C. Das Triebleben und die Ableitung von Zwang und Zweifel
Wenn wir zur Kenntnis der psychischen Kräfte gelangen wollen, deren Gegenspiel diese Neurose aufgebaut hat, so müssen wir auf das zurückgreifen, was wir bei unserem Patienten über die Anlässe seiner Erkrankung im reifen Alter und in der Kindheit erfahren haben. Er erkrankte in den zwanziger Jahren, als er vor die Versuchung gestellt wurde, ein anderes Mädchen als die von ihm längst Geliebte zu heiraten, und entzog sich der Entscheidung dieses Konfliktes durch Aufschub aller für deren Vorbereitung erforderlichen Tätigkeiten, wozu ihm die Neurose die Mittel lieferte. Das Schwanken zwischen der Geliebten und der anderen läßt sich auf den Konflikt zwischen dem Einfluß des Vaters und der Liebe zur Dame reduzieren, also auf eine Konfliktwahl zwischen Vater und Sexualobjekt, wie sie den Erinnerungen und Zwangseinfällen zufolge schon in früher Kindheit bestanden hatte. Überdies ist durch sein ganzes Leben unverkennbar, daß in bezug auf seine Geliebte wie auf seinen Vater ein Widerstreit zwischen Liebe und Haß bei ihm bestand. Rachephantasien und Zwangserscheinungen wie der Verstehzwang oder die Hantierung mit dem Steine auf der Landstraße bezeugen diesen Zwiespalt in ihm, der bis zu einem gewissen Grade normal verständlich war, denn die Geliebte hatte ihm durch eine erste Abweisung und durch spätere Kühle Grund zu feindseligen Gefühlen gegeben. Aber die gleiche Zwiespältigkeit der Gefühle beherrschte, wie wir durch die Übersetzung seiner Zwangsgedanken erfahren haben, sein Verhältnis zum Vater, und auch der Vater mußte ihm in Kinderzeiten Grund zur Feindseligkeit gegeben haben, wie wir fast mit Sicherheit feststellen konnten. Sein aus Zärtlichkeit und Feindseligkeit zusammengesetztes Verhältnis zur Geliebten fiel zum großen Teile in seine bewußte Wahrnehmung. Er täuschte sich höchstens über das Maß und über den Ausdruck des negativen Gefühls, hingegen war die einst intensiv bewußt gewesene Feindseligkeit gegen den Vater ihm längst entrückt und konnte nur gegen seinen heftigen Widerstand ins Bewußtsein zurückgebracht werden. In der Verdrängung des infantilen Hasses gegen den Vater erblicken wir jenen Vorgang, welcher alles weitere Geschehen in den Rahmen der Neurose zwang.
Die einzeln bei unserem Patienten aufgezählten Gefühlskonflikte sind nicht unabhängig voneinander, sondern paarig miteinander verlötet. Der Haß gegen die Geliebte mußte sich zur Anhänglichkeit an den Vater summieren und umgekehrt. Aber die zwei Konfliktströmungen, die nach dieser Vereinfachung erübrigen, der Gegensatz zwischen dem Vater und der Geliebten und der Widerspruch von Liebe und Haß in jedem einzelnen Verhältnisse, haben inhaltlich wie genetisch nichts miteinander zu schaffen. Der erste der beiden Konflikte entspricht dem normalen Schwanken zwischen Mann und Weib als Objekten der Liebeswahl, welches dem Kinde zuerst in der berühmten Frage nahegebracht wird: „Wen hast du lieber, Papa oder Mama?“ und das ihn dann durchs Leben begleitet trotz aller Verschiedenheiten in der Ausbildung der Empfindungsintensitäten und in der Fixierung der endgültigen Sexualziele. Nur verliert diese Gegensätzlichkeit normalerweise bald den Charakter des scharfen Widerspruches, des unerbittlichen Entweder-Oder: es wird Raum für die ungleichen Ansprüche beider Teile geschaffen, obwohl auch beim Normalen jederzeit die Wertschätzung des einen Geschlechtes durch die Entwertung des anderen gehoben wird.
Fremdartiger berührt uns der andere der Konflikte, der zwischen Liebe und Haß. Wir wissen, daß beginnende Verliebtheit häufig als Haß wahrgenommen wird, daß Liebe, der die Befriedigung versagt ist, sich leicht zum Teil in Haß umsetzt, und hören von den Dichtern, daß in stürmischen Stadien der Verliebtheit beide gegensätzliche Gefühle eine Zeitlang nebeneinander wie im Wettstreite bestehen können. Aber ein chronisches Nebeneinander von Liebe und Haß gegen dieselbe Person, beide Gefühle von höchster Intensität, setzt uns in Erstaunen. Wir hätten erwartet, daß die große Liebe längst den Haß überwunden hätte oder von ihm aufgezehrt worden wäre. Wirklich ist ein solcher Fortbestand der Gegensätze nur unter besonderen psychologischen Bedingungen und durch Mitwirkung des unbewußten Zustandes möglich. Die Liebe hat den Haß nicht auslöschen, sondern nur ins Unbewußte drängen können, und im Unbewußten kann er, gegen die Aufhebung durch die Bewußtseinswirkung geschützt, sich erhalten und selbst wachsen. Die bewußte Liebe pflegt unter diesen Umständen reaktionsweise zu einer besonders hohen Intensität anzuschwellen, damit sie der ihr konstant auferlegten Arbeit gewachsen sei, ihr Gegenspiel in der Verdrängung zurückzuhalten. Eine sehr frühzeitig, in den prähistorischen Kindheitsjahren erfolgte Scheidung der beiden Gegensätze mit Verdrängung des einen Anteiles, gewöhnlich des Hasses, scheint die Bedingung dieser befremdenden Konstellation des Liebeslebens zu sein.1
Wenn man eine Anzahl von Analysen Zwangskranker überschaut, so muß man den Eindruck gewinnen, daß ein solches Verhalten von Liebe und Haß wie bei unserem Patienten zu den häufigsten, ausgesprochensten und darum wahrscheinlich bedeutsamsten Charakteren der Zwangsneurose gehört. Aber so verlockend es wäre, das Problem der „Neurosenwahl“ auf das Triebleben zu beziehen, man hat doch Gründe genug, dieser Versuchung aus dem Wege zu gehen, und muß sich sagen, daß man bei allen Neurosen die nämlichen unterdrückten Triebe als Symptomträger aufdeckt. Der von der Liebe in der Unterdrückung des Unbewußten zurückgehaltene Haß spielt doch auch eine große Rolle in der Pathogenese der Hysterie und der Paranoia. Wir kennen das Wesen der Liebe zu wenig, um hier eine bestimmte Entscheidung zu treffen; insbesondere das Verhältnis ihres negativen Faktors2 zur sadistischen Komponente der Libido ist völlig ungeklärt. Es hat daher etwa den Wert einer vorläufigen Auskunft, wenn wir sagen: in den besprochenen Fällen von unbewußtem Hasse sei die sadistische Komponente der Liebe konstitutionell besonders stark entwickelt gewesen, habe darum eine vorzeitige und allzu gründliche Unterdrückung erfahren, und nun leiten sich die beobachteten Phänomene der Neurose einerseits von der durch Reaktion in die Höhe getriebenen bewußten Zärtlichkeit, anderseits von dem im Unbewußten als Haß fortwirkenden Sadismus ab.
Wie immer aber dies merkwürdige Verhalten von Liebe und Haß zu verstehen sein mag, sein Vorkommen ist durch die Beobachtung an unserem Patienten über jeden Zweifel erhaben, und es ist erfreulich zu sehen, wie leicht begreiflich nun die rätselhaften Vorgänge der Zwangsneurose durch die Beziehung auf dieses eine Moment werden. Steht einer intensiven Liebe ein fast ebenso starker Haß bindend entgegen, so muß die nächste Folge eine partielle Willenslähmung sein, eine Unfähigkeit zur Entschließung in all den Aktionen, für welche die Liebe das treibende Motiv sein soll. Aber die Unentschlossenheit bleibt nicht lange auf eine Gruppe von Handlungen beschränkt. Denn erstens, welche Handlungen eines Liebenden träten nicht mit seinem Hauptmotiv in Beziehung? Zweitens kommt dem sexuellen Verhalten eine vorbildliche Macht zu, mit der es umformend auf die übrigen Reaktionen eines Menschen wirkt, und drittens liegt es im psychologischen Charakter der Zwangsneurose, von dem Mechanismus der Verschiebung den ausgiebigsten Gebrauch zu machen. So breitet sich die Entschlußlähmung allmählich über das gesamte Tun des Menschen aus.
Damit ist die Herrschaft von Zwang und Zweifel, wie sie uns im Seelenleben der Zwangskranken entgegentreten, gegeben. Der Zweifel entspricht der innern Wahrnehmung der Unentschlossenheit, welche, infolge der Hemmung der Liebe durch den Haß, bei jeder beabsichtigten Handlung sich des Kranken bemächtigt. Er ist eigentlich ein Zweifel an der Liebe, die ja das subjektiv Sicherste sein sollte, der auf alles übrige diffundiert und sich vorzugsweise auf das indifferenteste Kleinste3 verschoben hat. Wer an seiner Liebe zweifelt, darf, muß doch auch an allem andern, geringeren, Zweifeln?4
Es ist derselbe Zweifel, der bei den Schutzmaßregeln zur Unsicherheit und zur fortgesetzten Wiederholung führt, um diese Unsicherheit zu bannen, der es endlich zustande bringt, daß diese Schutzhandlungen ebenso unvollziehbar werden wie die ursprünglich gehemmte Liebesentschließung. Ich mußte anfangs meiner Erfahrungen eine andere und allgemeinere Ableitung der Unsicherheit bei den Zwangskranken annehmen, die sich näher an die Norm anzuschließen schien. Wenn ich z. B. während der Abfassung eines Briefes durch Zwischenfragen einer andern Person gestört worden bin, so empfinde ich hernach eine berechtigte Unsicherheit, was ich wohl unter dem Einflüsse der Störung geschrieben haben mag, und ich bin genötigt, zur Sicherheit den Brief, nachdem er fertig geworden ist, nochmals durchzulesen. So konnte ich auch meinen, daß die Unsicherheit der Zwangskranken, z. B. bei ihren Gebeten, daher rühre, daß sich ihnen unaufhörlich unbewußte Phantasien als Störer in die Tätigkeit des Betens mengten. Diese Annahme war richtig und ist doch leicht mit unserer früheren Behauptung zu versöhnen. Es trifft zu, daß die Unsicherheit, eine Schutzmaßregel vollzogen zu haben, von den störenden unbewußten Phantasien herrührt, aber diese Phantasien enthalten eben den gegenteiligen Impuls, der gerade durch das Gebet abgewehrt werden sollte. Es wird dies einmal überdeutlich bei unserem Patienten, indem die Störung nicht unbewußt bleibt, sondern sich laut vernehmen läßt. Wenn er beten will „Gott schütze sie“, so stürzt plötzlich aus dem Unbewußten ein feindseliges „nicht“ dazu heraus, und er hat erraten, daß es der Ansatz zu einem Fluche ist (S. 62). Bliebe dieses „nicht“ stumm, so befände auch er sich im Zustande der Unsicherheit und würde sein Beten immer mehr verlängern; auf das Lautwerden hin hat er endlich das Beten aufgegeben. Ehe er das tat, versuchte er wie andere Zwangskranke allerlei Methoden, um die Einmengung des Gegensatzes hintanzuhalten, die Verkürzung der Gebete, das beschleunigte Aussprechen derselben; andere bemühen sich, jede solche Schutzaktion sorgfältig von anderem zu „isolieren“. Aber alle diese Techniken fruchten auf die Dauer nichts; hat der liebevolle Impuls in seiner Verschiebung auf eine geringfügige Handlung etwas durchführen kennen, so wird ihm der feindselige bald auch dahin folgen und sein Werk wieder aufheben.
Wenn dann der Zwangskranke die schwache Stelle in der Sicherung unseres Seelenlebens, die Unverläßlichkeit des Gedächtnisses, entdeckt hat, so kann er mit ihrer Hilfe den Zweifel auf alles ausdehnen, auch auf bereits vollzogene Handlungen, die noch nicht in Beziehung zum Liebe-Haß-Komplex standen, und auf die ganze Vergangenheit. Ich erinnere an das Beispiel jener Frau, die eben im Laden einen Kamm für ihre kleine Tochter gekauft hatte und nach dem Argwohn an ihrem Mann zu zweifeln begann, ob sie ihn nicht vielmehr schon längst besessen: Sagt diese Frau nicht direkt: „Wenn ich an deiner Liebe zweifeln kann“ (und das ist nur eine Projektion ihres Zweifels an der eigenen Liebe zu ihm), „so kann ich auch daran, so kann ich an allem zweifeln“, und gibt so den verborgenen Sinn des neurotischen Zweifels unserem Verständnisse preis?
Der Zwang aber ist ein Versuch zur Kompensation des Zweifels und zur Korrektur der unerträglichen Hemmungszustände, von denen der Zweifel Zeugnis ablegt. Ist es endlich mit Hilfe der Verschiebung gelungen, irgendeinen der gehemmten Vorsätze zum Entschluß zu bringen, so muß dieser ausgeführt werden; es ist freilich nicht der ursprüngliche mehr, aber die dort aufgestaute Energie wird auf die Gelegenheit, an der Ersatzhandlung ihre Abfuhr zu finden, nicht mehr verzichten. Sie äußert sich also in Geboten und Verboten, indem bald der zärtliche, bald der feindliche Impuls diesen Weg zur Abfuhr erobert. Die Spannung, wenn das Zwangsgebot nicht ausgeführt werden soll, ist eine unerträgliche und wird als höchste Angst wahrgenommen. Aber der Weg selbst zu der auf ein Kleinstes verschobenen Ersatzhandlung wird so heiß umstritten, daß diese meist nur als Schutzmaßregel im engsten Anschlüsse an einen abzuwehrenden Impuls durchgesetzt werden kann.
Durch eine Art von Regression treten ferner vorbereitende Akte an die Stelle der endgültigen Entschließung, das Denken ersetzt das Handeln, und irgendeine Gedankenvorstufe der Tat setzt sich mit Zwangsgewalt durch anstatt der Ersatzhandlung. Je nachdem diese Regression vom Handeln aufs Denken mehr oder weniger ausgeprägt ist, nimmt der Fall von Zwangsneurose den Charakter des Zwangsdenkens (Zwangsvorstellung) oder des Zwangshandelns im engeren Sinne an. Diese eigentlichen Zwangshandlungen werden aber nur dadurch ermöglicht, daß in ihnen eine Art Versöhnung der beiden einander bekämpfenden Impulse in Kompromißbildungen statthat. Die Zwangshandlungen nähern sich nämlich immer mehr, und je länger das Leiden andauert, um so deutlicher, den infantilen Sexualhandlungen nach Art der Onanie. So ist es bei dieser Form der Neurose doch zu Liebesakten gekommen, aber nur mit Zuhilfenahme einer neuen Regression, nicht mehr zu Akten, die einer Person gelten, dem Objekte von Liebe und Haß, sondern zu autoerotischen Handlungen wie in der Kindheit.
Die erstere Regression, die vom Handeln aufs Denken, wird durch einen andern an der Entstehung der Neurose beteiligten Faktor begünstigt. Ein fast regelmäßiges Vorkommnis in den Geschichten der Zwangskranken ist das frühzeitige Auftreten und die vorzeitige Verdrängung des sexuellen Schau- und Wißtriebes, der ja auch bei unserem Patienten ein Stück seiner infantilen Sexualbetätigung dirigiert.5
Wir haben der Bedeutung der sadistischen Komponente für die Genese der Zwangsneurose bereits gedacht; wo der Wißtrieb in der Konstitution des Zwangskranken überwiegt, da wird das Grübeln zum Hauptsymptom der Neurose. Der Denkvorgang selbst wird sexualisiert, indem die sexuelle Lust, die sich sonst auf den Inhalt des Denkens bezieht, auf den Denkakt selbst gewendet wird, und die Befriedigung beim Erreichen eines Denkergebnisses wird als sexuelle Befriedigung empfunden. Diese Beziehung des Wißtriebes zu den Denkvorgängen macht ihn besonders geeignet, in den verschiedenen Formen der Zwangsneurose, an denen er Anteil hat, die Energie, die sich vergeblich zur Handlung durchzudringen bemüht, aufs Denken zu locken, wo sich die Möglichkeit einer andern Art von Lustbefriedigung bietet. So kann sich mit Hilfe des Wißtriebes die Ersatzhandlung durch vorbereitende Denkakte weiter ersetzen. Der Aufschub im Handeln findet aber bald seinen Ersatz durch das Verweilen im Denken, und der ganze Prozeß ist schließlich mit Erhaltung all seiner Eigentümlichkeiten auf ein neues Gebiet übersetzt, wie die Amerikaner ein Haus zu „moven“ vermögen.
Ich würde mich nun getrauen, den lange gesuchten psychologischen Charakter, der den Produkten der Zwangsneurose das „Zwangsartige“ verleiht, in Anlehnung an die obenstehenden Erörterungen zu bestimmen. Zwanghaft werden solche Denkvorgänge, welche (infolge der Gegensatzhemmung am motorischen Ende der Denksysteme) mit einem — qualitativ wie quantitativ — sonst nur für das Handeln bestimmten Energieaufwand unternommen werden, also Gedanken, die regressiv Taten vertreten müssen. Die Annahme wird wohl keinen Widerspruch erfahren, daß das Denken sonst aus ökonomischen Gründen mit kleineren Energieverschiebungen (wahrscheinlich auf höherem [Besetzungs-]Niveau) betrieben wird als das zur Abfuhr und zur Veränderung der Außenwelt bestimmte Handeln.
Was als Zwangsgedanke überstark zum Bewußtsein durchgedrungen ist, muß nun gegen die auflösenden Bemühungen des bewußten Denkens versichert werden. Wir wissen bereits, daß dieser Schutz durch die Entstellung erreicht wird, welche der Zwangsgedanke vor seinem Bewußtwerden erfahren hat. Doch ist dies nicht das einzige Mittel. Überdies wird selten versäumt, die einzelne Zwangsidee der Situation ihrer Entstehung zu entrücken, in welcher sie trotz der Entstellung am leichtesten dem Verständnisse zugänglich wäre. In dieser Absicht wird einerseits ein Intervall zwischen die pathogene Situation und die abfolgende Zwangsidee eingeschoben, welches die Kausalerforschungen des bewußten Denkens irreführt; anderseits wird der Inhalt der Zwangsidee durch Verallgemeinerung aus seinen speziellen Beziehungen gelöst.
Ein Beispiel hiefür gibt unser Patient im „Verstehzwang“ (S. 60); ein besseres vielleicht eine andere Kranke, die sich verbot, irgendwelchen Schmuck zu tragen, obwohl die Veranlassung auf ein einziges Schmuckstück zurückging, um welches sie ihre Mutter beneidet hatte und von dem sie hoffte, es würde ihr dereinst durch Erbschaft zufallen. Endlich dient noch zum Schutze der Zwangsidee gegen die bewußte Lösungsarbeit der unbestimmt oder zweideutig gewählte Wortlaut, wenn man diesen von der einheitlichen Entstellung absondern will. Dieser mißverstandene Wortlaut kann nun in die Delirien eingehen, und die weiteren Fortbildungen oder Ersetzungen des Zwanges werden an das Mißverständnis anknüpfen anstatt an den richtigen Text. Doch kann man beobachten, daß diese Delirien bestrebt sind, immer wieder neue Beziehungen zu dem nicht im bewußten Denken aufgenommenen Gehalt und Wortlaut des Zwanges zu gewinnen.
Einer einzigen Bemerkung wegen möchte ich noch zum Triebleben der Zwangsneurose zurückkehren. Unser Patient erwies sich auch als ein Riecher, der nach seiner Behauptung in der Kindheit wie ein Hund jeden Menschen nach dem Geruch erkannt hatte und dem auch heute noch Riechwahrnehmungen mehr sagten als anderen.6 Ich habe ähnliches auch bei anderen Neurotikern, Zwangskranken und Hysterikern gefunden und gelernt, der Rolle einer seit der Kindheit untergegangenen Riechlust in der Genese der Neurosen Rechnung zu tragen.7 Ganz allgemein möchte ich die Frage aufwerfen, ob nicht die mit der Abkehrung des Menschen vom Erdboden unvermeidlich gewordene Verkümmerung des Geruchsinnes und die so hergestellte organische Verdrängung der Riechlust einen guten Anteil an seiner Befähigung zu neurotischen Erkrankungen haben kann. Es ergäbe sich ein Verständnis dafür, daß bei steigender Kultur gerade das Sexualleben die Opfer der Verdrängung bringen muß. Wir wissen ja längst, welch inniger Zusammenhang in der tierischen Organisation zwischen dem Sexualtrieb und der Funktion des Riechorgans hergestellt ist.
Zum Schlüsse dieser Arbeit will ich die Hoffnung aussprechen, daß meine in jedem Sinne unvollständigen Mitteilungen wenigstens anderen die Anregung bringen mögen, durch weitere Vertiefung in das Studium der Zwangsneurose mehr zutage zu fördern. Das Charakteristische dieser Neurose, das, was sie von der Hysterie unterscheidet, ist meines Erachtens nicht im Triebleben, sondern in den psychologischen Verhältnissen zu suchen. Ich kann meinen Patienten nicht verlassen, ohne dem Eindrucke Worte zu leihen, daß er gleichsam in drei Persönlichkeiten zerfallen war; ich würde sagen: in eine unbewußte und zwei vorbewußte, zwischen denen sein Bewußtsein oszillieren konnte. Sein Unbewußtes umschloß die frühzeitig unterdrückten, als leidenschaftlich und böse zu bezeichnenden Regungen; in seinem Normalzustande war er gut, lebensfroh, überlegen, klug und aufgeklärt, aber in einer dritten psychischen Organisation huldigte er dem Aberglauben und der Askese, so daß er zwei Überzeugungen haben und zweierlei Weltanschauungen vertreten konnte. Diese vorbewußte Person enthielt vorwiegend die Reaktionsbildungen auf seine verdrängten Wünsche, und es war leicht vorherzusehen, daß sie bei weiterem Bestände der Krankheit die normale Person aufgezehrt hätte. Ich habe jetzt Gelegenheit, eine an schweren Zwangshandlungen leidende Dame zu studieren, die in ähnlicher Weise in eine tolerante, heitere und in eine schwer verdüsterte, asketische Persönlichkeit zerfallen ist, die erstere als ihr offizielles Ich vorschiebt, während sie von der letzteren beherrscht wird. Beide psychischen Organisationen haben Zugang zu ihrem Bewußtsein, und hinter der asketischen Person ist das ihr völlig unbekannte Unbewußte ihres Wesens aufzufinden, bestehend aus uralten, längst verdrängten Wunschregungen.8
- Vgl. die Erörterungen hierüber in einer der ersten Sitzungen. — (Zusatz 1923:) Für diese Gefühlskonstellation ist später von Bleuler der passende Name „Ambivalenz“ geschaffen worden. Vgl. übrigens die spätere Fortführung dieser Erörterungen im Aufsatze „Die Disposition zur Zwangsneurose“ (1913)↩
- „Ja, oft habe ich den Wunsch, ihn nicht mehr unter den Lebenden zu sehen. Und doch, wenn das je einträfe, ich weiß, ich würde noch viel unglücklicher sein, so wehrlos, so ganz wehrlos bin ich gegen ihn“, sagt Alkibiades über den Sokrates im „Symposion“ (übersetzt von R. Kassner).↩
- Vgl. die Darstellung durch ein Kleinstes als Witztechnik.↩
- Hamlets Liebesverse an Ophelia:
Doubt thou the stars are fire;
Doubt that the sun doth move;
Doubt truth to be a liar;
But never doubt I love. (Akt II, Szene 2)↩ - Hiermit hängt wahrscheinlich auch die im Durchschnitt recht große intellektuelle Begabung der Zwangskranken zusammen.↩
- Ich füge hinzu, daß in seinen Kinderjahren starke koprophile Neigungen gewaltet hatten. Dazu die bereits betonte Analerotik (S. 77).↩
- Z. B. bei gewissen Formen des Fetischismus.↩
- (Zusatz 1923:) Der Patient, dem die mitgeteilte Analyse seine psychische Gesundheit wiedergegeben hatte, ist wie so viele andere wertvolle und hoffnungsvolle junge Männer↩