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Fünfzehntes Kapitel

Ich traf Natascha allein. Sie ging in tiefen Gedanken, die Arme vor der Brust verschränkt, leise im Zimmer auf und ab. Der Samowar stand erloschen auf dem Tisch; er hatte schon lange auf mich gewartet. Ohne zu sprechen streckte sie mir lächelnd die Hand entgegen. Ihr Gesicht war blaß und trug einen schmerzlichen Ausdruck. In ihrem Lächeln lag etwas Leidendes, Sanftes, Geduldiges. Ihre klaren, blauen Augen schienen größer geworden zu sein, als sie vorher gewesen waren, und das Haar dichter — all dies schien so infolge ihrer Abmagerung und Krankheit.

„Ich dachte schon, du würdest nicht kommen“, sagte sie, indem sie mir die Hand gab; „ich wollte sogar schon Mawra zu dir schicken, um mich zu erkundigen; ich dachte, du wärest vielleicht wieder krank geworden.“

„Nein, das nicht; ich wurde aufgehalten; ich werde es dir gleich erzählen. Aber wie geht es dir, Natascha? Was ist vorgefallen?“

„Vorgefallen ist nichts“, antwortete sie, als ob sie sich über die Frage wundere. „Wieso?“

„Du schriebst mir … schriebst mir schon gestern, ich möchte kommen, und bestimmtest sogar die Stunde, nicht früher, nicht später; das ist doch etwas ungewöhnlich.“

„Ach ja! Ich hatte ihn gestern erwartet.“

„Nun? Ist er immer noch nicht dagewesen?“

„Nein. Ich dachte: wenn er nicht kommt, dann werde ich mich mit dir besprechen müssen“, fügte sie nach kurzem Stillschweigen hinzu.

„Hast du ihn heute abend erwartet?“

„Nein, heute habe ich ihn nicht erwartet: heute abend ist er dort.“

„Was meinst du, Natascha, wird er überhaupt nie mehr kommen?“

„Selbstverständlich wird er kommen“, antwortete sie und blickte mich mit ganz besonderem Ernste an.

Meine raschen Fragen gefielen ihr nicht. Wir verstummten und fuhren fort, im Zimmer auf und ab zu gehen.

„Ich habe schon lange auf dich gewartet, Wanja“, begann sie lächelnd von neuem; „und weißt du, was ich gemacht habe? Ich bin hier auf und ab gegangen und habe mir Verse auswendig hergesagt. Erinnerst du dich: ‚Das Glöckchen, eine Winterreise‘:1 ‚Auf dem eichnen Tische brodelt dienstbereit und blank und rein schon mein Samowar‘ … wir haben es noch zusammen gelesen:

‚Aufgehört hat nun der Schneesturm: hell ward wieder unsre Bahn,
Und aus tausend trüben Augen blickt die stille Nacht mich an — —‘

Und dann:

‚An des braven Trabers Joche hell und klar das Glöckchen klingt,
Und mir ist's, als ob dazwischen eine frohe Stimme singt:
Ach, wann kommt mein trauter Buhle, um an meiner treuen Brust
Alle Sorgen zu vergessen in der Liebe selger Lust?
Ist bei mir nicht wahres Leben? Wenn das prächtge Abendrot
Purpurn schimmernd durch der Fenster eisbedeckte Scheiben loht,
Brodelt auf dem eichnen Tische dienstbereit und blank und rein
Schon mein Samowar; der Ofen knistert, und sein Flackerschein
Spielt auf dem geblümten Vorhang vor dem weißen Bette mein.‘

Wie schön das ist! Was für Verse voll schmerzlicher Sehnsucht, Wanja, und was für ein phantasievolles Bild! Es ist gleichsam ein bloßer Kanevas, auf dem nur das Muster markiert ist; nun kann man hineinsticken, was man will! Da sind zwei Empfindungen: eine frühere und eine spätere. Dieser Samowar, dieser baumwollene Vorhang, das ist einem alles so vertraut! Das ist ganz wie in den kleinbürgerlichen Häusern in unserem Kreisstädtchen; mir ist, als ob ich das Haus mit meinen eigenen Augen sähe: es ist neu, aus Balken gebaut, noch nicht mit Brettern verschalt … Und dann das andere Bild:

Plötzlich scheint mir, daß das Glöckchen gar so matt und traurig klingt,
Und dazu dieselbe Stimme voller Wehmut also singt:
'Wo mein alter Freund wohl weilet? Ach, ich Arme! fürchten muß
Jetzt ich, daß zur Tür er eintritt, mich begrüßt mit Scherz und Kuß.
Traurig schlepp ich hin mein Leben. Drückend ist die Luft und schwer
Hier in meinem dunklen Zimmer; kalt, ach, weht's vom Fenster her.
Von des Gartens Bäumen allen blieb ein einzger Kirschbaum stehn;
Doch durch die befrornen Scheiben kann mein Aug auch ihn nicht sehn;
In des Winter scharfem Froste wird auch er wohl bald vergehn.
Welch ein Leben! Auch der Vorhang, der geblümte, bleichte aus;
Krank und unstet zieh umher ich, darf nicht heim ins Elternhaus.
Hier ist niemand, der mich liebhat, niemand selbst, der auf mich schilt;
Nur die Magd brummt, die bejahrte.'‘

Dieses ‚Krank und unstet zieh umher ich‘, wie schön ist das gesagt! ‚Niemand selbst, der auf mich schilt‘, wieviel zarte, feine Empfindung liegt in diesem Verse, wieviel Pein, die man selbst durch die Erinnerung hervorgerufen hat und mit einer Art von Genuß erleidet … O Gott, wie schön das ist! Wie lebenswahr!“

Sie verstummte, als ob sie einen beginnenden Krampf in der Kehle unterdrücken wollte.

„Wanjuschka!“ sagte sie zu mir ein Weilchen darauf und schwieg dann wieder; entweder hatte sie selbst vergessen, was sie hatte sagen wollen, oder sie hatte es nur so gedankenlos infolge einer plötzlichen Empfindung hingesagt.

Unterdessen gingen wir immer noch im Zimmer auf und ab. Vor dem Heiligenbild brannte ein Lämpchen. Natascha war in der letzten Zeit noch frömmer und gottesfürchtiger geworden; aber sie hatte es nicht gern, daß man mit ihr darüber sprach.

„Ist denn morgen ein Festtag?“ fragte ich. „Du hast ja das Lämpchen brennen.“

„Nein, ein Festtag ist nicht … Aber nimm doch Platz, Wanja; du wirst gewiß müde sein. Willst du Tee? Du hast doch wohl noch nicht getrunken?“

„Setzen wir uns, Natascha! Tee habe ich schon getrunken.“

„Von wo kommst du denn jetzt?“

„Von ihnen.“ So bezeichneten wir beide im Gespräch miteinander immer ihr Elternhaus.

„Von ihnen? Wie bist du denn hingekommen! Bist du von selbst hingegangen, oder haben sie dich rufen lassen?“

Sie überschüttete mich mit Fragen. Ihr Gesicht war von der Aufregung noch blasser geworden. Ich erzählte ihr eingehend meine Begegnung mit ihrem Vater, das Gespräch mit der Mutter, die Szene mit dem Medaillon; ich erzählte mit allen Einzelheiten und Nebenumständen. Ich pflegte ihr überhaupt nie etwas zu verheimlichen. Sie hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu und haschte mir jedes Wort von den Lippen. Tränen glänzten in ihren Augen. Die Szene mit dem Medaillon ergriff sie stark.

„Warte mal, warte mal, Wanja“, sagte sie wiederholt, indem sie meine Erzählung unterbrach; „erzähle ausführlicher, alles, alles, so ausführlich wie möglich; du erzählst nicht ausführlich genug! …“

Ich wiederholte meine Darstellung zum zweiten und zum dritten Male, wobei ich alle Augenblicke auf ihre ununterbrochenen Fragen nach Einzelheiten antworten mußte.

„Und du glaubst wirklich, daß er auf dem Weg zu mir war?“

„Ich weiß es nicht, Natascha, und kann nicht einmal eine Ansicht darüber aufstellen. Daß er sich um dich grämt und dich liebt, das ist klar; aber daß er zu dir gehen wollte, das … das …“

„Und er hat das Medaillon geküßt?“ unterbrach sie mich. „Was hat er gesagt, als er es küßte?“

„Er sprach zusammenhanglos; es waren nur einzelne Ausrufe; er nannte dich mit den zärtlichsten Namen und rief dich zurück …“

„Er rief mich zurück?“

„Ja.“

Sie weinte still vor sich hin.

„Die Armen!“ sagte sie. „Aber daß er alles weiß“, fügte sie nach einem kurzen Stillschweigen hinzu, „ist nicht verwunderlich. Er hat auch über Aljoschas Vater genaue Nachrichten.“

„Natascha“, sagte ich schüchtern, „laß uns zu ihnen gehen!“

„Wann?“ fragte sie, erbleichend und sich ein wenig von ihrem Stuhl erhebend.

Sie glaubte, ich forderte sie auf, sofort mitzukommen.

„Nein, Wanja“, fügte sie mit traurigem Lächeln hinzu, indem sie mir beide Hände auf die Schultern legte, „nein, liebster Freund; das ist deine stetige Rede; aber … sprich lieber nicht davon!“

„Also soll diese unselige Entfremdung niemals aufhören, niemals?“ rief ich traurig. „Bist du wirklich so stolz, daß du nicht den ersten Schritt tun willst? Dieser erste Schritt kommt dir zu; du mußt diejenige sein, die ihn tut. Vielleicht wartet dein Vater nur darauf, um dir zu verzeihen … Er ist der Vater; du hast ihn gekränkt! Achte seinen Stolz; das ist ein berechtigter, ein natürlicher Stolz! Du mußt es tun. Versuche es, und er wird dir bedingungslos verzeihen.“

„Bedingungslos! Das ist unmöglich; und mache mir keine Vorwürfe, Wanja; es ist vergebens. Tag und Nacht habe ich darüber nachgedacht, bis heute. Seit ich sie verlassen habe, ist vielleicht kein Tag gewesen, an dem ich nicht darüber nachgedacht hätte. Und wie oft haben wir beide darüber gesprochen! Du weißt ja selbst, daß es unmöglich ist!“

„Versuche es!“

„Nein, mein Freund, es geht nicht. Wenn ich es versuchte, so würde ich ihn nur noch mehr gegen mich aufbringen. Was unwiederbringlich ist, kann man nicht wieder zurückbringen, und weißt du, was schlechterdings unwiederbringlich ist? Die glücklichen Kinderjahre, die ich mit ihnen zusammen verlebt habe. Selbst wenn mir der Vater verziehe, würde er mich doch jetzt nicht wiedererkennen. Er hat mich geliebt, als ich noch ein Mädchen, ein großes Kind war. Er hatte seine Freude an meiner kindlichen Einfalt; er pflegte mir immer noch liebkosend über den Kopf zu streichen, gerade wie damals, als ich noch ein siebenjähriges Mädchen war und auf seinen Knien saß und ihm meine Kinderliedchen vorsang. Von meiner frühesten Kindheit an bis zum letzten Tag kam er immer an mein Bett und bekreuzte mich zur Nacht. Einen Monat vor unserm Unglück kaufte er mir ein Paar Ohrringe, ohne daß ich etwas davon wissen sollte (aber ich hatte alles erfahren), und freute sich wie ein Kind bei der Vorstellung, wie ich mich über das Geschenk freuen würde, und schalt gewaltig auf alle und ganz besonders auf mich, als er von mir selbst erfuhr, daß ich von seinem Einkauf schon längst gewußt hatte. Drei Tage vor meinem Weggehen merkte er, daß ich traurig war; sogleich wurde er selbst sehr, sehr traurig, und was meinst du wohl? um mir eine Zerstreuung zu machen, kam er auf den Einfall, mir ein Theaterbillett zu kaufen! … Wahrhaftig, er wollte mich damit kurieren! Ich wiederhole dir, er kannte und liebte das Mädchen und mochte gar nicht daran danken, daß auch ich jemals eine Frau werden würde. Das kam ihm überhaupt nicht in den Sinn. Jetzt aber würde er, wenn ich nach Hause zurückkehrte, mich gar nicht erkennen. Wenn er mir auch verziehe, wen würde er jetzt vor sich haben? Ich bin eine andere geworden; ich bin kein Kind mehr; ich habe viel erlebt. Wenn ich auch ganz nach seinem Gefallen lebe, so wird er doch nach dem vergangenen Glück seufzen und sich darüber grämen, daß ich so gar nicht mehr dieselbe sei wie in früherer Zeit, als er in mir noch das Kind liebte; und das Vergangene erscheint immer in einer Art von Verklärung! Die Erinnerung daran ist einem ein Schmerz! Oh, wie schön war die Vergangenheit, Wanja!“ rief sie; von ihrem Gefühl überwältigt, unterbrach sie sich mit diesem schmerzlichen Ausruf, der aus ihrer tiefsten Seele hervorbrach.

„Was du da sagst, Natascha“, erwiderte ich, „ist alles richtig. Gewiß, er muß dich jetzt erst wieder von neuem kennenlernen und liebgewinnen. Und die Hauptsache ist, daß er dich wieder kennenlernt. Nun, dann wird er dich auch wieder liebgewinnen. Glaubst du denn wirklich, daß er nicht imstande ist, dich wieder kennenzulernen und dich zu verstehen, er mit seinem großmütigen Herzen?“

„Ach, Wanja, sprich nicht so! Was ist denn Besonderes an mir zu verstehen? So hatte ich es nicht gemeint. Aber siehst du, da ist noch ein Punkt: auch die väterliche Liebe ist eifersüchtig. Es ist ihm kränkend, daß mein ganzes Verhältnis zu Aljoscha begonnen und sich bis zum entscheidenden Punkt entwickelt hat, ohne daß er es gewußt oder vorhergesehen hätte. Er ist sich bewußt, daß er es gar nicht geahnt hat, und schreibt die unglücklichen Folgen unserer Liebe, meine Flucht aus dem Elternhaus, meiner ‚undankbaren‘ Verschlossenheit zu. Ich bin nicht gleich anfangs zu ihm gekommen; ich habe ihm nicht gleich beim Beginn meiner Liebe jede Regung meines Herzens gebeichtet; im Gegenteil, ich habe alles in mich verschlossen und vor ihm verheimlicht, und ich versichere dich, Wanja, insgeheim ist ihm das noch schmerzlicher und kränkender als die Folgen der Liebe selbst: daß ich von ihnen weggegangen bin und mich ganz meinem Geliebten hingegeben habe. Wenn er mich auch jetzt wie ein Vater mit warmer Freundlichkeit aufnähme, der Same der Feindschaft würde doch bleiben. Am zweiten, dritten Tage würden die Empfindlichkeiten, die Mißverständnisse, die Vorwürfe beginnen. Zudem würde er mir nicht bedingungslos verzeihen. Ich würde ihm ja sagen, und zwar wahrheitsgemäß aus tiefster Seele, daß ich einsähe, wie sehr ich ihn gekränkt und wie schwer ich mich gegen ihn vergangen habe; und ich würde, so schmerzlich es mir auch wäre, wenn er nicht einsehen wollte, was mich selbst dieses ganze Glück mit Aljoscha gekostet hat und welche Leiden ich selbst erduldet habe, doch meinen Schmerz unterdrücken: aber auch dies würde ihm alles nicht genügen. Er wird von mir einen unmöglichen Lohn für seine Verzeihung fordern; er wird fordern, daß ich meine Vergangenheit verfluche und Aljoscha verfluche und meine Liebe zu ihm bereue. Er wird Unmögliches wünschen: daß die Vergangenheit zurückgerufen und das letzte Halbjahr aus unserem Leben ausgestrichen werde. Aber ich werde niemand verfluchen, und ich kann nicht bereuen … Es mußte nun einmal so kommen, und so ist es denn auch geschehen … Nein, Wanja, jetzt ist meine Rückkehr zu ihnen unmöglich; die Zeit dafür ist noch nicht gekommen.“

„Wann wird denn die Zeit dafür kommen?“

„Das weiß ich nicht … Wir müssen uns unser künftiges Glück von neuem durch Leid verdienen, es uns durch neue Qualen erkaufen. Durch Leid wird alles geläutert … Ach, Wanja, wieviel Schmerz gibt es im Leben!“

Ich schwieg und blickte sie nachdenklich an.

„Warum siehst du mich so an, Aljoscha — ich wollte sagen Wanja?“ fragte sie, indem sie sich versprach und über ihr Versehen lächelte.

„Ich beobachte dein Lächeln, Natascha. Wo hast du das hergenommen? Früher hattest du ein solches Lächeln nicht.“

„Was ist denn an meinem Lächeln Besonderes?“

„Die frühere kindliche Naivität liegt allerdings noch darin; aber wenn du lächelst, so ist es, als ob du gleichzeitig einen heftigen Schmerz im Herzen empfändest. Du bist abgemagert, Natascha, und es sieht aus, als wäre dein Haar dichter geworden … Was hast du da für ein Kleid an? Ist das noch gemacht, als du bei ihnen warst?“

„Wie lieb du mich hast, Wanja“, antwortete sie, mich freundlich anblickend. „Nun, und du? Was machst du jetzt? Wie steht es mit deiner Arbeit?“

„Es hat sich nichts geändert; ich schreibe immer noch an meinem Roman; aber es geht schwer, es will nicht recht vom Fleck. Die Inspiration versagt. Ich könnte ja nun vielleicht auch ohne solche schreiben, und es würde doch etwas Interessantes herauskommen; aber es tut mir leid, die gute Idee zu verderben. Das ist eine von meinen Lieblingsideen. Aber zum Termin muß unbedingt etwas in die Zeitschrift. Ich habe schon daran gedacht, den Roman liegenzulassen und so schnell wie möglich eine Novelle auszudenken, so etwas Leichtes, Anmutiges, ganz und gar ohne trübe Tendenz … Ganz und gar … Alle Leser sollen dabei heiter und vergnügt werden! …“

„Du armer Arbeitssklave! Und was macht Smith?“

„Smith ist ja gestorben.“

„Ist sein Geist nicht zu dir gekommen? Ich sage dir ganz im Ernst, Wanja, du bist krank, deine Nerven sind angegriffen, du hast immer solche phantastischen Vorstellungen. Als du mir erzähltest, du habest diese Wohnung gemietet, habe ich das alles an dir bemerkt. Wie ist es? Sagtest du nicht, die Wohnung sei feucht und häßlich?“

„Ja. Es ist mir heute abend noch etwas begegnet … Aber ich werde es dir ein andermal erzählen.“

Sie hörte nicht mehr, was ich sagte, und saß tief in Gedanken versunken da.

„Ich begreife nicht, wie ich damals habe von ihnen weggehen können; ich muß im Fieber gewesen sein“, sagte sie endlich und sah mich mit einem Blick an, der deutlich zeigte, daß sie keine Erwiderung erwartete.

Hätte ich in diesem Augenblick zu ihr gesprochen, so hätte sie mich gar nicht gehört.

„Wanja“, sagte sie kaum hörbar, „ich habe dich in einer wichtigen Angelegenheit hergebeten.“

„Was gibt es denn?“

„Ich trenne mich von ihm.“

„Hast du dich schon von ihm getrennt, oder willst du es erst tun?“

„Ich muß diesem Zustand ein Ende machen. Ich habe dich hergebeten, um dir alles auszusprechen, was mich jetzt bedrückt und was ich dir bisher verheimlicht habe.“

Dies war ihre gewöhnliche Einleitung, wenn sie sich anschickte, mir ihre geheimen Absichten anzuvertrauen, und fast immer ergab sich dann, daß ich all diese Geheimnisse schon längst aus ihrem eigenen Mund kannte.

„Ach, Natascha, das habe ich ja schon tausendmal von dir gehört! Gewiß, ihr könnt nicht zusammenleben; eure Verbindung ist zu seltsam; ihr habt nichts Gemeinsames. Aber … wird auch deine Kraft dazu ausreichen?“

„Früher hatte ich die Trennung nur in Aussicht genommen, Wanja; aber jetzt bin ich vollständig dazu entschlossen. Ich liebe ihn grenzenlos; aber dabei kommt es so heraus, daß ich seine schlimmste Feindin bin; ich zerstöre ihm seine Zukunft. Ich muß ihn befreien. Heiraten kann er mich nicht; er ist nicht imstande, etwas gegen den Willen seines Vaters zu tun. Ich will ihn auch nicht festhalten. Und darum freue ich mich sogar darüber, daß er sich in das Mädchen verliebt hat, das sein Vater ihm zur Frau geben möchte. Dadurch wird ihm die Trennung von mir erleichtert werden. Ich muß so handeln! Das ist meine Pflicht … Wenn ich ihn liebe, so muß ich für ihn alles zum Opfer bringen, muß ihm meine Liebe beweisen; das ist meine Pflicht! Nicht wahr?“

„Aber du wirst ihn nicht dazu überreden können.“

„Überreden werde ich ihn auch gar nicht. Ich werde mich gegen ihn ganz wie früher benehmen, selbst wenn er in diesem Augenblick hereintreten sollte. Aber ich muß ein Mittel finden, damit es ihm leicht wird, sich von mir ohne Gewissensbisse zu trennen. Das ist es, was mich quält, Wanja. Hilf mir! Kannst du mir nicht etwas raten?“

„In solchen Fällen gibt es nur ein Mittel“, erwiderte ich. „Man muß ganz aufhören, den Betreffenden zu lieben, und statt seiner einen andern lieben. Aber schwerlich wird dieses Mittel hier verfangen. Du kennst ja doch seinen Charakter. Da ist er nun fünf Tage lang nicht zu dir gekommen; aber wenn du nun annimmst, daß er sich ganz von dir abgewandt habe, dann brauchst du ihm nur zu schreiben, daß du selbst dich von ihm lossagtest, und er wird sogleich zu dir gelaufen kommen.“

„Warum kannst du ihn nicht leiden, Wanja?“

„Ich?“

„Ja, du, du! Du bist sein Feind, im geheimen und öffentlich! Du kannst von ihm nicht anders als gehässig reden. Ich habe tausendmal beobachtet, daß es dir das größte Vergnügen macht, ihn herabzusetzen und zu verleumden! Jawohl, zu verleumden; ich sage die Wahrheit!“

„Und mir hast du das schon tausendmal gesagt. Hör auf damit, Natascha; lassen wir dieses Thema!“

„Ich möchte gern in eine andere Wohnung ziehen“, begann sie nach einem kurzen Stillschweigen wieder. „Aber sei mir nicht böse, Wanja! …“

„Was hat das für Nutzen? Er wird auch in eine andere Wohnung kommen. Böse bin ich dir wirklich nicht.“

„Die Liebe ist stark; eine neue Liebe kann ihn fesseln. Wenn er auch zu mir zurückkommt, so tut er es doch vielleicht nur für einen Augenblick; was meinst du?“

„Ich weiß es nicht, Natascha; bei ihm ist alles im höchsten Grad widerspruchsvoll: er möchte jene heiraten und dabei doch dich lieben. Er wäre fähig, das alles zugleich zu tun.“

„Wenn ich bestimmt wüßte, daß er sie liebt, dann würde ich meinen Entschluß fassen … Wanja! Verbirg mir nichts! Weißt du etwas, was du mir nicht sagen willst?“

Sie sah mich mit einem ängstlichen, forschenden Blick an.

„Ich weiß nichts, liebe Freundin; ich gebe dir mein Ehrenwort, ich bin immer aufrichtig gegen dich gewesen. Übrigens noch eins: ich denke mir, vielleicht ist er in die Stieftochter der Gräfin gar nicht so stark verliebt, wie wir glauben. Es ist vielleicht nur so eine Schwärmerei …“

„Glaubst du das, Wanja? O Gott, wenn ich das bestimmt wüßte! Ach, könnte ich ihn doch in diesem Augenblick sehen, ihn nur ansehen! Ich würde ihm alles vom Gesicht ablesen! Aber er ist nicht hier! Er ist nicht hier!“

„Erwartest du ihn etwa, Natascha?“

„Nein, er ist bei ihr; ich weiß es; ich habe mich erkundigt. Und wie gern würde ich auch sie sehen! … Hör einmal, Wanja, ich rede Unsinn, aber ist es denn wirklich ganz unmöglich, daß ich sie sehe, daß ich irgendwo mit ihr zusammenkomme? Was meinst du?“

Sie wartete unruhig auf meine Antwort.

„Sehen könntest du sie schon. Aber das bloße Sehen hat doch wenig Zweck.“

„Auch wenn ich sie nur sähe, so würde mir das genügen; ich würde dann alles, was ich wissen wollte, selbst erraten. Hör einmal: ich bin ja so dumm geworden; ich gehe hier immer so auf und ab, ganz allein, ganz allein, und denke immer nach; meine Gedanken drehen sich wie im Wirbel umher; es ist ein schrecklicher Zustand! Ich habe mir gedacht, Wanja: könntest du nicht die Bekanntschaft dieser jungen Dame machen? Die Gräfin hat ja deinen Roman gelobt (das hast du mir damals selbst erzählt); du besuchst ja manchmal die Abendgesellschaften beim Fürsten R., bei dem auch sie verkehrt. Veranlasse doch, daß du ihr da vorgestellt wirst! Sonst könnte dich vielleicht auch Aljoscha mit ihr bekannt machen. Und dann könntest du mir alles von der Stieftochter erzählen.“

„Natascha, liebe Freundin, davon ein andermal! Aber ich möchte fragen: glaubst du wirklich im Ernst, daß deine Kraft dazu ausreichen wird, die Trennung zu ertragen? Sieh dich nur in diesem Augenblick an: bist du wirklich ruhig?“

„Sie … wird … ausreichen!“ antwortete sie kaum hörbar. „Für ihn tue ich alles. Mein ganzes Leben gebe ich für ihn hin. Aber weißt du, Wanja, ich kann es nicht ertragen, daß er jetzt bei ihr ist, mich vergessen hat, neben ihr sitzt und plaudert und lacht, so wie er oft hier gesessen hat, du erinnerst dich. Er blickt ihr gerade in die Augen; so blickt er einen immer an, und es kommt ihm jetzt gar nicht in den Sinn, daß ich hier bin, mit dir zusammen …“

Sie sprach nicht zu Ende und sah mich verzweiflungsvoll an.

„Aber wie hast du denn noch vorhin, erst vorhin eben sagen können, Natascha …“

„Wir wollen uns gleichzeitig, beide gleichzeitig voneinander trennen!“ unterbrach sie mich mit funkelnden Augen. „Ich selbst werde ihn dafür segnen … Aber gar zu schmerzlich ist es, Wanja, wenn er es ist, der mit dem Vergessen den Anfang macht! Ach, Wanja, was ist das für eine Qual! Ich verstehe mich selbst nicht: die Vernunft rät mir das eine, aber ich tue das andre. Was soll noch aus mir werden!“

„Hör auf, hör auf, Natascha! Beruhige dich! …“

„Heute sind es schon fünf Tage, daß ich täglich und stündlich … Selbst im Traum, immer denke ich an ihn! Weißt du, Wanja, wir wollen hingehen, begleite mich!“

„Hör auf, Natascha!“

„Nein, laß uns hingehen! Ich habe nur auf dich gewartet, Wanja! Ich habe schon drei Tage lang darüber nachgedacht. Das war auch der Grund, weshalb ich an dich geschrieben habe … Du mußt mich begleiten; du darfst mir das nicht abschlagen … Ich habe auf dich gewartet … drei Tage lang … Es ist dort heute eine Abendgesellschaft … er ist dort … laß uns hingehen!“

Sie befand sich in einer Art von Fieberzustand. Im Vorzimmer wurde Geräusch hörbar; Mawra schien mit jemandem zu streiten.

„Warte, Natascha, wer ist da?“ fragte ich. „Horch!“

Sie horchte mit einem ungläubigen Lächeln und wurde auf einmal furchtbar blaß.

„Mein Gott, wer ist da?“ sagte sie kaum hörbar.

Sie wollte mich zurückhalten; aber ich ging in das Vorzimmer hinaus zu Mawra. Richtig! Es war Aljoscha! Er fragte Mawra nach etwas, und diese wollte ihn zunächst nicht hereinlassen.

„Wo kommen Sie denn jetzt auf einmal her?“ sagte sie in befehlshaberischem Tone. „Wo haben Sie sich herumgetrieben? Na, gehen Sie nur wieder, gehen Sie! Mich werden Sie nicht bestechen! Machen Sie, daß Sie fortkommen; was können Sie denn zu Ihrer Verteidigung antworten!“

„Ich fürchte mich vor niemand! Ich gehe hinein!“ sagte Aljoscha, der indessen etwas verlegen war.

„Ach, machen Sie, daß Sie fortkommen! Sie sind ein arger Windhund!“

„Ich gehe hinein! Ah, Sie sind auch hier!“ sagte er, als er mich erblickte. „Das ist ja schön, daß Sie hier sind! Nun also, da bin ich, sehen Sie; wie soll ich denn jetzt …“

„Gehen Sie nur einfach hinein!“ antwortete ich; „wovor fürchten Sie sich?“

„Ich fürchte mich vor nichts, kann ich Ihnen versichern; denn ich habe mir, weiß Gott, nichts zuschulden kommen lassen. Sie glauben, daß es doch der Fall ist? Sie werden sehen, ich werde mich sofort rechtfertigen. Natascha, darf ich hereinkommen?“ rief er mit gemachter Keckheit, indem er vor der geschlossenen Tür stehenblieb.

Niemand antwortete.

„Was hat das zu bedeuten?“ fragte er beunruhigt.

„Nichts Besonderes, sie war soeben noch da“, antwortete ich. „Vielleicht ist etwas …“

Aljoscha öffnete behutsam die Tür und sah sich schüchtern im Zimmer um. Es war niemand da.

Auf einmal erblickte er sie in einem Winkel zwischen einem Schrank und dem Fenster. Sie stand dort, als ob sie sich versteckt hätte, in einem Mittelzustand zwischen Tod und Leben. Wenn ich daran denke, kann ich mich noch heutigentags eines Lächelns nicht erwehren.

„Natascha, was machst du da? Guten Abend, Natascha“, sagte er schüchtern, indem er sie einigermaßen erschrocken anblickte.

„Nun, was denn? Nichts! …“ antwortete sie in schrecklicher Verlegenheit, als ob sie selbst sich etwas hätte zuschulden kommen lassen. „Du … willst du Tee?“

„Natascha, höre mich …“ sagte Aljoscha, der vollkommen die Fassung verloren hatte. „Du bist vielleicht überzeugt, daß ich schuldig bin … Aber ich bin nicht schuldig; ich bin ganz und gar nicht schuldig! Siehst du, ich werde dir sogleich alles erzählen.“

„Aber wozu denn das?“ flüsterte Natascha. „Nein, nein, das ist nicht nötig … gib mir lieber die Hand, und die Sache ist erledigt … wie immer …“

Sie trat aus dem Winkel heraus; ihre Wangen begannen sich zu röten. Sie schaute zu Boden, wie wenn sie sich fürchtete, Aljoscha anzusehen.

„O mein Gott!“ rief er entzückt; „wenn ich mich schuldig fühlte, so würde ich nach diesem Verhalten von ihrer Seite ja wohl nicht wagen, sie auch nur anzublicken! Sehen Sie, sehen Sie!“ rief er, zu mir gewendet; „sie hält mich für schuldig; alles spricht gegen mich, alle Anzeichen sprechen gegen mich! Fünf Tage lang bin ich nicht gekommen! Gerüchte melden, ich sei bei der jungen Dame, mit der man mich verheiraten möchte — und was geschieht? Sie verzeiht mir ohne weiteres! Sie sagt: ‚Gib mir die Hand, und die Sache ist erledigt!‘ Natascha, meine Teure, mein Engel! Ich bin nicht schuldig; das sollst du wissen! Ich bin nicht die Spur schuldig! Im Gegenteil! Im Gegenteil!“

„Aber … aber du bist doch jetzt dort gewesen … Du warst doch jetzt eingeladen … Wie kommt es denn, daß du hier bist? Wie spät ist es?“

„Halb elf! Ich bin auch wirklich dort gewesen. Aber ich sagte, ich sei krank, und fuhr weg, und dies ist das erste, allererste Mal in diesen fünf Tagen, daß ich frei bin, daß ich imstande war, mich von ihnen loszumachen und zu dir zu kommen, Natascha. Das heißt, ich hätte auch früher kommen können; aber ich habe es absichtlich nicht getan! Und warum? Das wirst du sogleich hören, ich werde es dir auseinandersetzen; aber, weiß Gott, ich habe mich dieses Mal dir gegenüber in keiner Hinsicht schuldig gemacht, in keiner Hinsicht! In keiner Hinsicht!“

Natascha hob den Kopf in die Höhe und blickte ihn an. Aber der Blick, mit dem er den ihrigen beantwortete, strahlte so von Aufrichtigkeit, und sein Gesicht war so fröhlich, so ehrlich, so vergnügt, daß es schlechterdings unmöglich war, ihm zu mißtrauen. Ich glaubte, die beiden würden aufschreien und einander in die Arme sinken, wie das früher schon mehrmals bei ähnlichen Versöhnungen geschehen war. Aber Natascha ließ, wie überwältigt von ihrem Glück, den Kopf auf die Brust sinken und … begann auf einmal leise zu weinen. Da konnte sich Aljoscha nicht mehr beherrschen. Er warf sich ihr zu Füßen; er küßte ihre Hände, ihre Füße; er war wie von Sinnen. Ich schob ihr einen Lehnsessel hin. Sie setzte sich. Die Beine waren ihr schwach geworden.


  1. Gedicht von J. P. Polonski. (A.d.Ü.)