Lady Gray
(Heinrich VI.)
Sie war eine arme Witwe, welche zitternd vor König Eduard trat und ihn anflehte, ihren Kindern das Gütchen zurückzugeben, das nach dem Tode ihres Gemahls den Feinden anheimgefallen war. Der wollüstige König, welcher ihre Keuschheit nicht zu kirren vermag, wird so sehr von ihren schönen Tränen bezaubert, daß er ihr die Krone aufs Haupt setzt. Wie viel Kümmernisse für beide dadurch entstanden, meldet die Weltgeschichte.
Hat Shakespeare wirklich den Charakter des erwähnten Königs ganz treu nach der Historie geschildert? Ich muß wieder auf die Bemerkung zurückkommen, daß er verstand, die Lakunen der Historie zu füllen. Seine Königscharaktere sind immer so wahr gezeichnet, daß man, wie ein englischer Schriftsteller bemerkt, manchmal meinen sollte, er sei während seines ganzen Lebens der Kanzler des Königs gewesen, den er in irgendeinem Drama agieren läßt. Für die Wahrheit seiner Schilderungen bürgt nach meinem Bedünken auch die frappante Ähnlichkeit, welche sich zwischen seinen alten Königen und jenen Königen der Jetztzeit kund gibt, die wir als Zeitgenossen am besten zu beurteilen vermögen.
Was Friedrich Schlegel von dem Geschichtschreiber sagt, gilt ganz eigentlich von unserem Dichter: Er ist ein in die Vergangenheit schauender Prophet. Wäre es mir erlaubt, einem der berühmtesten unserer gekrönten Zeitgenossen den Spiegel vorzuhalten, so würde jeder einsehen, daß ihm Shakespeare schon vor zwei Jahrhunderten seinen Steckbrief ausgefertigt hat. In der Tat, beim Anblick dieses großen, vortrefflichen und gewiß auch glorreichen Monarchen überschleicht uns ein gewisses Schauergefühl, das wir zuweilen empfinden, wenn wir im wachen Tageslichte einer Gestalt begegnen, die wir schon in nächtlichen Träumen erblickt haben. Als wir ihn vor acht Jahren durch die Straßen der Hauptstadt reiten sahen, „barhäuptig und demütig nach allen Seiten grüßend“, dachten wir immer an die Worte, womit York des Bolingbroke’s Einzug in London schildert. Sein Vetter, der neuere Richard II., kannte ihn sehr gut, durchschaute ihn immer und äußerte einst ganz richtig:
Wir selbst und Bushy, Bagot hier und Green
Sahn sein Bewerben beim geringen Volk,
Wie er sich wollt’ in ihre Herzen tauchen
Mit traulicher, demüt’ger Höflichkeit;
Was für Verehrung er an Knechte wegwarf,
Handwerker mit des Lächelns Kunst gewinnend
Und ruhigem Ertragen seines Loses,
Als wollt’ er ihre Neigung mit verbannen.
Vor einem Austerweib zieht er die Mütze,
Ein paar Karrenzieher grüßten: „Gott geleit’ euch!“
Und ihnen ward des schmeid’gen Knies Tribut,
Nebst: „Dank, Landsleute! meine güt’gen Freunde!“
Ja, die Ähnlichkeit ist erschreckend. Ganz wie der ältere, entfaltete sich vor unseren Augen der heutige Bolingbroke, der nach dem Sturze seines königlichen Vetters den Thron bestieg, sich allmählich darauf befestigte: ein schlauer Held, ein kriechender Riese, ein Titan der Verstellung, entsetzlich, ja empörend ruhig, die Tatze in einem samtnen Handschuh, und damit die öffentliche Meinung streichelnd, den Raub schon in weiter Ferne erspähend, und nie darauf losspringend, bis er in sicherster Nähe … Möge er immer seine schnaubenden Feinde besiegen und dem Reiche den Frieden erhalten, bis zu seiner Todesstunde, wo er zu seinem Sohn jene Worte sprechen wird, die Shakespeare schon längst für ihn aufgeschrieben:
Komm her, mein Sohn, und setz’ dich an mein Bett,
Und hör’ den letzten Ratschlag, wie ich glaube,
Den ich je atmen mag. Gott weiß, mein Sohn,
Durch welche Nebenschlich’ und krumme Wege
Ich diese Kron’ erlangt; ich selbst weiß wohl,
Wie lästig sie auf meinem Haupte saß.
Dir fällt sie heim nunmehr mit beßrer Ruh’,
Mit beßrer Meinung, besserer Bestät’gung;
Denn jeder Flecken der Erlangung geht
Mit mir ins Grab. An mir erschien sie nur
Wie eine Ehr’, erhascht mit heft’ger Hand;
Und viele lebten noch, mir vorzurücken,
Daß ich durch ihren Beistand sie genommen,
Was täglich Zwist und Blutvergießen schuf,
Dem vorgegebnen Frieden Wunden schlagend.
All’ diese dreisten Schrecken, wie du siehst,
Hab’ ich bestanden mit Gefahr des Lebens;
Denn all’ mein Regiment war nur ein Auftritt,
Der diesen Inhalt spielte; nun verändert
Mein Tod die Weise; denn was ich erjagt,
Das fällt dir nun mit schönerm Anspruch heim,
Da du durch Erblichkeit die Krone trägst.
Und, stehst du sichrer schon als ich es konnte,
Du bist nicht fest genug, solang die Klagen
So frisch noch sind; und allen meinen Freunden,
Die du zu deinen Freunden machen mußt,
Sind Zahn’ und Stachel kürzlich nur entnommen,
Die durch gewaltsam Tun mich erst befördert,
Und deren Macht wohl Furcht erregen konnte
Vor neuer Absetzung; was zu vermeiden
Ich sie verdarb, und nun des Sinnes war,
Zum heil’gen Lande viele fortzuführen,
Daß Ruh’ und Stilleliegen nicht zu nah
Mein Reich sie prüfen ließ. Darum, mein Sohn,
Beschäft’ge stets die schwindlichten Gemüter
Mit fremdem Zwist, daß Wirken in der Fern’
Das Angedenken vor’ger Tage banne.
Mehr wollt’ ich, doch die Lung’ ist so erschöpft,
Daß kräft’ge Rede gänzlich mir versagt ist.
Wie ich zur Krone kam, o Gott! vergebe,
Daß sie bei dir in wahrem Frieden lebe!