IV.
〈Psychoanalyse in der Psychiatrie〉
Die geräuschvolle Ablehnung, welche der Psychoanalyse von seiten der ärztlichen Welt widerfuhr, hat ihre Anhänger nicht abhalten können, sie zunächst in ihrer ursprünglichen Absicht zu einer speziellen Pathologie und Therapie der Neurosen zu entwickeln, eine Aufgabe, welche auch gegenwärtig noch nicht vollkommen gelöst ist. Die unleugbaren Heilerfolge, welche weit über alles bisher Erreichte hinausgingen, spornten zu immer neuen Bemühungen an, und die Schwierigkeiten, die sich bei tieferem Eindringen in die Materie erhoben, veranlaßten tiefgreifende Veränderungen der analytischen Technik und bedeutsame Korrekturen an den Annahmen und Voraussetzungen der Theorie.
Die Technik der Psychoanalyse ist im Laufe dieser Entwicklung so bestimmt und so heikel geworden wie die irgendeiner anderen medizinischen Spezialität. In Verkennung dieser Tatsache wird besonders in England und Amerika viel gesündigt, indem Personen, die sich durch Lektüre eine nur literarische Kenntnis der Psychoanalyse erworben haben, sich für befähigt halten, analytische Behandlungen zu unternehmen, ohne sich einer besonderen Schulung zu unterziehen. Die Erfolge eines solchen Vorgehens sind unheilvoll sowohl für die Wissenschaft wie für die Patienten und haben viel zur Diskreditierung der Psychoanalyse beigetragen. Die Gründung der ersten psychoanalytischen Poliklinik (durch M. Eitingon in Berlin, 1920) ist daher ein Schritt von hoher praktischer Bedeutung geworden. Dieses Institut bemüht sich einerseits, die analytische Therapie weiten Volkskreisen zugänglich zu machen, andererseits übernimmt es die Ausbildung von Ärzten zu praktischen Analytikern in einem Lehrkurs, welcher die Bedingung einschließt, daß der Lernende an sich selbst eine Psychoanalyse vollziehen läßt.
Unter den Hilfsbegriffen, welche dem Arzt die Bewältigung des analytischen Materials ermöglichen, ist an erster Stelle der der „Libido“ zu nennen. Libido bedeutet in der Psychoanalyse zunächst die (als quantitativ veränderlich und meßbar gedachte) Kraft der auf das Objekt gerichteten Sexualtriebe (in dem durch die analytische Theorie erweiterten Sinne). Bei weiterem Studium ergab sich die Nötigung, dieser „Objektlibido“ eine auf das eigene Ich gerichtete „narzißtische oder Ichlibido“ an die Seite zu stellen, und die Wechselwirkungen dieser beiden Kräfte haben es gestattet, von einer großen Anzahl normaler wie pathologischer Vorgänge im Seelenleben Rechenschaft zu geben. Es ergab sich bald die grobe Scheidung der sogenannten „Übertragungsneurosen“ von den narzißtischen Affektionen, die ersteren (Hysterie und Zwangsneurose) die eigentlichen Objekte der psychoanalytischen Therapie, während die anderen, die narzißtischen Neurosen, zwar die Untersuchung mit Hilfe der Analyse gestatten, aber einer therapeutischen Beeinflussung prinzipielle Schwierigkeiten bereiten. Es ist richtig, daß die Libidotheorie der Psychoanalyse keineswegs abgeschlossen und ihr Verhältnis zu einer allgemeinen Trieblehre noch nicht geklärt ist, die Psychoanalyse ist eben eine junge, durchweg unfertige, in rascher Entwicklung begriffene Wissenschaft, aber es ist hier die Stelle zu betonen, wie irrig der Vorwurf des Pansexualismus ist, der so häufig gegen die Psychoanalyse erhoben wird. Er will besagen, daß die psychoanalytische Theorie keine anderen seelischen Triebkräfte als bloß sexuelle kennt, und macht sich dabei populäre Vorurteile zunutze, indem er „sexuell“ nicht im analytischen, sondern im vulgären Sinne verwendet.
Zu den narzißtischen Affektionen müßte die psychoanalytische Auffassung auch alle die Leiden rechnen, die in der Psychiatrie „funktionelle Psychosen“ genannt werden. Es ließ sich nicht bezweifeln, daß Neurosen und Psychosen nicht durch eine scharfe Grenze getrennt waren, so wenig wie Gesundheit und Neurose, und es lag zu nahe, zur Erklärung der so rätselhaften psychotischen Phänomene die Einsichten heranzuziehen, die man an den bisher ebenso undurchsichtigen Neurosen gewonnen hatte. Schon Referent hatte in der Zeit seiner Vereinsamung einen Fall von paranoider Erkrankung durch analytische Untersuchung halbwegs verständlich gemacht und in dieser unzweideutigen Psychose dieselben Inhalte (Komplexe) und ein ähnliches Kräftespiel wie bei simplen Neurosen nachgewiesen. E. Bleuler verfolgte bei einer ganzen Anzahl von Psychosen die Anzeichen von dem, was er „Freudsche Mechanismen“ nannte, und C. G. Jung erwarb sich mit einem Schlage ein großes Ansehen als Analytiker, als er 1907 für die absonderlichsten Symptome in den Endausgängen der Dementia praecox die Aufklärung aus der individuellen Lebensgeschichte dieser Kranken gab. Die umfassende Bearbeitung der Schizophrenie durch Bleuler (1911) hat dann die Berechtigung psychoanalytischer Gesichtspunkte für die Auffassung dieser Psychosen in wahrscheinlich endgültiger Weise dargetan.
In solcher Art wurde die Psychiatrie das nächste Anwendungsgebiet der Psychoanalyse und ist es auch seither geblieben. Dieselben Forscher, welche am meisten für eine vertiefte analytische Kenntnis der Neurosen getan haben, wie K. Abraham in Berlin und S. Ferenczi in Budapest (um nur die hervorragendsten zu nennen), sind auch in der analytischen Durchleuchtung der Psychosen führend geblieben. Die Überzeugung von der Einheit und Zusammengehörigkeit all der Störungen, die sich uns als neurotische und psychotische Phänomene kundgeben, setzt sich trotz allen Sträubens der Psychiater immer stärker durch. Man fängt an zu verstehen — vielleicht am besten in Amerika —, daß nur das psychoanalytische Studium der Neurosen die Vorbereitung für ein Verständnis der Psychosen ergeben kann, daß die Psychoanalyse dazu berufen ist, eine wissenschaftliche Psychiatrie der Zukunft zu ermöglichen, die sich nicht mehr mit der Beschreibung sonderbarer Zustandsbilder, unbegreiflicher Abläufe und mit der Verfolgung des Einflusses grober anatomischer und toxischer Traumen auf den unserer Kenntnis unzugänglichen seelischen Apparat zu begnügen braucht.