Epilog
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Sibirien. Am Ufer eines breiten, öden Stromes liegt eine Stadt, der Sitz höherer Verwaltungsbehörden. In der Stadt befindet sich eine Festung, in der Festung ein Gefängnis. In diesem Gefängnis sitzt schon seit neun Monaten der Sträfling zweiter Klasse Rodion Raskolnikow. Seit der Begehung des Verbrechens sind fast anderthalb Jahre vergangen.
Das Gerichtsverfahren gegen ihn hatte sich ohne besondere Schwierigkeiten abgespielt. Der Verbrecher, in seinen Angaben fest, genau und klar, hielt seine Selbstbezichtigung aufrecht, ohne die Begleitumstände zu verwirren, ohne sie zu seinem Vorteil abzuschwächen, ohne die Tatsachen zu verdrehen und ohne die geringste Einzelheit zu verschweigen. Er erzählte den ganzen Hergang beim Morde auf das allergenaueste, erklärte das Geheimnis des wunderlichen Pfandobjektes (des Holzbrettchens mit der Metallplatte), das die ermordete alte Frau bei ihrer Auffindung in den Händen hatte, erzählte eingehend, wie er der Ermordeten die Schlüssel abgenommen habe, beschrieb diese Schlüssel, beschrieb die Truhe und womit sie angefüllt gewesen sei, zählte sogar einige von den Gegenständen auf, die darin gelegen hätten, erklärte das Rätsel von Lisawetas Ermordung, erzählte, wie Koch gekommen sei und geklopft habe und nach ihm der Student, berichtete alles, was sie untereinander gesprochen hätten, wie er, der Verbrecher, dann die Treppe hinuntergelaufen sei und Nikolais und Dmitrijs Geschrei gehört habe, wie er sich in der leeren Wohnung versteckt habe und nach Hause gekommen sei, und zum Schlusse bezeichnete er auf dem Wosnessenskij-Prospekte, auf dem Hofe, am Tore, den Stein, unter dem dann wirklich die Wertsachen und der Geldbeutel gefunden wurden. Kurz, die Sache wurde vollständig klar. Die Beamten, die die Untersuchung führten, sowie die Richter wunderten sich unter anderem auch darüber sehr, daß er den Geldbeutel und die Wertsachen unter dem Steine versteckt hatte, ohne sie sich zunutze zu machen, noch mehr aber darüber, daß er für die einzelnen geraubten Gegenstände keine Erinnerung hatte, ja sich sogar in ihrer Zahl irrte. Geradezu unglaublich aber erschien seine Angabe, daß er den Beutel überhaupt nicht geöffnet habe und nicht wisse, wieviel Geld darin gewesen sei; vorgefunden wurden in dem Beutel dreihundertundsiebzehn Rubel und drei Zwanzigkopekenstücke; infolge des langen Liegens unter dem Steine hatten einige besonders hohe Banknoten, die obenauf gelegen hatten, stark gelitten. Lange mühte man sich, herauszubekommen, warum der Angeklagte eigentlich in diesem einen Punkte lüge, während er doch in allen übrigen freiwillig ein wahrheitsgetreues Geständnis abgelegt habe. Schließlich gaben einige, namentlich Psychologen, es als möglich zu, daß er tatsächlich nicht in den Beutel hineingesehen und daher auch keine Kenntnis von dem Inhalte erlangt habe, sondern ohne Kenntnis des Inhalts den Beutel ohne weiteres unter den Stein gelegt habe; sie schlossen aber daraus zugleich, das Verbrechen könne nur in einem Zustande zeitweiliger Geistesverwirrung begangen sein, unter der Einwirkung einer krankhaften Manie zu rauben und zu morden, ohne weitere Zwecke und gewinnsüchtige Absichten. Gerade damals nämlich war die neumodische Theorie von der zeitweiligen Geistesverwirrung aufgekommen, die man in unserer Zeit so oft bemüht ist, bei manchen Verbrechern in Anwendung zu bringen. Außerdem wurde ein schon von längerer Zeit her datierender hypochondrischer Zustand Raskolnikows von vielen Zeugen, nämlich von dem Arzte Sossimow, seinen früheren Kommilitonen, seiner Wirtin und ihrem Dienstmädchen, auf das bestimmteste bekundet. Alles dies diente als starke Stütze für die Schlußfolgerung, daß Raskolnikow mit einem gewöhnlichen Mörder, Räuber und Diebe nicht auf eine Stufe gestellt werden könne, sondern daß hier denn doch etwas anderes vorliege. Zum größten Verdrusse derjenigen, die diese Ansicht vertraten, machte der Verbrecher selbst so gut wie gar keinen Versuch, sich zu verteidigen; auf die ausdrückliche Frage, was ihn denn eigentlich zu dem Morde und dem Raube veranlaßt habe, antwortete er mit größter Klarheit und überraschender Offenheit, die Ursache seiner ganzen Handlungsweise sei seine üble Lage gewesen, seine völlige Armut und Hilflosigkeit und der Wunsch, sich die ersten Schritte auf seiner Laufbahn mit Hilfe von wenigstens dreitausend Rubel zu ermöglichen, die er bei der Getöteten zu finden gehofft habe. Den Entschluß zum Morde habe er infolge seines leichtsinnigen, kleinmütigen Charakters gefaßt; überdies habe er sich auch noch infolge von Entbehrungen und Mißerfolgen in gereizter Stimmung befunden. Und auf die Frage, was ihn denn zu der Selbstanzeige bewogen habe, erwiderte er offen, daß dies eine Wirkung aufrichtiger Reue gewesen sei. Das alles machte schon beinahe den Eindruck allzu großer Derbheit.
Das Urteil fiel milder aus, als nach der Schwere des verübten Verbrechens eigentlich zu erwarten gewesen war, und zwar vielleicht gerade deswegen, weil der Verbrecher nicht nur jeden Versuch, sich zu rechtfertigen, verschmäht, sondern sogar gewissermaßen ein Bestreben an den Tag gelegt hatte, sich selbst noch mehr zu belasten. All die seltsamen und eigenartigen Umstände, unter denen die Tat begangen war, wurden bei der Strafabmessung berücksichtigt. Der krankhafte Zustand und die schreckliche Armut des Verbrechers vor Begehung der Tat konnten nicht dem geringsten Zweifel unterliegen. Daß er das geraubte Gut nicht zu seinem Nutzen verwandt hatte, wurde teils als Wirkung der erwachenden Reue, teils als Folge seiner nicht normalen geistigen Verfassung bei Ausübung des Verbrechens angesehen. Die Art, wie es zu der von vornherein nicht in Aussicht genommenen Ermordung Lisawetas gekommen war, diente sogar als Beweis, um die letztere Annahme zu erhärten: ein Mensch begeht zwei Morde und denkt dabei nicht daran, daß die Tür offensteht! Ins Gewicht fiel schließlich auch noch, daß das Geständnis gerade zu einer Zeit erfolgt war, wo die Sache durch die unwahre Selbstbezichtigung eines Fanatikers der Demut (Nikolai) ein überaus verworrenes Aussehen angenommen hatte und wo außerdem gegen den wirklichen Verbrecher nicht nur keine klaren Indizien, sondern sogar fast kein Verdacht vorgelegen hatte. (Porfirij Petrowitsch hatte durchaus Wort gehalten.) Alles dies wirkte zusammen, um das Schicksal des Angeklagten milder zu gestalten.
Überdies wurden ganz unerwartet auch noch andere Umstände bekannt, die sehr zugunsten des Angeklagten sprachen. Der frühere Student Rasumichin hatte irgendwo die Nachricht aufgetrieben, für die er dann auch die Beweise beibrachte: daß der Verbrecher Raskolnikow zur Zeit seiner Zugehörigkeit zur Universität mit seinen letzten Geldmitteln einen bedürftigen, schwindsüchtigen Kommilitonen unterstützt und fast ein halbes Jahr lang allein unterhalten hatte. Nachdem dieser gestorben war, hatte er die Sorge für dessen alten, gelähmten Vater auf sich genommen (diesen hatte der Sohn fast von seinem dreizehnten Lebensjahre an durch seine eigene Arbeit vollständig erhalten), den alten Mann schließlich in einem Krankenhause untergebracht und ihn, als dann auch er gestorben war, beerdigen lassen. All diese Mitteilungen übten eine günstige Wirkung auf die Entscheidung von Raskolnikows Schicksal aus. Auch seine bisherige Wirtin, die Mutter seiner verstorbenen Braut, die verwitwete Frau Sarnizyna, bezeugte, daß, als sie noch in einem anderen Hause, bei den Fünf-Ecken, gewohnt hätten, Raskolnikow bei einer nächtlichen Feuersbrunst aus einer bereits brennenden Wohnung zwei kleine Kinder herausgeholt und dabei selbst Brandwunden davongetragen habe. Diese Angabe wurde sorgsam nachgeprüft und von vielen Zeugen durchaus glaubwürdig bestätigt. Kurz, das Resultat war, daß der Verbrecher in Anbetracht seiner Selbstanzeige und mancher mildernden Umstände nur zu acht Jahren Zwangsarbeit zweiter Klasse verurteilt wurde.
Gleich bei Beginn des Prozesses war Raskolnikows Mutter erkrankt. Dunja und Rasumichin machten es möglich, sie für die ganze Dauer der Gerichtsverhandlungen aus Petersburg fortzuschaffen. Rasumichin wählte dazu eine nicht weit von Petersburg an der Eisenbahn gelegene Stadt aus, um den Prozeß in seinem ganzen Gange regelmäßig verfolgen und gleichzeitig möglichst oft mit Dunja zusammenkommen zu können. Pulcheria Alexandrowna litt an einer eigenartigen Nervenkrankheit, verbunden mit einer wenn auch nicht totalen, so doch mindestens partiellen geistigen Störung. Als Dunja von der letzten Zusammenkunft mit ihrem Bruder zurückgekehrt war, hatte sie ihre Mutter schon ganz krank, fiebernd und phantasierend, vorgefunden. Noch an demselben Abend hatte sie sich mit Rasumichin verabredet, was sie der Mutter auf ihre Fragen nach dem Sohne antworten wollten, und hatte sogar im Verein mit ihm für die Mutter eine ganze Geschichte ausgesonnen: Raskolnikow sei nach einem fernen Orte an der Grenze Rußlands gereist, infolge eines privaten Auftrages, der ihm endlich Geld und Berühmtheit eintragen werde. Aber es war ihnen verwunderlich, daß Pulcheria Alexandrowna weder damals noch später eine Frage nach dem Ergehen ihres Sohnes stellte. Man konnte vielmehr merken, daß sie selbst eine ganze Geschichte über eine plötzliche Abreise ihres Sohnes im Kopfe hatte; sie erzählte unter Tränen, wie er zu ihr gekommen sei, um Abschied zu nehmen, machte dabei Andeutungen, daß viele sehr wichtige, geheimnisvolle Umstände nur ihr allein bekannt seien und daß Rodja viele sehr mächtige Feinde habe, vor denen er sich verbergen müsse. Was seine künftige Laufbahn anlangte, so glaubte sie, daß sie zweifellos eine glänzende sein werde, sobald gewisse hinderliche Umstände beseitigt sein würden; sie versicherte Rasumichin, ihr Sohn werde mit der Zeit sogar ein großer Staatsmann werden; das bewiesen sein Aufsatz und seine glänzende schriftstellerische Begabung. Diesen Aufsatz las sie fortwährend, mitunter sogar laut, und trennte sich selbst in der Zeit des Schlafes selten von ihm; trotzdem aber fragte sie fast nie, wo sich Rodja jetzt eigentlich befinde, obgleich Dunja und Rasumichin es augenscheinlich vermieden, mit ihr darüber zu sprechen — was schon allein ihren Argwohn hätte erregen können. Schließlich wurde ihnen dieses sonderbare Schweigen der Mutter über gewisse Punkte unheimlich. Sie beklagte sich zum Beispiel gar nicht darüber, daß keine Briefe von Rodja kamen, während sie früher, als sie noch in ihrem Städtchen wohnte, nur von der Hoffnung und der Erwartung gelebt hatte, recht bald einen Brief von ihrem geliebten Sohne zu erhalten. Dieser letztere Umstand war ganz unerklärlich und versetzte Dunja in starke Unruhe; es kam ihr der Gedanke, daß die Mutter vielleicht etwas Schreckliches über das Geschick ihres Sohnes ahne und sich fürchte zu fragen, um nicht etwas noch Schrecklicheres zu erfahren. Jedenfalls aber sah Dunja klar, daß Pulcheria Alexandrowna nicht bei gesundem Verstande war.
Ein paarmal war es vorgekommen, daß die Mutter selbst das Gespräch so leitete, daß bei Beantwortung ihrer Fragen eine Erwähnung von Rodjas jetzigem Aufenthaltsorte schwer zu umgehen war; da nun die Antworten notgedrungen unbefriedigend und verdächtig ausfielen, wurde sie plötzlich überaus traurig, düster und schweigsam und verharrte in diesem Zustande sehr lange. Dunja sah schließlich ein, daß es auf die Dauer doch zu schwer war, etwas zu erdichten und der Mutter vorzulügen, und nahm sich nun ein für allemal vor, über gewisse Punkte lieber vollständig zu schweigen; aber es wurde immer klarer und augenscheinlicher, daß die arme Mutter etwas Furchtbares ahnte. Dunja erinnerte sich unter anderem an die Mitteilung ihres Bruders, daß die Mutter die wirren Reden mitgehört habe, die sie in der Nacht vor jenem verhängnisvollen Tage, nach ihrem Zusammensein mit Swidrigailow, im Schlafe geführt hatte; ob sie vielleicht damals etwas von dem wahren Sachverhalte verstanden hatte? Häufig, und zwar manchmal nach mehreren Tagen und sogar Wochen finsteren, brütenden Schweigens und stummer Tränen, geriet die Kranke in eine Art von hysterischer Lebhaftigkeit und begann auf einmal laut und fast ohne Unterbrechung von ihrem Sohne, von ihren Hoffnungen und von der Zukunft zu sprechen … Ihre Phantasien waren mitunter recht seltsam. Die beiden jungen Leute trösteten sie und redeten ihr nach dem Munde — sie durchschaute das vielleicht selbst, daß sie ihr nur nach dem Munde reden und sie trösten wollten; aber dennoch redete und redete sie immer weiter …
Fünf Monate nach der Selbstanzeige des Verbrechers wurde das Urteil über ihn gefällt. Rasumichin besuchte ihn im Gefängnis, so oft es nur irgend möglich war. Ebenso Sonja. Endlich kam die Trennungsstunde. Dunja schwur ihrem Bruder, dies solle keine Trennung fürs Leben sein; desgleichen Rasumichin. In Rasumichins jugendlichem, feurigem Kopfe war ein Plan entstanden und zum festen Entschlusse geworden: in den nächsten drei, vier Jahren nach Möglichkeit wenigstens den Grund zu einem künftigen Vermögen zu legen, wenigstens eine gewisse Summe Geldes zusammenzusparen und dann nach Sibirien überzusiedeln, wo der Boden in jeder Beziehung reich sei, während es an Arbeitern, Menschen und Kapital mangelte; dort wollte er sich dann in derselben Stadt, wo Rodja sein würde, niederlassen, … und da sollte für alle ein neues Leben beginnen. Beim Abschied weinten alle. Raskolnikow war in den letzten Tagen sehr schwermütig gewesen, hatte sich viel nach der Mutter erkundigt und sich fortwährend um sie beunruhigt. Sein Gram und Kummer um sie war so heftig gewesen, daß Dunja sich darüber aufregte. Als er die Einzelheiten über den Krankheitszustand der Mutter erfahren hatte, war er sehr finster geworden. Sonja gegenüber war er die ganze Zeit besonders wortkarg gewesen. Sie hatte sich mit Hilfe des Geldes, das ihr Swidrigailow vor seinem Tode eingehändigt, schon längst reisefertig gemacht und war bereit, der Sträflingsabteilung zu folgen, in der auch er transportiert werden sollte. Hierüber war zwischen ihr und Raskolnikow niemals auch nur ein Wort gesprochen worden; aber beide wußten, daß es so sein werde.
Beim letzten Abschiednehmen lächelte er seltsam, als Dunja und Rasumichin sich in eifrigen Versicherungen ergingen, ein wie glückliches Leben ihnen allen bevorstände, sobald er die Zwangsarbeit hinter sich haben würde, und sagte vorher, daß die Krankheit der Mutter bald einen schlimmen Ausgang nehmen werde. Endlich brachen er und Sonja auf.
Zwei Monate darauf heirateten sich Dunja und Rasumichin. Es war eine traurige, stille Hochzeit. Unter den eingeladenen Gästen befanden sich übrigens auch Porfirij Petrowitsch und Sossimow. Während der ganzen letzten Zeit hatte Rasumichin das Aussehen eines Mannes von festem Willen und ernster Entschlossenheit gezeigt. Dunja glaubte bestimmt, daß er alle seine Pläne durchführen werde; und sie hatte auch allen Grund, das zu glauben, denn in diesem Menschen steckte ein eiserner Wille. Unter anderem hatte er wieder angefangen, Vorlesungen auf der Universität zu hören, um seine Studien zu absolvieren. Beide entwarfen fortwährend Pläne für die Zukunft; beide rechneten fest darauf, in fünf Jahren bestimmt nach Sibirien überzusiedeln. Bis dahin verließen sie sich auf Sonjas dortige Wirksamkeit.
Pulcheria Alexandrowna hatte ihrer Tochter zu der Ehe mit Rasumichin freudig ihren Segen erteilt; aber nach der Hochzeit schien sie noch trauriger und sorgenvoller zu werden. Um ihr eine frohe Stunde zu bereiten, teilte ihr Rasumichin unter anderem auch die Geschichte von dem Studenten und dessen gebrechlichem Vater mit, und auch wie Rodja, als er im vorigen Jahre zwei kleine Kinder vom Feuertode errettet habe, sich Brandwunden zugezogen habe und davon ganz krank geworden sei. Diese beiden Mitteilungen versetzten die ohnehin schon geistig gestörte Pulcheria Alexandrowna fast in einen Zustand der Verzückung. Sie redete unaufhörlich davon und knüpfte sogar auf der Straße, obwohl Dunja sie ständig begleitete, mit Begegnenden Gespräche an, um es ihnen zu erzählen. In Omnibussen, in Läden, wo sie nur einen Zuhörer fand, brachte sie das Gespräch auf ihren Sohn, auf seine Abhandlung, und wie er einen Studenten unterstützt und sich bei einer Feuersbrunst Brandwunden zugezogen habe, usw. Dunja wußte gar nicht mehr, wie sie ihre Mutter davon zurückhalten sollte. Ganz abgesehen von der Gefahr, die ein solcher krankhaft verzückter Zustand in sich barg, drohte auch insofern ein Unglück, als sich jemand von dem früheren Kriminalprozesse her an den Namen Raskolnikow erinnern und davon zu reden anfangen konnte. Pulcheria Alexandrowna hatte sogar die Adresse der Mutter der beiden aus dem Feuer geretteten Kinder in Erfahrung gebracht und wollte sie durchaus aufsuchen. Schließlich stieg ihre Unruhe bis auf den höchsten Grad. Sie fing manchmal ganz plötzlich an zu weinen, erkrankte häufig und verfiel in Fieberdelirien. Eines Morgens erklärte sie mit großer Bestimmtheit, nach ihrer Berechnung müsse nun Rodja bald zurückkommen; sie erinnere sich, wie er beim Abschiede selbst zu ihr gesagt habe, nach neun Monaten könnten sie ihn zurückerwarten. Sie begann alles in der Wohnung zurechtzumachen und sich auf seine Ankunft vorzubereiten, das für ihn bestimmte Zimmer (ihr eigenes) einzurichten, die Möbel darin zu säubern, den Fußboden zu scheuern, neue Gardinen aufzuhängen usw. Dunja ängstigte sich darüber, schwieg aber und war ihr sogar behilflich, das Zimmer für den Empfang des Bruders instand zu setzen. Nach einem unruhevollen, in beständigen phantastischen Einbildungen, in frohen Hoffnungen und in Tränen verbrachten Tage erkrankte die Mutter in der Nacht; am Morgen lag sie bereits in starkem Fieber und redete irre. Das Fieber nahm an Heftigkeit zu, und zwei Wochen darauf starb sie. Bei ihrem Irrereden waren ihr Worte entschlüpft, denen man entnehmen konnte, daß sie von dem schrecklichen Schicksale ihres Sohnes weit mehr ahnte, als man geglaubt hatte.
Raskolnikow erfuhr lange nichts vom Tode seiner Mutter, obgleich ein Briefwechsel mit Petersburg gleich vom Anfange seines Aufenthaltes in Sibirien an begonnen hatte. Dieser Briefwechsel fand durch Sonjas Vermittlung statt; sie schrieb regelmäßig jeden Monat nach Petersburg an Rasumichins Adresse und empfing pünktlich jeden Monat aus Petersburg eine Antwort. Sonjas Briefe erschienen Dunja und Rasumichin anfangs etwas trocken und unbefriedigend; aber schließlich fanden sie beide, daß dies die beste überhaupt mögliche Art zu schreiben war, da sie aus diesen Briefen als Schlußergebnis doch eine sehr vollständige und genaue Vorstellung von dem Lose des unglücklichen Bruders und Freundes gewannen. Sonjas Briefe waren mit Nachrichten über materielle Dinge der alltäglichsten Art und mit schlichten, klaren Schilderungen der Äußerlichkeiten in Raskolnikows Sträflingsleben angefüllt, enthielten dagegen weder Darlegungen ihrer eigenen Hoffnungen noch Vermutungen über die Gestaltung der Zukunft, noch Schilderungen ihrer eigenen Gefühle. Seinen Seelenzustand und überhaupt sein ganzes Innenleben darzustellen, das versuchte sie gar nicht; statt dessen standen da nur Tatsachen, das heißt seine eigenen Worte, ausführliche Mitteilungen über seinen Gesundheitszustand, welche Wünsche er dann und wann bei ihren Besuchen ausgesprochen, worum er sie gebeten, was er ihr aufgetragen hatte usw. Bei all diesen Mitteilungen ging sie auf die kleinsten Einzelheiten ein. Auf diese Weise trat schließlich das Bild des unglücklichen Sträflings dem Lesenden ganz von selbst in genauer und deutlicher Zeichnung vor Augen; Irrtümer waren unmöglich, weil alles Vorliegende aus zuverlässigen Tatsachen bestand.
Aber es war wenig Tröstliches, was Dunja und ihr Mann diesen Mitteilungen entnehmen konnten, namentlich in der ersten Zeit. Sonja berichtete stets, er sei beständig finster und schweigsam und interessiere sich kaum für die Nachrichten, die sie ihm jedesmal aus den ihr zugehenden Briefen mitteile. Manchmal frage er nach der Mutter; sie habe ihm, da sie gemerkt hätte, daß er die Wahrheit bereits ahne, schließlich deren Tod mitgeteilt; aber zu ihrem Erstaunen habe nicht einmal diese Todesnachricht auf ihn einen sonderlich starken Eindruck gemacht; wenigstens sei es ihr nach seinem äußeren Benehmen so vorgekommen. Unter anderem schrieb sie auch, obgleich er sich ganz in sich zurückziehe und sich von allen abschließe, habe er sich doch in sein neues Leben einfach und schlicht gefunden; er begreife klar seine Lage, erwarte in näherer Zukunft keine Besserung, gebe sich nicht leichtfertigen Hoffnungen hin, was doch in solcher Lage eine so häufige Erscheinung sei, und wundere sich fast über nichts inmitten der neuen ihn umgebenden Verhältnisse, obwohl sie von der früheren Form seines Daseins so stark verschieden seien. Weiter teilte Sonja mit, sein Gesundheitszustand sei befriedigend. Er gehe an seine Arbeit, ohne daß er sich ihr zu entziehen suche und ohne besonderen Eifer an den Tag zu legen. Hinsichtlich der Kost zeige er große Gleichgültigkeit; aber diese Kost sei, von Sonn- und Festtagen abgesehen, so schlecht, daß er schließlich gern von ihr, Sonja, etwas Geld angenommen habe, um sich zum täglichen Gebrauche Tee kaufen zu können. Was alles übrige anlange, so habe er sie gebeten, sich darüber nicht zu beunruhigen, und erklärt, daß alle diese Fürsorge ihn nur verstimme. Ferner berichtete Sonja, er müsse im Gefängnis mit allen zusammen wohnen; das Innere dieser Baracken habe sie nicht gesehen; aber sie müsse aus allem schließen, daß es da eng, garstig und ungesund sei; er schlafe auf einer Pritsche, über die eine Filzdecke gebreitet sei, und wolle keine andere Ausstattung seines Lagers haben. Daß er aber so elend und ärmlich lebe, das geschehe nicht nach irgendeinem vorbedachten Plane oder in bestimmter Absicht, sondern einfach aus Achtlosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber den Äußerlichkeiten seines Schicksals. Auch schrieb Sonja ganz offen, er habe, namentlich am Anfang, über ihre Besuche keine Freude bekundet, sondern sei darüber beinahe ärgerlich gewesen, habe kaum mit ihr gesprochen und sie sogar grob behandelt; aber schließlich seien ihm diese Zusammenkünfte doch zur Gewohnheit, ja fast zum Bedürfnis geworden, so daß er sich sogar nach ihr sehne, wenn sie einmal ein paar Tage krank sei und ihn nicht besuchen könne. Sie treffe sich mit ihm an Sonn- und Festtagen am Gefängnistor oder in der Wachstube, wohin man ihn ihr auf einige Minuten rufe; an Werktagen treffe sie ihn an seinen Arbeitsplätzen, wohin sie sich begebe, entweder in den Werkstätten oder in den Ziegeleien oder in den Schuppen am Ufer des Irtysch. Über sich selbst teilte Sonja mit, daß es ihr gelungen sei, in der Stadt einige Bekanntschaften zu machen und Leute zu finden, die sich ihrer freundlich annähmen. Sie erwerbe sich ihren Unterhalt durch Schneidern, und da es in der Stadt fast gar keine gute Schneiderin gebe, so sei sie in vielen Häusern geradezu unentbehrlich geworden. Unerwähnt ließ sie jedoch, daß infolge ihrer Bemühungen auch Raskolnikow sich einer wohlwollenden Beachtung seitens der Gefängnisbehörde zu erfreuen hatte, daß ihm leichtere Arbeit zugewiesen wurde usw. Zuletzt aber sandte sie die Nachricht (Dunja hatte schon vorher aus Sonjas letzten Briefen eine besondere Unruhe und Aufregung herausgespürt), er halte sich von allem Verkehr fern; die anderen Sträflinge könnten ihn nicht leiden; er schweige ganze Tage lang und bekomme eine ganz blasse Gesichtsfarbe. Plötzlich, in ihrem letzten Briefe, schrieb Sonja, daß er sehr ernst erkrankt sei und im Gefangenensaale des Krankenhauses liege.