Anhang B.
Der psycho-physische Parallelismus
Wir kehren nach dieser Abschweifung zur Auffassung der Aphasie zurück und erinnern uns, daß auf dem Boden Meynertscher Lehren die Annahme erwachsen ist, der Sprachapparat bestünde aus distinkten Rindenzentren, in deren Zellen die Wortvorstellungen enthalten sind, welche Zentren durch funktionsfreies Rindengebiet getrennt und durch weiße Fasern (Assoziationsbündel) verknüpft werden. Man kann nun zunächst in Frage ziehen, ob eine Annahme dieser Art, welche Vorstellungen in Zellen bannt, überhaupt korrekt und zulässig ist. Ich glaube: nicht.
Gegenüber der Neigung früherer medizinischer Epochen, ganze Seelenvermögen, wie sie der Sprachgebrauch der Psychologie abgrenzt, an bestimmte Bezirke des Gehirns zu lokalisieren, mußte es als großer Fortschritt erscheinen, wenn Wernicke erklärte, daß man nur die einfachsten psychischen Elemente, die einzelnen Sinnesvorstellungen lokalisieren dürfe, und zwar an die zentrale Endigung des peripherischen Nerven, der den Eindruck empfangen hat. Im Grunde aber begeht man nicht denselben prinzipiellen Fehler, ob man nun einen komplizierten Begriff, eine ganze Seelentätigkeit oder ob man ein psychisches Element zu lokalisieren versucht? Ist es gerechtfertigt, eine Nervenfaser, die über die ganze Strecke ihres Verlaufes bloß ein physiologisches Gebilde und physiologischen Modifikationen unterworfen war, mit ihrem Ende ins Psychische einzutauchen und dieses Ende mit einer Vorstellung oder einem Erinnerungsbild auszustatten? Wenn der „Wille“, die „Intelligenz“ u. dgl. als psychologische Kunstworte erkannt sind, denen in der physiologischen Welt sehr komplizierte Verhältnisse entsprechen, weiß man von der „einfachen Sinnesvorstellung“ denn mit größerer Bestimmtheit, daß sie etwas anderes als ein solches Kunstwort ist?
Die Kette der physiologischen Vorgänge im Nervensystem steht ja wahrscheinlich nicht im Verhältnis der Kausalität zu den psychischen Vorgängen. Die physiologischen Vorgänge hören nicht auf, sobald die psychischen begonnen haben, vielmehr geht die physiologische Kette weiter, nur daß jedem Glied derselben (oder einzelnen Gliedern) von einem gewissen Moment an ein psychisches Phänomen entspricht. Das Psychische ist somit ein Parallelvorgang des Physiologischen („a dependent concomitant“).
Ich weiß wohl, daß ich den Männern, deren Ansichten ich hier bestreite, nicht zumuten kann, sie hätten diesen Sprung und Wechsel der wissenschaftlichen Betrachtungsweise ohne Erwägung vollzogen. Sie meinen offenbar nichts anderes, als daß die — der Physiologie angehörige — Modifikation der Nervenfaser bei der Sinneserregung eine andere Modifikation in der zentralen Nervenzelle erzeugt, welche nun das physiologische Korrelat der „Vorstellung“ wird. Da sie von der Vorstellung weit mehr zu sagen wissen als von den physiologisch noch gar nicht charakterisierten, unbekannten Modifikationen, bedienen sie sich des elliptischen Ausdruckes: in der Nervenzelle sei eine Vorstellung lokalisiert. Allein diese Vertretung führt auch sofort zu einer Verwechselung der beiden Dinge, die miteinander keine Ähnlichkeit zu haben brauchen. In der Psychologie ist die einfache Vorstellung für uns etwas Elementares, das wir von seinen Verbindungen mit anderen Vorstellungen scharf unterscheiden können. Wir kommen so zur Annahme, daß auch deren physiologisches Korrelat, die Modifikation, die von der erregten, im Zentrum endigenden Nervenfaser ausgeht, etwas Einfaches ist, was sich an einen Punkt lokalisieren läßt. Eine solche Übertragung ist natürlich vollkommen unberechtigt; die Eigenschaften dieser Modifikation müssen für sich und unabhängig von ihrem psychologischen Gegenstück bestimmt werden.1
Was ist nun das physiologische Korrelat der einfachen oder der für sie wiederkehrenden Vorstellung? Offenbar nichts Ruhendes, sondern etwas von der Natur eines Vorganges. Dieser Vorgang verträgt die Lokalisation, er geht von einer besonderen Stelle der Hirnrinde aus und verbreitet sich von ihr über die ganze Hirnrinde oder längs besonderer Wege. Ist dieser Vorgang abgelaufen, so hinterläßt er in der von ihm affizierten Hirnrinde eine Modifikation, die Möglichkeit der Erinnerung. Es ist durchaus zweifelhaft, ob dieser Modifikation gleichfalls etwas Psychisches entspricht; unser Bewußtsein weist nichts dergleichen auf, was den Namen „latentes Erinnerungsbild“ von der psychischen Seite rechtfertigen würde. Sooft aber derselbe Zustand der Rinde wieder angeregt wird, entsteht das Psychische als Erinnerungsbild von neuem...
- Hughlings Jackson hat aufs schärfste vor einer solchen Verwechselung des Physischen mit dem Psychischen beim Sprachvorgang gewarnt: „In all our studies of diseases of the nervous System we must be on our guard against the fallacy, that what are physical states in lower centres fine away into psychical states in higher centres; that forexample, vihrations of sensory nerves become sensations, or that somehow or another an idea produces a movement.“ (1878, 306.)↩