〈C. G. Jung〉
Die Adlersche Abfallsbewegung vollzog sich vor dem Kongreß in Weimar 1911; nach diesem Datum setzte die der Schweizer ein. Ihre ersten Anzeichen waren sonderbarerweise einige Äußerungen Riklins in populären Aufsätzen der schweizerischen Literatur, aus denen die Umwelt also früher als die nächsten Fachgenossen erfuhr, daß die Psychoanalyse einige bedauerliche, sie diskreditierende Irrtümer überwunden habe. 1912 rühmte sich Jung in einem Briefe aus Amerika, daß seine Modifikationen der Psychoanalyse die Widerstände bei vielen Personen überwunden hätten, die bis dahin nichts von ihr hatten wissen wollen. Ich antwortete, das sei kein Ruhmestitel und je mehr er von den mühselig erworbenen Wahrheiten der Psychoanalyse opfere, desto mehr werde er den Widerstand schwinden sehen. Die Modifikation, auf deren Einführung die Schweizer sich so stolz zeigten, war wiederum keine andere als die theoretische Zurückdrängung des sexuellen Moments. Ich gestehe, daß ich von allem Anfang an diesen „Fortschritt“ als eine zu weitgehende Anpassung an die Anforderungen der Aktualität auffaßte.
Die beiden rückläufigen, von der Psychoanalyse wegstrebenden Bewegungen, die ich nun zu vergleichen habe, zeigen auch die Ähnlichkeit, daß sie durch gewisse hochragende Gesichtspunkte wie sub specie aeternitatis um ein günstiges Vorurteil werben. Bei Adler spielt die Relativität aller Erkenntnis und das Recht der Persönlichkeit, den Wissensstoff individuell künstlerisch zu gestalten, diese Rolle; bei Jung wird auf das kulturhistorische Recht der Jugend gepocht, Fesseln abzuwerfen, in welche sie das tyrannische, in seinen Anschauungen erstarrte Alter schlagen möchte. Diese Argumente machen einige abweisende Worte notwendig. Die Relativität unserer Erkenntnis ist ein Bedenken, welches jeder anderen Wissenschaft ebensowohl entgegengesetzt werden kann wie der Psychoanalyse. Es entstammt bekannten reaktionären, der Wissenschaft feindlichen Strömungen der Gegenwart und will den Schein einer Überlegenheit in Anspruch nehmen, die uns nicht gebührt. Keiner von uns kann ahnen, welches das endgültige Urteil der Menschheit über unsere theoretischen Bemühungen sein wird. Man hat Beispiele dafür, daß die Abweisung der nächsten drei Generationen noch von der nächstfolgenden korrigiert und in Anerkennung verwandelt wurde. Es bleibt dem einzelnen nichts übrig, als seine auf Erfahrung gestützte Überzeugung mit all seinen Kräften zu vertreten, nachdem er die eigene kritische Stimme sorgfältig und die der Gegner mit einiger Aufmerksamkeit angehört hat. Man begnüge sich damit, seine Sache ehrlich zu führen, und maße sich nicht ein Richteramt an, das einer fernen Zukunft vorbehalten ist. Die Betonung der persönlichen Willkür in wissenschaftlichen Dingen ist arg; sie will der Psychoanalyse offenbar den Wert einer Wissenschaft bestreiten, der allerdings durch die vorhergehende Bemerkung bereits herabgesetzt ist. Wer das wissenschaftliche Denken hochstellt, wird eher nach Mitteln und Methoden suchen, um den Faktor der persönlichen künstlerischen Willkür dort möglichst einzuschränken, wo er noch eine übergroße Rolle spielt. Übrigens darf man sich rechtzeitig erinnern, daß aller Eifer der Verteidigung unangebracht ist. Diese Argumente Adlers sind nicht ernst gemeinte; sie sollen nur gegen den Gegner verwertet werden, respektieren aber die eigenen Theorien. Sie haben auch Adlers Anhänger nicht abgehalten, ihn als den Messias zu feiern, auf dessen Erscheinen die harrende Menschheit durch so und so viel Vorläufer vorbereitet worden ist. Der Messias ist gewiß nichts Relatives mehr.
Das Jungsche Argument ad captandam benevolentiam ruht auf der allzu optimistischen Voraussetzung, als hätte sich der Fortschritt der Menschheit, der Kultur, des Wissens, stets in ungebrochener Linie vollzogen. Als hätte es niemals Epigonen gegeben, Reaktionen und Restaurationen nach jeder Revolution, Geschlechter, die durch einen Rückschritt auf den Erwerb einer früheren Generation verzichtet hätten. Die Annäherung an den Standpunkt der Menge, das Aufgeben einer als unliebsam empfundenen Neuerung, machen es von vornherein unwahrscheinlich, daß die Jungsche Korrektur der Psychoanalyse den Anspruch auf eine befreiende Jugendtat sollte erheben können. Endlich sind es nicht die Jahre des Täters, welche hierüber entscheiden, sondern der Charakter der Tat.
Von den beiden hier behandelten Bewegungen ist die Adlersche unzweifelhaft die bedeutsamere; radikal falsch, ist sie doch durch Konsequenz und Kohärenz ausgezeichnet. Sie ist auch noch immer auf eine Trieblehre gegründet. Die Jungsche Modifikation dagegen hat den Zusammenhang der Phänomene mit dem Triebleben gelockert; sie ist übrigens, wie ihre Kritiker (Abraham, Ferenczi, Jones) hervorgehoben, so unklar, undurchsichtig und verworren, daß es nicht leicht ist, Stellung zu ihr zu nehmen. Wo man sie antastet, muß man darauf vorbereitet sein zu hören, daß man sie mißverstanden hat, und man weiß nicht, wie man zu ihrem richtigen Verständnis kommen soll. Sie stellt sich selbst in eigentümlich schwankender Weise vor, bald als „ganz zahme Abweichung, die das Geschrei nicht wert sei, das sich darum erhoben habe“ (Jung), bald als neue Heilsbotschaft, mit der eine neue Epoche für die Psychoanalyse beginne, ja, eine neue Weltanschauung für alle übrigen.
Unter dem Eindruck der Unstimmigkeiten zwischen den einzelnen privaten und öffentlichen Äußerungen der Jungschen Richtung wird man sich fragen müssen, wie groß daran der Anteil der eigenen Unklarheit und der der Unaufrichtigkeit sei. Man wird aber zugestehen, daß sich die Vertreter der neuen Lehre in einer schwierigen Situation befinden. Sie bekämpfen nun Dinge, welche sie früher selbst verteidigt haben, und zwar nicht auf Grund neuer Beobachtungen, von denen sie sich belehren lassen konnten, sondern infolge von Umdeutungen, welche ihnen jetzt die Dinge anders erscheinen lassen, als sie sie vorher sahen. Darum wollen sie den Zusammenhang mit der Psychoanalyse, als deren Vertreter sie der Welt bekannt wurden, nicht aufgeben und ziehen es vor zu verkünden, daß die Psychoanalyse sich geändert hat. Auf dem Münchner Kongreß sah ich mich genötigt, dieses Halbdunkel aufzuhellen, und tat es durch die Erklärung, daß ich die Neuerungen der Schweizer nicht als legitime Fortsetzung und Weiterentwicklung der von mir ausgehenden Psychoanalyse anerkenne. Außenstehende Kritiker (wie Furtmüller) hatten diesen Sachverhalt schon vorher erkannt, und Abraham spricht mit Recht davon, daß sich Jung auf dem vollen Rückzuge von der Psychoanalyse befinde. Ich bin natürlich gern bereit zuzugestehen, daß ein jeder das Recht hat, zu denken und zu schreiben, was er will, aber er hat nicht das Recht, es für etwas anderes auszugeben, als es wirklich ist.
Wie die Adlersche Forschung der Psychoanalyse etwas Neues brachte, ein Stück der Ichpsychologie, und sich dieses Geschenk allzu teuer bezahlen lassen wollte durch die Verwerfung aller grundlegenden analytischen Lehren, so haben auch Jung und seine Anhänger ihren Kampf gegen die Psychoanalyse an eine Neuerwerbung für dieselbe angeknüpft. Sie haben im einzelnen verfolgt (worin ihnen Pfister vorangegangen war), wie das Material der sexuellen Vorstellungen aus dem Familienkomplex und der inzestuösen Objektwahl zur Darstellung der höchsten ethischen und religiösen Interessen der Menschen verwendet wird, also einen bedeutsamen Fall von Sublimierung der erotischen Triebkräfte und Umsetzung derselben in nicht mehr erotisch zu nennende Strebungen aufgeklärt. Dies stand im besten Einklang mit den in der Psychoanalyse enthaltenen Erwartungen und hätte sich vortrefflich mit der Auffassung vertragen, daß in Traum und Neurose die regressive Auflösung dieser wie aller anderen Sublimierungen sichtbar wird. Allein die Welt hätte empört gerufen, man habe Ethik und Religion sexualisiert! Ich kann es nun nicht vermeiden, einmal „final“ zu denken und anzunehmen, daß sich die Entdecker diesem Entrüstungssturm nicht gewachsen fühlten. Vielleicht begann er auch in der eigenen Brust zu toben. Die theologische Vorgeschichte so vieler Schweizer ist für ihre Stellung zur Psychoanalyse so wenig gleichgültig wie die sozialistische Adlers für die Entwicklung seiner Psychologie. Man wird an die berühmte Geschichte Mark Twains von den Schicksalen seiner Uhr erinnert und an die Verwunderung, mit der sie schließt: „And he used to wonder what became of all the unsuccessful tinkers, and gunsmiths, and shoemakers, and blacksmiths; but nobody could ever teil him.“
Ich will den Weg des Gleichnisses betreten und annehmen, in einer Gesellschaft lebe ein Emporkömmling, der sich der Abstammung von uradeliger, aber ortsfremder Familie rühme. Nun werde ihm nachgewiesen, daß seine Eltern irgendwo in der Nähe leben und sehr bescheidene Leute seien. Jetzt steht ihm noch ein Auskunftsmittel zu Gebote, und zu diesem greift er auch. Er kann die Eltern nicht mehr verleugnen, aber er behauptet, die seien selbst hochadelig, nur herabgekommen, und verschafft ihnen bei einem gefälligen Amt ein Abkunftsdokument. Ich meine, so ähnlich haben sich die Schweizer benehmen müssen. Wenn Ethik und Religion nicht sexualisiert werden durften, sondern von Anfang an etwas „Höheres“ waren, die Herleitung ihrer Vorstellungen aus dem Familien- und Ödipuskomplex aber unabweisbar erschien, so ergab sich nur eine Auskunft: diese Komplexe selbst durften von Anfang an nicht bedeuten, was sie auszusagen schienen, sondern jenen höheren, „anagogischen“ Sinn (nach Silberers Namengebung) haben, mit dem sie sich in ihre Verwendung in den abstrakten Gedankengängen der Ethik und der religiösen Mystik einfügten.
Ich bin nun gefaßt darauf, wiederum zu hören, daß ich Inhalt und Absicht der Neu-Züricher Lehre mißverstanden habe, aber ich verwahre mich von vornherein dagegen, daß die Widersprüche gegen meine Auffassung, die sich aus den Veröffentlichungen dieser Schule ergeben, mir, anstatt ihnen selbst zur Last gelegt sein sollen. Auf keine andere Art kann ich mir das Ensemble der Jungschen Neuerungen verständlich machen und im Zusammenhange begreifen. Von der Absicht, das Anstößige der Familienkomplexe zu beseitigen, um dies Anstößige nicht in Religion und Ethik wiederzufinden, strahlen alle die Abänderungen aus, welche Jung an der Psychoanalyse vorgenommen hat. Die sexuelle Libido wurde durch einen abstrakten Begriff ersetzt, von dem man behaupten darf, daß er für Weise wie für Toren gleich geheimnisvoll und unfaßbar geblieben ist. Der Ödipuskomplex war nur „symbolisch“ gemeint, die Mutter darin bedeutete das Unerreichbare, auf welches man im Interesse der Kulturentwicklung verzichten muß; der Vater, der im Ödipusmythus getötet wird, ist der „innerliche“ Vater, von dem man sich frei zu machen hat, um selbständig zu werden. Andere Stücke des sexuellen Vorstellungsmaterials werden im Laufe der Zeit sicherlich ähnliche Umdeutungen erfahren. An Stelle des Konfliktes zwischen ichwidrigen erotischen Strebungen und der Ichbehauptung trat der Konflikt zwischen der „Lebensaufgabe“ und der „psychischen Trägheit“; das neurotische Schuldbewußtsein entsprach dem Vorwurf, seiner Lebensaufgabe nicht gerecht zu werden. Ein neues religiös-ethisches System wurde so geschaffen, welches ganz wie das Adlersche die tatsächlichen Ergebnisse der Analyse umdeuten, verzerren oder beseitigen mußte. In Wirklichkeit hatte man aus der Symphonie des Weltgeschehens ein paar kulturelle Obertöne herausgehört und die urgewaltige Triebmelodie wieder einmal überhört.
Um dieses System zu halten, war eine volle Abwendung von der Beobachtung und von der Technik der Psychoanalyse notwendig. Gelegentlich gestattete die Begeisterung für die hehre Sache auch eine Geringschätzung der wissenschaftlichen Logik, wie wenn Jung den Ödipuskomplex nicht „spezifisch“ genug für die Ätiologie der Neurosen findet und diese Spezifität der Trägheit, also der allgemeinsten Eigenschaft belebter wie unbelebter Körper zuerkennt! Dabei ist zu bemerken, daß der „Ödipuskomplex“ nur einen Inhalt darstellt, an dem sich die Seelenkräfte des Individuums messen, und nicht selbst eine Kraft ist, wie die „psychische Trägheit“. Die Erforschung des einzelnen Menschen hatte ergeben und wird immer von neuem ergeben, daß die sexuellen Komplexe in ihrem ursprünglichen Sinne in ihm lebendig sind. Darum wurde die Individualforschung zurückgedrängt und durch die Beurteilung nach Anhaltspunkten aus der Völkerforschung ersetzt. In der frühen Kindheit eines jeden Menschen war man am ehesten der Gefahr ausgesetzt, auf den ursprünglichen und unverhüllten Sinn der umgedeuteten Komplexe zu stoßen, daher ergab sich für die Therapie die Vorschrift, bei dieser Vergangenheit so kurz als möglich zu verweilen und den Hauptakzent auf die Rückkehr zum aktuellen Konflikt zu legen, an dem aber beileibe nicht das Zufällige und Persönliche, sondern das Generelle, eben das Nichterfüllen der Lebensaufgabe, das Wesentliche ist. Wir haben aber gehört, daß der aktuelle Konflikt des Neurotikers erst verständlich und lösbar wird, wenn man ihn auf die Vorgeschichte des Kranken zurückführt, den Weg geht, den seine Libido bei der Erkrankung gegangen ist.
Wie sich die Neu-Züricher Therapie unter solchen Tendenzen gestaltet hat, kann ich nach den Angaben eines Patienten mitteilen, der sie an sich selbst erfahren mußte. „Diesmal keine Spur von Rücksicht auf Vergangenheit und Übertragung. Wo ich letztere zu greifen glaubte, wurde sie für reines Libidosymbol ausgegeben. Die moralischen Belehrungen waren sehr schön, und ich lebte ihnen getreulich nach, aber ich kam keinen Schritt vorwärts. Es war mir noch unangenehmer als ihm, aber was konnte ich dafür? … Statt analytisch zu befreien, brachte jede Stunde neue ungeheure Forderungen, an deren Erfüllung die Überwindung der Neurose geknüpft wurde, z. B. innerliche Konzentration durch Introversion, religiöse Vertiefung, neues Gemeinschaftsleben mit meiner Frau in liebevoller Hingabe usw. Es ging fast über die Kraft, lief es doch auf eine radikale Umgestaltung des ganzen inneren Menschen hinaus. Man verließ die Analyse als armer Sünder mit den stärksten Zerknirschungsgefühlen und den besten Vorsätzen, aber gleichzeitig in tiefster Entmutigung. Was er mir empfahl, hätte jeder Pfarrer mir auch geraten, aber woher die Kraft?“ Der Patient teilt zwar mit, er habe gehört, daß die Vergangenheits- und Übertragungsanalyse vorangehen müsse. Ihm wurde gesagt, daß er davon genug gehabt habe. Da sie nicht mehr geholfen hat, scheint mir der Schluß gerechtfertigt, daß der Patient von der ersteren Art der Analyse nicht genug bekommen hat. Keinesfalls hat das daraufgesetzte Stück Behandlung mehr geholfen, welches auf den Namen einer Psychoanalyse keinen Anspruch mehr hat. Es ist zu verwundern, daß die Züricher den langen Umweg über Wien gebraucht haben, um endlich nach dem so nahen Bern zu kommen, in dem Dubois Neurosen durch ethische Aufmunterung in schonungsvollerer Weise heilt.1
Der völlige Zerfall dieser neuen Richtung mit der Psychoanalyse erweist sich natürlich auch in der Behandlung der Verdrängung, welche in den Schriften Jungs kaum mehr erwähnt wird, in der Verkennung des Traumes, den sie wie Adler unter Verzicht auf die Traumpsychologie mit den latenten Traumgedanken verwechselt, in dem Verlust des Verständnisses für das Unbewußte, kurz in all den Punkten, in welche ich die Wesenheit der Psychoanalyse verlegen konnte. Wenn man von Jung hört, der Inzestkomplex sei nur symbolisch, er habe doch keine reale Existenz, der Wilde verspüre doch kein Gelüste nach der alten Vettel, sondern ziehe ein junges und schönes Weib vor, so ist man versucht anzunehmen, daß „symbolisch“ und „keine reale Existenz“ eben das bedeuten, was man in der Psychoanalyse mit Rücksicht auf seine Äußerungen und pathogenen Wirkungen als „unbewußt existent“ bezeichnet, um auf solche Weise den scheinbaren Widerspruch zu erledigen.
Wenn man sich vorhält, daß der Traum noch etwas anderes ist als die latenten Traumgedanken, die er verarbeitet, so wird man sich nicht wundern, daß die Kranken von den Dingen träumen, mit denen man ihren Sinn während der Behandlung erfüllt hat, sei es die „Lebensaufgabe“ oder das „Oben- und Untensein“. Gewiß sind die Träume der Analysierten lenkbar, in ähnlicher Art, wie man Träume durch experimentell angebrachte Reize beeinflussen kann. Man kann einen Teil des Materials bestimmen, welches in den Träumen vorkommt; am Wesen und am Mechanismus des Traumes wird hiedurch nichts geändert. Ich glaube auch nicht daran, daß die sogenannten „biographischen“ Träume sich außerhalb der Analyse ereignen. Analysiert man hingegen Träume, die vor der Behandlung vorgefallen sind, oder achtet man darauf, was der Träumer zu den ihm in der Kur gegebenen Anregungen hinzufügt, oder kann man es vermeiden, ihm solche Aufgaben zu stellen, so überzeugt man sich, wie ferne es dem Traume liegt, gerade nur Lösungsversuche der Lebensaufgabe zu liefern. Der Traum ist ja nur eine Form des Denkens; das Verständnis dieser Form kann man nie aus dem Inhalt seiner Gedanken gewinnen, dazu führt nur die Würdigung der Traumarbeit.
Die faktische Widerlegung der Jungschen Mißverständnisse und Abweichungen von der Psychoanalyse ist nicht schwierig. Jede regelrecht ausgeführte Analyse, ganz besonders aber jede Analyse am Kinde, bestärkt die Überzeugungen, auf denen die Theorie der Psychoanalyse ruht, und weist die Umdeutungen des Adlerschen wie des Jungschen Systems zurück. Jung selbst hat in der Zeit vor seiner Erleuchtung eine solche Kinderanalyse durchgeführt und publiziert; es ist abzuwarten, ob er eine neue Deutung derselben mit Hilfe einer anderen „einheitlichen Richtung der Tatsachen“ (nach dem hierauf bezüglichen Ausdruck Adlers) vornehmen wird.
Die Ansicht, daß die sexuelle Darstellung „höherer“ Gedanken in Traum und Neurose nichts anderes als eine archaische Ausdrucksweise bedeute, ist natürlich mit der Tatsache unvereinbar, daß sich diese sexuellen Komplexe in der Neurose als die Träger jener Libidoquantitäten erweisen, welche dem realen Leben entzogen worden sind. Handelte es sich nur um einen sexuellen Jargon, so könnte dadurch an der Ökonomie der Libido nichts geändert worden sein. Jung selbst gesteht dies noch in seiner Darstellung der psychoanalytischen Theorie zu und formuliert als therapeutische Aufgabe, daß diesen Komplexen die Libidobesetzung entzogen werden solle. Dies gelingt aber niemals durch Wegweisen von ihnen und Drängen zur Sublimierung, sondern nur durch eingehendste Beschäftigung mit ihnen und durch Bewußtmachen im vollen Umfange. Das erste Stück der Realität, dem der Kranke Rechnung zu tragen hat, ist eben seine Krankheit. Bemühungen, ihn dieser Aufgabe zu entziehen, deuten auf eine Unfähigkeit des Arztes, ihm zur Überwindung der Widerstände zu verhelfen, oder auf eine Scheu des Arztes vor den Ergebnissen dieser Arbeit.
Ich möchte abschließend sagen, Jung hat mit seiner „Modifikation“ der Psychoanalyse ein Gegenstück zum berühmten Lichtenbergschen Messer geliefert. Er hat das Heft verändert und eine neue Klinge eingesetzt; weil dieselbe Marke darauf eingeritzt ist, sollen wir nun dies Instrument für das frühere halten.
Ich glaube im Gegenteile gezeigt zu haben, daß die neue Lehre, welche die Psychoanalyse substituieren möchte, ein Aufgeben der Analyse und einen Abfall von ihr bedeutet. Man wird vielleicht der Befürchtung zuneigen, daß dieser Abfall für ihr Schicksal verhängnisvoller werden müsse als ein anderer, weil er von Personen ausgeht, welche eine so große Rolle in der Bewegung gespielt und sie um ein so großes Stück gefördert haben. Ich teile diese Befürchtung nicht.
Menschen sind stark, solange sie eine starke Idee vertreten; sie werden ohnmächtig, wenn sie sich ihr widersetzen. Die Psychoanalyse wird diesen Verlust ertragen und für diese Anhänger andere gewinnen. Ich kann nur mit dem Wunsche schließen, daß das Schicksal allen eine bequeme Auffahrt bescheren möge, denen der Aufenthalt in der Unterwelt der Psychoanalyse unbehaglich geworden ist. Den anderen möge es gestattet sein, ihre Arbeiten in der Tiefe unbelästigt zu Ende zu führen.
- Ich kenne die Bedenken, welche der Verwertung einer Patientenaussage im Wege stehen, und will darum ausdrücklich versichern, daß mein Gewährsmann eine ebenso vertrauenswürdige wie urteilsfähige Persönlichkeit ist. Er hat mich informiert, ohne daß ich ihn dazu aufgefordert, und ich bediene mich seiner Mitteilung, ohne seine Zustimmung einzuholen, weil ich nicht zugeben kann, daß eine psychoanalytische Technik den Schutz der Diskretion beanspruchen sollte.↩