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1. In der Gesindestube

Das Haus Fjodor Pawlowitsch Karamasows stand zwar nicht im Zentrum der Stadt, aber auch nicht ganz am Rande. Es war schon ziemlich baufällig, hatte jedoch ein hübsches Äußeres. Es war einstöckig mit einem Zwischengeschoß, grau angestrichen und hatte ein rotes Blechdach. Übrigens konnte es noch lange stehen; es war geräumig und behaglich. Es gab darin allerlei Rumpelkammern, allerlei Verstecke und heimliche Treppchen. Ratten hausten darin; Fjodor Pawlowitsch ärgerte sich jedoch über diese Tiere nicht besonders. ‚Es ist dann nicht so langweilig abends, wenn man allein im Hause ist‘, dachte er. Er hatte tatsächlich die Gewohnheit, die Dienerschaft für die Nacht in das Seitengebäude zu entlassen und sich selbst die ganze Nacht allein im Haus einzuschließen. Dieses Seitengebäude stand auf dem Hofe; es war geräumig und solide gebaut. Auf Fjodor Pawlowitschs Anordnung wurde dort das Essen bereitet, obgleich auch im Haus eine Küche vorhanden war. Er konnte den Küchengeruch nicht leiden, also wurden die Speisen im Sommer und im Winter über den Hof getragen. Überhaupt war das Haus für eine große Familie berechnet, und man hätte fünfmal soviel Herrschaft und Dienerschaft darin unterbringen können. Aber zur Zeit, da diese Erzählung spielt, wohnten im Haus nur Fjodor Pawlowitsch und Iwan Fjodorowitsch, und im Gesindehaus nur drei Dienstboten: der alte Grigori, die alte Marfa, seine Frau, und der Diener Smerdjakow, ein junger Mann. Es wird erforderlich sein, etwas ausführlicher von diesen Bediensteten zu sprechen. Über den alten Grigori Wassiljewitsch Kutusow haben wir bereits genug gesagt. Er war ein fester, unbeugsamer Mann, der hartnäckig und geradlinig auf sein Ziel losging, wenn nur dieses Ziel aus irgendwelchen Gründen (die oft erstaunlich unlogisch waren) als unumstößliche Wahrheit vor ihm stand. Er war durchaus ehrlich und unbestechlich. Seine Frau Marfa Ignatjewna beugte sich zwar ihr ganzes Leben lang widerspruchslos dem Willen ihres Mannes, bestürmte ihn aber gleich nach der Bauernbefreiung mit der Bitte, von Fjodor Pawlowitsch weg nach Moskau zu ziehen und dort ein kleines Geschäftchen zu eröffnen; sie hatten nämlich ein bißchen Geld. Grigori erklärte ihr gleich damals ein für allemal, sie rede Unsinn, kein Weib verstehe etwas von Ehre, es gezieme sich für sie nicht, ihren Herrn zu verlassen. Möge er sein, wie er wolle: sie hätten jetzt die Pflicht, bei ihm zu bleiben.

„Verstehst du überhaupt, was das ist: Pflicht?“ fragte er Marfa Ignatjewna.

„Was Pflicht ist, verstehe ich schon, Grigori Wassiljewitsch. Inwiefern es aber unsere Pflicht ist hierzubleiben, das verstehe ich allerdings nicht“, antwortete Marfa Ignatjewna mit fester Stimme.

„Na, dann verstehst du es eben nicht! Aber geschehen wird es so, wie ich es gesagt habe. Und künftig halte deinen Mund!“

Und es geschah auch wirklich so. Sie zogen nicht fort, und Fjodor Pawlowitsch setzte ihnen einen nicht allzu hohen Lohn aus, den er ihnen wirklich bezahlte. Außerdem wußte Grigori, daß er auf seinen Herrn einen unbestreitbaren Einfluß ausübte. Er fühlte das, und es war wirklich so. Der schlaue, eigensinnige Possenreißer Fjodor Pawlowitsch, der „in manchen Dingen des Lebens“, wie er sich selbst ausdrückte, einen sehr festen Charakter besaß, war zu seiner eigenen Verwunderung in manchen anderen „Dingen des Lebens“ recht charakterschwach. Und er selbst wußte, in welchen. Er wußte es, und er hatte Angst vor mancherlei. In gewissen Dingen des Lebens mußte man auf der Hut sein, dabei war es dann schwer, ohne einen treuen Menschen auszukommen; Grigori war aber ein sehr treuer Mensch. Es kam sogar im Verlauf von Fjodor Pawlowitschs Karriere oftmals vor, daß er nahe daran war, ganz gehörig durchgeprügelt zu werden, und immer half ihm Grigori aus der Klemme, obwohl er ihm jedesmal nachher eine Strafpredigt hielt. Die Prügel allein hätten Fjodor Pawlowitsch nicht so sehr erschreckt, doch gab es höhere und sogar sehr feine und komplizierte Fälle, in denen Fjodor Pawlowitsch selbst nicht imstande gewesen wäre, jenes außerordentliche Bedürfnis nach einem treuen, ihm nahestehenden Menschen zu erklären, das er manchmal momentan unwiderstehlich in sich verspürte. Das waren fast krankhafte Anfälle: Obwohl Fjodor Pawlowitsch ein grundliederlicher Mensch und in seiner Wollust oft grausam wie ein böses Insekt war, empfand er doch manchmal in Augenblicken der Trunkenheit plötzlich eine geistige Angst und eine moralische Erschütterung, die sozusagen physisch auf seine Seele wirkten. „Die Seele zittert mir bei diesen Anfällen ordentlich in der Kehle“, sagte er manchmal. In diesen Augenblicken also hatte er es gern, wenn neben ihm oder doch in seiner Nähe, wenn auch nicht im selben Zimmer, wenigstens im Seitengebäude, ein solcher Mensch vorhanden war, ein ihm ergebener, charakterfester Mensch, nicht so ein verkommener Mensch wie er selbst, ein Mensch, der zwar all dieses sittenlose Treiben mit ansah und alle Geheimnisse kannte, aber doch aus Ergebenheit alles geschehen ließ, sich nicht widersetzte und, was die Hauptsache war, ihm keine Vorwürfe machte und mit nichts drohte, weder in diesem noch im zukünftigen Leben, sondern im Notfall ihn auch noch beschützte — wovor? Vor etwas Unbekanntem, aber Schrecklichem und Gefährlichem. Eben darauf kam es ihm an, daß ein anderer Mensch da war, ein älterer, freundlich gesinnter Mensch, den er in einem krankhaften Augenblick rufen kann, nur um ihm ins Gesicht zu sehen und vielleicht ein paar gleichgültige Worte mit ihm zu wechseln; würde dieser dann freundlich bleiben und nicht böse werden, dann würde ihm gewissermaßen leichter ums Herz; würde er aber böse, nun, dann wäre es allerdings noch trauriger. Es kam vor, allerdings nur sehr selten, daß Fjodor Pawlowitsch sogar nachts zum Seitengebäude ging, um Grigori zu wecken: Dieser sollte auf ein Augenblickchen zu ihm kommen. Der kam dann auch, und Fjodor Pawlowitsch begann mit ihm ein Gespräch über die nichtigsten Dinge und entließ ihn bald wieder, manchmal sogar mit einem kleinen Spottwort oder einem Späßchen; er selbst aber spuckte dann aus, legte sich schlafen und schlief den Schlaf des Gerechten. Etwas Ähnliches widerfuhr ihm auch bei der Ankunft Aljoschas. Aljoscha „griff ihm ans Herz“ dadurch, daß er „da wohnte, alles mit ansah und nicht verdammte“. Ja noch mehr, er brachte etwas noch nie Dagewesenes mit sich: Er verachtete ihn, den Alten, nicht, im Gegenteil, er empfand eine stete Freundschaft und ganz natürliche Anhänglichkeit für ihn, der das so wenig verdiente. Alles das war für den alten Herumtreiber und familienlos dastehenden Menschen eine große Überraschung, etwas, was ihm, der bis dahin nur den „Schmutz“ geliebt hatte, ganz unerwartet kam. Als dann Aljoscha wegzog, gestand sich Fjodor Pawlowitsch, daß er etwas begriffen hatte, was er vorher nicht hatte begreifen wollen.

Ich habe schon zu Anfang meiner Erzählung erwähnt, daß Grigori Adelaida Iwanowna, die erste Gemahlin Fjodor Pawlowitschs und Mutter seines ersten Sohnes Dmitri Fjodorowitsch, haßte und daß er im Gegensatz dazu dessen zweite Gemahlin, die Schreikranke Sofja Iwanowna, sogar gegen seinen Herrn in Schutz nahm und überhaupt gegen jeden, der sich etwa einfallen lassen sollte, ein schlechtes oder leichtfertiges Wort über sie zu sagen. Die Teilnahme, die er für diese Unglückliche empfand, ging bei ihm in eine Art von geheiligtem Gefühl über, so daß er noch zwanzig Jahre später keine tadelnde Bemerkung über sie, aus wessen Munde auch immer, ertragen hätte; vielmehr hätte er dem Beleidiger sogleich energisch erwidert. Nach seinem Äußeren zu urteilen, war Grigori ein kalter, ernster Mensch, der nicht viel redete, sondern nur gewichtige, bedeutsame Worte von sich gab. Es war unmöglich, auf den ersten Blick herauszufinden, ob er seine nie widersprechende, gehorsame Frau liebte oder nicht. Er liebte sie tatsächlich, und sie wußte das auch. Diese Marfa Ignatjewna war durchaus keine dumme Frau, sie war vielleicht noch klüger als ihr Mann; wenigstens besaß sie in Dingen des praktischen Lebens ein richtigeres Urteil. Dennoch hatte sie sich ihm gleich von Beginn ihrer Ehe an untergeordnet, ohne zu murren und ohne zu widersprechen, und sie hatte wegen seiner geistigen Überlegenheit zweifellos eine gewisse Achtung vor ihm. Bemerkenswert ist, daß die beiden ihr ganzes Leben außerordentlich wenig miteinander sprachen, nur über die notwendigsten Dinge des täglichen Lebens. Grigori mit seinem würdevollen Wesen überdachte alle Angelegenheiten und Sorgen stets allein, so daß Marfa Ignatjewna schon längst begriffen hatte, daß er ihre Ratschläge gar nicht brauchte. Sie fühlte, ihr Mann schätzte ihr Schweigen und hielt es für ein Zeichen von Verstand. Er schlug sie nie; dergleichen war nur ein einziges Mal vorgekommen, und auch da war es nicht der Rede wert. Im ersten Jahr der Ehe Adelaida Iwanownas mit Fjodor Pawlowitsch hatten sich einmal Mädchen und Frauen des Dorfes, damals noch Leibeigene, auf dem Hof des Herrenhauses zusammengefunden, um zu singen und zu tanzen. Sie begannen das Tanzlied „Auf den Auen“, und plötzlich sprang Marfa Ignatjewna, damals noch eine junge Frau, aus der Reihe heraus vor den Chor und tanzte die „Russkaja“ auf eine besondere Art, nicht wie die Dorfweiber sie zu tanzen pflegten, sondern wie sie sie als Gutsmädchen im Haustheater der reichen Miussows getanzt hatte, wo ein aus Moskau engagierter Tanzmeister die Mitwirkenden im Tanzen unterwies. Grigori sah, wie seine Frau tanzte, und eine Stunde später, bei sich zu Hause, „belehrte“ er sie, in dem er sie ein wenig an den Haaren zog. Damit war die körperliche Bestrafung zu Ende und wiederholte sich in ihrem ganzen Leben nicht mehr; außerdem hatte Marfa Ignatjewna seither dem Tanzen abgeschworen.

Kinder hatte ihnen Gott nicht gegeben; nur ein einziges Kleines hatten sie gehabt, aber auch das war gestorben. Grigori liebte jedoch Kinder offenbar sehr; er schämte sich nicht, das zu zeigen. Als Adelaida Iwanowna weggelaufen war, nahm er den damals dreijährigen Dmitri Fjodorowitsch in seine Pflege und mühte sich fast ein Jahr lang mit ihm ab, kämmte ihn selbst und badete ihn sogar selbst im Waschtrog. Später wartete er auch Iwan Fjodorowitsch und Aljoscha, wofür er auch eine Ohrfeige bekam, aber das habe ich alles schon berichtet. Das eigene Kindchen machte ihm nur Freude, während Marfa Ignatjewna schwanger war. Doch als es geboren war, erfüllte es das Herz des Vaters mit Kummer und Schrecken. Der Grund: der Sohn war mit sechs Fingern auf die Welt gekommen. Als Grigori das sah, war er dermaßen betroffen, daß er die ganze Zeit bis zum Tag der Taufe schwieg und sogar absichtlich in den Garten ging, weil er dort leichter schweigen konnte. Es war Frühling, und er grub während der ganzen drei Tage die Beete auf dem Gemüsefeld und im Garten um. Am dritten Tag mußte der Kleine getauft werden. Grigori hatte sich inzwischen etwas ausgedacht. Als er in die Stube kam, wo sich die kirchlichen Personen und die Gäste versammelt hatten und wo schließlich auch Fjodor Pawlowitsch in seiner Eigenschaft als Pate persönlich erschien, da erklärte er plötzlich, das Kind brauche überhaupt nicht getauft zu werden. Er erklärte das nicht mit erhobener Stimme und verbreitete sich nicht weiter, er preßte mühsam jedes einzelne Wort heraus, blickte aber dabei den Geistlichen mit stumpfsinniger Miene unverwandt an.

„Warum denn?“ erkundigte sich der Geistliche mit heiterer Verwunderung.

„Weil das … ein Drache ist …“, murmelte Grigori.

„Wieso denn ein Drache? Was für ein Drache?“

Grigori schwieg eine Weile.

„Es ist eine Verwechslung der Natur vorgegangen …“, murmelte er, zwar undeutlich, aber mit sehr fester Stimme er wollte offenbar nicht näher auf die Sache eingehen.

Man lachte, und selbstverständlich wurde das arme Kindchen getauft. Grigori betete andächtig beim Taufbecken, ohne jedoch seine Meinung über den Neugeborenen zu ändern. Übrigens ließ er alles ruhig geschehen, nur sah er den kränklichen Knaben während der ganzen zwei Wochen, die er lebte, beinahe gar nicht an, wollte ihn nicht einmal bemerken und hielt sich größtenteils außerhalb des Zimmers auf. Als aber der Knabe nach zwei Wochen am Milchfieber gestorben war, legte er ihn selbst in einen kleinen Sarg und schaute ihn tief bekümmert an. Und als das kleine flache Grab zugeschüttet war, fiel er auf die Knie und verbeugte sich vor dem kleinen Hügel bis zur Erde. Seitdem sprach er viele Jahre lang nicht ein einziges Mal von seinem Kindchen, und auch Marfa Ignatjewna erwähnte es in Gegenwart ihres Mannes nie; und wenn es sich traf, daß sie mit jemand von ihrem „Kleinchen“ sprach, so nur im Flüsterton, auch wenn Grigori Wassiljewitsch nicht dabei war. Wie Marfa Ignatewna wahrnahm, begann er sich schon am Begräbnistag vorzugsweise mit „göttlichen Dingen“ zu beschäftigen; er las die Lebensbeschreibungen der Heiligen, meist schweigend und allein, wobei er jedesmal seine silberne Brille mit den großen, runden Gläsern aufsetzte. Nur selten las er laut, höchstens in den Großen Fasten. Er liebte das Buch Hiob; auch hatte er sich irgendwoher eine geschriebene Sammlung von Aussprüchen und Predigten „unseres von Gott erleuchteten Vaters Isaak Syrer“ verschafft und las darin beharrlich viele Jahre lang, obwohl er so gut wie nichts davon verstand, aber vielleicht schätzte und liebte er dieses Buch gerade deshalb um so mehr. In der allerletzten Zeit hatte er angefangen, sich mit der Sekte der Geißler bekannt zu machen, wozu sich in der Nachbarschaft Gelegenheit bot. Er war davon augenscheinlich tief erschüttert, hielt es aber doch nicht für ratsam, zu einem neuen Glauben überzugehen. Seine Beschäftigung mit „göttlichen Dingen“ verlieh seinem Gesicht natürlich den Ausdruck noch größerer Würde.

Vielleicht neigte er zum Mystizismus. Und da fielen die Geburt seines sechsfingrigen Knaben und dessen Tod ausgerechnet mit einem anderen seltsamen, unerwarteten und eigenartigen Ereignis zusammen, das in seiner Seele, wie er sich später einmal selbst ausdrückte, einen „Abdruck“ hinterließ. Gerade an dem Tag, da das sechsfingrige Würmchen begraben war, erwachte nämlich Marfa Ignatjewna mitten in der Nacht und glaubte das Weinen eines neugeborenen Kindes zu hören. Sie erschrak und weckte ihren Mann. Dieser horchte und meinte, da stöhne wohl jemand, vermutlich ein Weib. Er stand auf und zog sich an; es war eine warme Mainacht. Als er vor die Haustür trat, hörte er deutlich, daß das Stöhnen aus dem Garten kam. Aber die Tür vom Hof zum Garten wurde nachts immer verschlossen, und in den Garten anders als durch diesen Eingang zu gelangen war nicht möglich, weil den ganzen Garten ein starker, hoher Plankenzaun umgab. Grigori kehrte in das Haus zurück, zündete die Laterne an, nahm den Gartenschlüssel und ging schweigend in den Garten, ohne sich um die Angst seiner Frau zu kümmern, die immer noch glaubte, sie höre das Weinen eines Kindes und da weine bestimmt ihr Knabe und rufe nach ihr. Dort hörte er deutlich, daß das Stöhnen aus ihrem Badehäuschen kam, welches im Garten nahe bei der kleinen Pforte stand, und daß es wirklich eine Frau war, die da stöhne. Er öffnete das Badehäuschen und erblickte ein Schauspiel, das ihn erstarren ließ. Eine stadtbekannte Irrsinnige, die sich auf den Straßen herumzutreiben pflegte und Lisaweta die Stinkende genannt wurde, hatte sich Eingang in das Badehäuschen verschafft und soeben ein Kind geboren. Das Kind lag neben ihr, sie lag im Sterben. Sie redete nichts, schon deswegen nicht, weil sie überhaupt nicht reden konnte. Aber das alles bedarf einer besonderen Erläuterung.