm dann Ihr Versprechen geben und bei Nacht mit ihm davonlaufen und sich uns aufdrängen und uns Unannehmlichkeiten und Kosten verursachen? Mein Sohn ist vielleicht um Ihretwillen einer anständigen Partie verlustig gegangen! ... Er hat vielleicht um Ihretwillen eine Mitgift von vierzig-, fünfzigtausend Rubel verloren! ... Nein! Das werden Sie uns bezahlen, das müssen Sie uns jetzt bezahlen; wir haben Beweise: Sie sind bei Nacht mit ihm davongelaufen …“

Aber wir hörten diesen Redeschwall nicht bis zu Ende an. Wir scharten uns um meinen Onkel, rückten alle zugleich vor, gerade auf Anfissa Petrowna los, und gingen aus dem Haus hinaus. Der Wagen fuhr sogleich vor.

„Nur ehrlose Menschen handeln so, nur Schurken!“ schrie Anfissa Petrowna voller Wut von der Haustür her. „Ich werde eine Klage einreichen! Sie müssen bezahlen ... Sie gehen in ein ehrloses Haus, Tatjana Iwanowna! Sie können Jegor Iljitsch nicht heiraten; er hält sich direkt vor Ihrer Nase seine Gouvernante als Mätresse! …“

Mein Onkel fing an zu zittern, wurde blaß, biß sich auf die Lippen und half eilig Tatjana Iwanowna beim Einsteigen. Ich ging auf die andere Seite des Wagens hinüber und wartete darauf, daß die Reihe zum Einsteigen an mich käme, als plötzlich Obnoskin neben mir stand und meine Hand ergriff.

„Erlauben Sie mir wenigstens, Sie um Ihre Freundschaft zu bitten!“ sagte er und drückte mir mit dem Ausdruck der Verzweiflung die Hand.

„Was? Um meine Freundschaft?“ erwiderte ich, während ich einen Fuß auf den Wagentritt setzte.

„Jawohl! Ich habe schon gestern erkannt, daß Sie ein hochgebildeter Mensch sind. Fällen Sie kein Verdammungsurteil über mich! ... Eigentlich hat mich nur meine Mama dazu verleitet; ich war dabei nur eine Nebenperson. Ich habe mehr eine Neigung zur Literatur, versichere ich Ihnen; dies hier war ganz Mamas Werk …“

„Das glaube ich Ihnen, das glaube ich Ihnen“, antwortete ich. „Leben Sie wohl.“

Wir setzten uns, und die Pferde trabten los. Anfissa Petrownas Geschrei und Verwünschungen schallten uns noch lange nach, und aus allen Fenstern des Hauses schauten auf einmal unbekannte Gesichter heraus und blickten uns mit scheuer Neugier hinterher.

Im Wagen waren wir jetzt zu fünft; aber Misintschikow hatte sich auf den Bock gesetzt und seinen früheren Platz Herrn Bachtschejew überlassen, der also Tatjana Iwanowna direkt gegenüber saß. Tatjana Iwanowna war sehr zufrieden damit, daß wir sie zurückbrachten, weinte aber immer noch. Der Onkel tröstete sie, so gut er konnte. Er selbst war traurig und nachdenklich: offenbar klang Anfissa Petrownas wütende Äußerung über Nastasja immer noch schmerzlich in seinem Herzen nach. Übrigens wäre unsere Rückfahrt ohne alle Störung verlaufen, wenn wir nicht Herrn Bachtschejew bei uns gehabt hätten.

Sowie er Tatjana Iwanowna gegenüber Platz genommen hatte, verlor er alle Selbstbeherrschung; er war nicht imstande, ein gleichmütiges Gesicht zu machen, rutschte auf seinem Platz hin und her, wurde rot wie ein Krebs und verdrehte die Augen in schrecklicher Weise; besonders als der Onkel Tatjana Iwanowna zu trösten anfing, geriet der Dicke ganz außer sich und knurrte wie eine Bulldogge, die man neckt. Der Onkel blickte mehrmals beunruhigt zu ihm hinüber. Endlich bemerkte auch Tatjana Iwanowna den ungewöhnlichen Gemütszustand ihres Visavis und betrachtete ihn nun aufmerksam; dann sah sie uns an, lächelte, nahm auf einmal ihren Sonnenschirm und versetzte damit Herrn Bachtschejew anmutig einen leichten Schlag auf die Schulter.

„Sie verdrehter Mensch!“ sagte sie mit der bezauberndsten Koketterie und versteckte sich sogleich hinter ihrem Fächer.

Dieses Benehmen war der Tropfen, der das Gefäß zum Überlaufen brachte.

„Wa-a-as?“ brüllte der Dicke. „Was soll das heißen, Madame? Also machen Sie sich nun schon auch an mich heran!“

„Sie verdrehter Mensch, Sie verdrehter Mensch!“ sagte Tatjana Iwanowna noch einmal, lachte auf einmal los und klatschte in die Hände.

„Halt an!“ schrie Bachtschejew dem Kutscher zu; „halt an!“

Der Wagen hielt. Bachtschejew öffnete den Schlag und stieg eilig aus.

„Aber was hast du denn, Stepan Alexejewitsch? Wo willst du hin?“ rief der Onkel erstaunt.

„Nein, ich habe genug von der Geschichte!“ antwortete der Dicke, zitternd vor Empörung. „Hol die ganze Welt der Deibel! Ich bin schon zu alt, Madame, als daß mir eine mit Liebeleien kommen dürfte. Da sterbe ich schon lieber auf der Landstraße, meine Verehrteste! Leben Sie wohl, Madame, comment vous portez-vous?“

Und er ging tatsächlich zu Fuß. Der Wagen fuhr im Schritt hinter ihm her.

„Stepan Alexejewitsch!“ rief mein Onkel, der nun endlich die Geduld verlor; „mach doch keine Dummheiten; laß es gut sein; steig ein! Es wird doch Zeit, daß wir nach Hause kommen!“

„Hol euch dieser und jener!“ erwiderte Stepan Alexejewitsch, der vom Gehen schon ganz außer Atem war, weil er wegen seiner Korpulenz gar nicht mehr ans Gehen gewöhnt war.

„Fahr vollen Galopp!“ schrie Misintschikow dem Kutscher zu.

„Was machst du, was machst du, halt an!“ rief mein Onkel noch; aber der Wagen jagte bereits dahin. Misintschikow hatte sich nicht geirrt: nach wenigen Augenblicken trat die gewünschte Wirkung ein.

„Halt an! Halt an!“ erscholl hinter uns ein verzweifeltes Geschrei. „Halt an, du Schurke! Halt an, du Mörder!“

Endlich erschien der Dicke, müde, halb erstickt, mit Schweißtropfen auf der Stirn, mit aufgebundenem Halstuch und mit der Mütze in der Hand. Schweigend und mit finsterem Gesicht stieg er in den Wagen; dieses Mal trat ich ihm meinen Platz ab; so saß er wenigstens nicht Tatjana Iwanowna gegenüber, die sich nach dieser Szene vor Lachen ausschütten wollte, in die Hände klatschte und während der ganzen übrigen Fahrt Stepan Alexejewitsch nicht gleichmütig ansehen konnte. Er aber sprach seinerseits, bis wir nach Hause gekommen waren, keine Silbe und blickte hartnäckig auf das eine sich drehende Hinterrad des Wagens.

Es war schon gegen zwölf Uhr mittags, als wir wieder nach Stepantschikowo kamen. Ich ging geradewegs zu meinem Sommerhäuschen, wo unmittelbar darauf Gawrila mit dem Tee erschien. Ich wollte den Alten schnell nach allerlei fragen; aber gleich hinter ihm trat mein Onkel ein und schickte ihn sogleich fort.