§ 2. Notwendigkeit eines radikalen Neubeginns der Philosophie
So weit Descartes. Wir fragen nun: Lohnt es sich eigentlich, einer Ewigkeitsbedeutung dieser Gedanken nachzuspüren, sind sie noch geeignet, unserer Zeit lebendige Kräfte einzuflößen?
Bedenklich ist jedenfalls, daß die positiven Wissenschaften, die doch durch diese Meditationen eine absolute Begründung erfahren sollten, sich so wenig um sie gekümmert haben. Allerdings in unserer Zeit fühlen sie sich nach einer glänzenden Entwicklung von drei Jahrhunderten durch Unklarheiten ihrer Grundlagen sehr gehemmt. Aber es fällt ihnen nicht ein, bei den versuchten Neugestaltungen ihrer Grundlagen auf die Cartesianischen Meditationen zurückzugreifen. Andererseits wiegt es doch schwer, daß die Meditationen in einem ganz einzigen Sinne in der Philosophie Epoche gemacht haben, und zwar gerade durch ihren Rückgang auf das reine ego cogito. In der Tat, Descartes inauguriert eine völlig neuartige Philosophie: ihren gesamten Stil ändernd, nimmt sie eine radikale Wendung vom naiven Objektivismus zum transzendentalen Subjektivismus, der in immer neuen und doch immer unzulänglichen Versuchen auf eine notwendige Endgestalt hinzustreben scheint. Sollte also diese fortgehende Tendenz nicht einen Ewigkeitssinn in sich tragen, für uns eine große, von der Geschichte selbst uns auferlegte Aufgabe, an der mitzuarbeiten wir alle berufen sind?
Die Zersetzung der gegenwärtigen Philosophie in ihrer ratlosen Betriebsamkeit gibt uns zu denken. Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts ist gegenüber den vorangehenden Zeiten der Verfall unverkennbar. Als mit Anfang der Neuzeit der religiöse Glaube sich immer mehr in unlebendige Konvention veräußerlichte, erhob sich die intellektuelle Menschheit an dem neuen großen Glauben, dem an eine autonome Philosophie und Wissenschaft. Die gesamte Menschheitskultur sollte von wissenschaftlichen Einsichten geführt, durchleuchtet und dadurch zu einer neuen autonomen Kultur reformiert werden.
Aber inzwischen ist auch dieser Glaube in Unechtheit und Verkümmerung hineingeraten. Nicht ganz ohne Grund. Statt einer einheitlich-lebendigen Philosophie haben wir eine ins Uferlose wachsende, aber fast zusammenhangslose philosophische Literatur; statt einer ernsten Auseinandersetzung widerstreitender Theorien, die doch im Streit ihre innere Zusammengehörigkeit bekunden, ihre Gemeinsamkeit in den Grundüberzeugungen und einen unbeirrbaren Glauben an eine wahre Philosophie, haben wir ein Schein-Referieren und Schein-Kritisieren anstelle ernstlichen Miteinander- und Füreinanderphilosophierens. Es bezeugt sich darin keineswegs ein verantwortungsbewußtes wechselseitiges Studium im Geiste einer ernsten Zusammenarbeit und eines Absehens auf objektiv gültige Resultate. Objektiv gültige, — das besagt doch nichts anderes als durch wechselseitige Kritik geläuterte und jeder Kritik standhaltende Resultate. Aber wie wäre auch wirkliches Studium und wirkliche Zusammenarbeit möglich, wo es so viele Philosophen und fast ebenso viele Philosophien gibt? Wir haben zwar noch philosophische Kongresse — die Philosophen kommen zusammen, aber leider nicht die Philosophien. Ihnen fehlt die Einheit eines geistigen Raumes, in dem sie füreinander sein, aufeinander wirken könnten. Mag sein, daß es innerhalb einzelner Schulen oder Richtungen besser steht; aber bei ihrem Sein in Form der Vereinzelung und in Ansehung der gesamten philosophischen Gegenwart bleibt es doch im wesentlichen bei unserer Charakteristik.
Sind wir in dieser unseligen Gegenwart nicht in einer ähnlichen Situation, als welche Descartes in seiner Jugend vorgefunden hat? Ist es also nicht an der Zeit, seinen Radikalismus des anfangenden Philosophen zu erneuern, also auch die unübersehbare philosophische Literatur mit ihrem Durcheinander von großen Traditionen, von ernsteren Neuanhieben, von modischem literarischen Betrieb (der auf Eindruck rechnet, aber nicht auf Studium) einem cartesianischen Umsturz zu unterwerfen und mit neuen Meditationes de prima philosophia zu beginnen? Ist nicht am Ende die Trostlosigkeit unserer philosophischen Lage darauf zurückzuführen, daß die von jenen Meditationen ausstrahlenden Triebkräfte ihre ursprüngliche Lebendigkeit eingebüßt haben, und zwar eingebüßt, weil der Geist des Radikalismus philosophischer Selbstverantwortlichkeit verloren gegangen ist? Sollte die vermeintlich überspannte Forderung einer auf letzte erdenkliche Vorurteilslosigkeit abgestellten Philosophie, einer in wirklicher Autonomie aus letzten selbst erzeugten Evidenzen sich gestaltenden und sich von daher absolut selbst-verantwortenden Philosophie nicht vielmehr zum Grundsinn echter Philosophie gehören? Die Sehnsucht nach einer lebensvollen Philosophie hat in der neuesten Zeit zu mancherlei Renaissancen geführt. Sollte nicht die einzig fruchtbare Renaissance aber die sein, die die Cartesianischen Meditationen wiedererweckt: nicht sie zu übernehmen, sondern den tiefsten Sinn ihres Radikalismus im Rückgang auf das ego cogito allererst zu enthüllen und in weiterer Folge die von da entsprießenden Ewigkeitswerte?
Jedenfalls bezeichnet sich damit der Weg, der zur transzendentalen Phänomenologie geführt hat.
Diesen Weg wollen wir nun gemeinsam beschreiten, Cartesianisch wollen wir als radikal anfangende Philosophen Meditationen vollziehen, natürlich in äußerster kritischer Vorsicht und zu jeder notwendigen Umbildung der alt-Cartesianischen bereit. Verführerische Verirrungen, in die Descartes und die Folgezeit verfallen sind, müssen wir dabei aufklären und vermeiden.