Beschreibung eines Kampfes
I.
Und die Menschen gehn in Kleidern
schwankend auf dem Kies spazieren
unter diesem großen Himmel,
der von Hügeln in der Ferne
sich zu fernen Hügeln breitet.
Gegen zwölf Uhr standen schon einige Leute auf, verbeugten sich, reichten einander die Hände, sagten, es wäre sehr schön gewesen und giengen dann durch den großen Türrahmen ins Vorzimmer, sich anzukleiden. Die Hausfrau stand mitten in dem Zimmer und machte bewegliche Verbeugungen, während ihr Kleid gezierte Falten warf.
Ich saß an einem kleinen Tischchen – es hatte drei gespannte dünne Beine – nippte gerade an dem dritten Gläschen Benediktiner und übersah im Trinken zugleich meinen kleinen Vorrat von Backwerk, das ich selbst ausgesucht und aufgeschichtet hatte, denn es hatte einen feinen Geschmack.
Da kam mein neuer Bekannter zu mir und ein wenig zerstreut über meine Beschäftigung lächelnd sagte er mit zitternder Stimme: „Verzeihen Sie, daß ich zu Ihnen komme. Aber ich saß bis jetzt mit meinem Mädchen allein in einem Nebenzimmer. Von halb elf an, das ist noch gar nicht lange her. Verzeihen Sie, daß ich es Ihnen sage. Wir kennen ja einander nicht. Nicht wahr, auf der Treppe trafen wir einander und erzählten einander ein paar höfliche Worte und jetzt rede ich zu Ihnen schon von meinem Mädchen, aber Sie müssen mir – ich bitte – verzeihen, das Glück hält es nicht in mir aus, ich konnte mir nicht helfen. Und da ich sonst keine Bekannten hier habe, denen ich vertraue –.“
So redete er. Ich aber sah ihn traurig an, – denn das Stück Fruchtkuchen, das ich im Munde hatte, schmeckte nicht gut – und sagte in sein hübsch gerötetes Gesicht: „Ich bin froh darüber, daß ich Ihnen vertrauenswürdig scheine, aber traurig darüber, daß Sie es mir erzählten. Und Sie selbst – wären Sie nicht so verwirrt – würden es fühlen, wie unpassend es ist, einem der allein sitzt und Schnaps trinkt, von einem liebenden Mädchen zu erzählen.“
Als ich das gesagt hatte, setzte er sich mit einem Ruck nieder, legte sich zurück und ließ seine Arme hängen. Dann drückte er sie mit gespitztem Ellbogen zurück und begann mit ziemlich lauter Stimme vor sich hinzusprechen: „Wir sind dort ganz allein im Zimmer – gesessen – mit der Annerl und ich habe sie geküßt – geküßt – habe ich – sie – auf – ihren Mund, ihr Ohr, ihre Schultern –.“
Einige Herren, die in der Nähe standen und ein lebhaftes Gespräch vermuteten, kamen gähnend zu uns. Daher stand ich auf und sagte laut: „Gut, wenn Sie wollen, so gehe ich, aber es ist töricht, jetzt auf den Laurenziberg zu gehn, denn das Wetter ist noch kühl und da ein wenig Schnee gefallen ist, sind die Wege wie Schlittschuhbahnen. Aber wenn Sie wollen, gehe ich mit.“
Zuerst sah er mich staunend an und öffnete seinen Mund mit den breiten und roten nassen Lippen. Dann aber, als er die Herren sah, die schon ganz in der Nähe waren, lachte er, stand auf und sagte: „0 doch, die Kühle wird gut tun, unsere Kleider sind voll Hitze und Rauch, ich bin vielleicht auch ein wenig betrunken, ohne viel getrunken zu haben, ja, wir werden uns verabschieden und dann werden wir gehn.“
Also gingen wir zur Hausfrau und als er ihr die Hand küßte, sagte sie: „Wirklich, ich bin froh, daß Ihr Gesicht heute so glücklich ist, sonst ist es immer so ernst und gelangweilt.“ Die Güte dieser Worte rührte ihn und er küßte noch einmal ihre Hand; da lächelte sie.
Im Vorzimmer stand ein Stubenmädchen, wir sahen sie jetzt zum erstenmal. Sie half uns in die Überröcke und nahm dann eine kleine Handlampe, um uns über die Treppe zu leuchten. Ja, das Mädchen war schön. Ihr Hals war nackt und nur unter dem Kinn von einem schwarzen Sammtband umbunden und ihr lose bekleideter Körper war schön gebeugt, als sie vor uns die Treppe hinunterstieg die Lampe niederhaltend. Ihre Wangen waren gerötet, denn sie hatte Wein getrunken und ihre Lippen waren halbgeöffnet.
Unten an der Treppe stellte sie die Lampe auf eine Stufe nieder, ging ein wenig taumelnd auf meinen Bekannten zu und umarmte ihn und küßte ihn und blieb in der Umarmung. Erst als ich ihr ein Geldstück in die Hand legte, löste sie schläfrig ihre Arme von ihm, öffnete langsam das kleine Haustor und ließ uns in die Nacht.
Über der leeren, gleichmäßig erhellten Straße stand ein großer Mond in einem leicht bewölkten und dadurch weiter ausgebreiteten Himmel. Auf dem Boden lag ein zarter Schnee. Die Füße glitten aus beim Gehn, daher mußte man kleine Schritte tun.
Kaum waren wir ins Freie getreten, als ich offenbar in große Munterkeit geriet. Ich hob die Beine übermütig und ließ die Gelenke lustig knacken, ich rief über die Gasse einen Namen hin, als sei mir ein Freund um die Ecke entwischt, ich warf den Hut im Sprunge hoch und fieng ihn prahlerisch auf.
Mein Bekannter aber ging unbekümmert neben mir her. Er hielt den Kopf geneigt. Er redete auch nicht.
Das wunderte mich, denn ich hatte erwartet, seine Freude würde ihn toll machen, wenn die Gesellschaft nicht mehr um ihn wäre; ich wurde stiller. Gerade hatte ich ihm einen aufmunternden Schlag über den Rücken gegeben, als mich Scham ergriff, so daß ich meine Hand ungeschickt zurückzog. Da sie mir unnötig war, steckte ich sie in die Tasche meines Rockes.
Wir gingen also schweigend. Ich achtete darauf, wie unsere Schritte klangen und konnte nicht begreifen, daß es mir unmöglich war in gleichem Schritt mit meinem Bekannten zu bleiben. Es erregte mich ein wenig. Der Mond war klar, man konnte deutlich sehn. Hie und da lehnte jemand in einem Fenster und betrachtete uns.
Als wir in die Ferdinandsstraße kamen, bemerkte ich, daß mein Bekannter eine Melodie zu summen begann; es war ganz leise, aber ich hörte es. Ich fand, daß es für mich beleidigend sei. Warum sprach er nicht mit mir? Wenn er mich aber nicht nötig hatte, warum hatte er mich nicht in meiner Ruhe gelassen. Ich erinnerte mich ärgerlich an das gute süße Zeug, das ich seinetwegen auf meinem Tischchen liegen gelassen hatte. Ich erinnerte mich auch an den Benediktiner und wurde ein wenig lustiger, fast hochmütig kann man sagen. Ich stemmte die Hände in die Hüften und bildete mir ein, ich ginge selbstständig spazieren. Ich war in Gesellschaft gewesen, hatte einen undankbaren jungen Menschen vor Beschämung gerettet und ging jetzt im Mondlicht spazieren. Eine in ihrer Natürlichkeit grenzenlose Lebensweise. Den Tag über im Amt, Abends in Gesellschaft, in der Nacht auf den Gassen und nichts übers Maß.
Doch, mein Bekannter ging noch hinter mir, ja er beschleunigte sogar seinen Gang, als er merkte, daß er zurückgeblieben war und tat, als wäre das etwas Natürliches. Ich aber überlegte, ob es nicht vielleicht passend wäre, in eine Seitengasse einzubiegen, da ich doch zu einem gemeinsamen Spaziergang nicht verpflichtet war. Ich konnte allein nachhause gehn und keiner durfte mich hindern. In meinem Zimmer würde ich die Stehlampe anzünden, welche in dem eisernen Gestelle auf dem Tische ist, ich würde mich in meinen Armstuhl setzen, der auf dem zerrissenen morgenländischen Teppich steht. – Als ich soweit war, überfiel mich die Schwäche, die immer über mich kommt, sobald ich daran denken muß, wieder in meine Wohnung zu gehn und wieder Stunden allein zwischen den bemalten Wänden zu verbringen und auf dem Fußboden, welcher in dem an der Rückwand aufgehängten Goldrahmenspiegel schräg abfallend erscheint. Meine Beine wurden müde und schon war ich entschlossen auf jeden Fall nachhause zu gehn und mich in mein Bett zu legen, als mir der Zweifel kam, ob ich jetzt beim Weggehn meinen Bekannten grüßen solle oder nicht. Aber ich war zu furchtsam, um ohne Gruß wegzugehn und zu schwach, um laut rufend zu grüßen, daher blieb ich wieder stehn, stützte mich an eine mondbeschienene Häusermauer und wartete.
Mein Bekannter kam in fröhlichem Schritt und wohl auch ein wenig besorgt. Er machte große Anstalten, zwinkerte jetzt mit seinen Augenlidern, streckte die Arme wagrecht in die Luft, reckte heftig seinen Kopf, auf dem ein harter schwarzer Hut war, zu mir empor und schien mit alledem zeigen zu wollen, er verstehe den Scherz sehr gut zu würdigen, den ich zu seiner Belustigung hier vorführte. Ich war hilflos und sagte leise: „Heute ist ein lustiger Abend.“ Dabei gab ich ein mißlungenes Lachen von mir. Er antwortete: „Ja, und haben Sie gesehn, wie auch das Stubenmädchen mich küßte.“ Ich konnte nicht reden, denn mein Hals war voll Tränen, daher versuchte ich, wie ein Posthorn zu blasen, um nicht stumm zu bleiben. Er hielt sich zuerst die Ohren zu, dann schüttelte er freundlich dankend meine rechte Hand. Die muß sich kalt angefühlt haben, denn er ließ sie gleich los und sagte: „Ihre Hand ist sehr kalt, die Lippen des Stubenmädchens waren wärmer, o ja.“ Ich nickte verständig. Während ich aber den lieben Gott bat, mir Standhaftigkeit zu geben, sagte ich: „Ja, Sie haben recht, wir werden nachhause gehn, es ist spät und morgen früh habe ich Amt; bedenken Sie, man kann ja dort schlafen, aber es ist nicht das Rechte. Sie haben recht, wir werden nachhause gehn.“ Dabei reichte ich ihm die Hand, als sei die Sache endgiltig erledigt. Er aber ging lächelnd auf meine Redeweise ein: „Ja, Sie haben Recht, eine solche Nacht will nicht im Bette verschlafen sein. Bedenken Sie doch, wieviele glückliche Gedanken man mit der Bettdecke erstickt, wenn man allein in seinem Bette schläft und wieviel unglückliche Träume man mit ihr wärmt.“ Und aus Freude über diesen Einfall, faßte er vorn an der Brust – höher reichte er nicht – kräftig meinen Rock, und schüttelte mich mit Laune; dann kniff er seine Augen zusammen und sagte vertraulich: „Wissen Sie, wie Sie sind, komisch sind Sie.“ Dabei begann er weiter zu gehn und ich folgte ihm, ohne es zu merken, denn mich beschäftigte sein Ausspruch.
Zuerst freute es mich, denn es schien zu zeigen, daß er etwas in mir vermutete, was zwar nicht in mir war, aber mich bei ihm in Beachtung brachte dadurch, daß er es vermutete. Ein solches Verhältnis macht mich glücklich. Ich war zufrieden, nicht nachhause gegangen zu sein und mein Bekannter wurde für mich sehr wertvoll als einer, der mir vor den Menschen Wert gibt, ohne daß ich ihn erst erwerben muß! Ich sah meinen Bekannten mit liebevollen Augen an. In Gedanken schützte ich ihn gegen Gefahren, besonders gegen Nebenbuhler und eifersüchtige Männer. Sein Leben wurde mir teuerer als meines. Ich fand sein Gesicht schön, ich war stolz auf sein Glück bei den Frauenzimmern und ich nahm an den Küssen teil, die er an diesem Abend von den zwei Mädchen bekommen hatte. Oh, dieser Abend war lustig! Morgen wird mein Bekannter mit Fräulein Anna reden; gewöhnliche Dinge zuerst, wie es natürlich ist, aber dann wird er plötzlich sagen: „Gestern in der Nacht war ich mit einem Menschen beisammen, wie Du ihn liebes Annerl, sicher noch nie gesehen hast. Er sieht aus, – wie soll ich es beschreiben – wie eine Stange in baumelnder Bewegung auf die ein gelbhäutiger und schwarzbehaarter Schädel ein wenig ungeschickt aufgespießt ist. Sein Körper ist mit vielen, ziemlich kleinen, grellen, gelblichen Stoffstücken behängt, die ihn gestern vollständig bedeckten, denn in der Windstille dieser Nacht lagen sie glatt an. Er ging schüchtern neben mir. Du mein liebes Annerl, die Du so gut küssen kannst, ich weiß, Du hättest ein wenig gelacht und ein wenig Dich gefürchtet, ich aber, dessen Seele ganz zerflogen ist vor Liebe zu Dir, freute mich seiner Gegenwart. Er ist vielleicht unglücklich und darum schweigt er still und doch ist man neben ihm in einer glücklichen Unruhe, die nicht aufhört. Ich war ja gestern gebeugt von eigenem Glück, aber fast vergaß ich an Dich. Es war mir als höbe sich mit den Atemzügen seiner platten Brust die harte Wölbung des gestirnten Himmels. Der Horizont brach auf und unter entzündeten Wolken wurden Landschaften sichtbar endlos, so wie sie uns glücklich machen. – Mein Himmel, wie liebe ich Dich Annerl und Dein Kuß ist mir lieber als eine Landschaft. Reden wir nicht mehr von ihm und haben wir einander lieb.“
Als wir dann mit langsamen Schritten den Quai betraten, beneidete ich zwar meinen Bekannten um die Küsse, aber ich empfand auch mit Fröhlichkeit die innere Beschämung, die er mir gegenüber, so wie ich ihm erschien, wohl fühlen mußte.
So dachte ich. Aber meine Gedanken verwirrten sich damals, denn die Moldau und die Stadtviertel am andern Ufer lagen in einem Dunkel. Nur einige Lichter brannten und spielten mit den schauenden Augen.
Wir standen am Geländer. Ich zog meine Handschuhe an, denn vom Wasser wehte es kalt; dann seufzte ich ohne Grund auf, wie man es vor einem Fluß in der Nacht wohl tun mag, und wollte weiter gehn. Aber mein Bekannter schaute ins Wasser und rührte sich gar nicht. Dann trat er noch näher an das Geländer, stützte die Arme mit den Ellenbogen auf das Eisen nieder und legte die Stirne in seine Hände. Das schien mir töricht. Ich fror und stülpte meinen Rockkragen in die Höhe. Mein Bekannter streckte sich und legte den Oberkörper, der jetzt auf seinen gespannten Armen ruhte, über das Geländer. Beschämt beeilte ich mich zu reden, um mein Gähnen zu unterdrücken: „Nicht wahr, es ist doch merkwürdig daß gerade die Nacht nur imstande ist, uns ganz in Erinnerungen zu tauchen. Jetzt zum Beispiel erinnere ich mich an dieses: Einmal saß ich auf einer Bank am Ufer eines Flusses am Abend in verrenkter Haltung. Ich sah, den Kopf auf den Arm gelegt, der auf der hölzernen Lehne der Bank auflag, die wolkenhaften Berge des andern Ufers und hörte eine zarte Geige, die jemand im Strandhotel spielte. Auf beiden Ufern fuhren hin und wieder schiebende Züge mit erglänzendem Rauch.“ – So redete ich und suchte krampfhaft hinter den Worten Liebesgeschichten mit merkwürdigen Lagen zu erfinden; auch ein wenig Roheit und feste Notzucht brauchte nicht zu fehlen.
Aber ich brachte kaum die ersten Worte vor, als mein Bekannter gleichgültig und bloß überrascht darüber, mich noch hier zu sehn – so schien es mir – sich zu mir wandte und sagte: „Sehen Sie, so kommt es immer. Als ich heute die Treppe hinunterstieg, um noch einen Abendspaziergang zu machen, ehe ich in die Gesellschaft gehen mußte, wunderte ich mich, wie meine rötlichen Hände in den weißen Manschetten hin und herschlenkerten und wie sie es mit ungewohnter Munterkeit taten. Da erwartete ich Abenteuer. So kommt es immer.“ Dieses sagte er schon im Gehn, nur beiläufig, als eine kleine Beobachtung.
Mich aber rührte es sehr und es wurde mir schmerzlich, daß ihm vielleicht meine lange Gestalt unangenehm sein könnte, neben der er vielleicht zu klein erschien. Und dieser Umstand quälte mich, trotzdem es doch Nacht war und wir fast niemandem begegneten, doch so sehr, daß ich meinen Rücken so gebückt machte, daß meine Hände im Gehn meine Knie berührten. Damit aber mein Bekannter meine Absicht nicht merke, veränderte ich meine Haltung nur ganz allmählich mit großer Vorsicht und suchte seine Aufmerksamkeit von mir abzulenken durch Bemerkungen über die Bäume der Schützeninsel und über die Spiegelung der Brückenlampen im Flusse. Aber mit plötzlicher Wendung drehte er sein Gesicht mir zu und sagte nachsichtig: „Warum gehen Sie denn so? Sie sind ja jetzt ganz gebückt und fast so klein, wie ich.“
Da er das gütig gesagt hatte, antwortete ich: „Das mag sein. Aber mir ist diese Haltung angenehm. Ich bin ziemlich schwächlich, wissen Sie, und es kommt mir zu schwer an, meinen Körper aufrecht zu erhalten. Das ist keine Kleinigkeit; ich bin sehr lang –.“
Er sagte ein wenig mißtrauisch: „Das ist doch bloß eine Laune. Sie gingen doch früher ganz aufrecht, glaube ich und auch in der Gesellschaft hielten Sie sich doch leidlich. Sie tanzten sogar oder nicht? Nein? Aber aufrecht gingen Sie doch und das werden Sie jetzt auch noch können.“
Ich antwortete beharrlich und mit der Hand abwehrend: „Ja, ja ich ging aufrecht. Aber Sie unterschätzen mich. Ich weiß, was gutes Benehmen ist und darum gehe ich gebückt.“
Aber ihm schien es nicht einfach, sondern verwirrt von seinem Glück verstand er den Zusammenhang meiner Worte nicht und sagte nur: „Nun, wie Sie wollen“ und schaute zur Uhr des Mühlenturmes auf, die schon fast ein Uhr zeigte.
Ich aber sagte zu mir: „Wie herzlos ist dieser Mensch! Wie bezeichnend und deutlich ist seine Gleichgültigkeit gegen meine demütigen Worte! Er ist eben glücklich und das ist die Art der Glücklichen, alles natürlich zu finden, was um sie geschieht. Ihr Glück stellt einen glanzvollen Zusammenhang her. Und wenn ich jetzt ins Wasser gesprungen wäre oder wenn mich jetzt vor ihm Krämpfe zerreißen hier auf dem Pflaster unter diesem Bogen immer würde ich mich friedlich seinem Glück einfügen. Ja, wenn er in die Laune käme – ein Glücklicher ist so gefährlich, das ist unzweifelhaft – würde er mich auch todtschlagen wie ein Straßenmörder. Das ist sicher und da ich feig bin, würde ich vor Schrecken nicht einmal zu schreien wagen. – Um Gotteswillen!“ – Ich sah mich in Angst um. Vor einem entfernten Kaffeehaus mit rechteckigen schwarzen Scheiben ließ sich ein Schutzmann über das Pflaster gleiten. Sein Säbel behinderte ihn ein wenig, er nahm ihn in die Hand und nun ging es viel hübscher. Und als ich ihn bei der mäßigen Entfernung auch noch schwach juchzen hörte, da war ich überzeugt, daß er mich nicht retten würde, wenn mich mein Bekannter totschlagen wollte.
Aber jetzt wußte ich auch, was ich tun mußte, denn gerade vor schrecklichen Ereignissen überkommt mich große Entschlossenheit. Ich mußte weglaufen. Es war ganz leicht. Jetzt beim Einbug zur Karlsbrücke nach links konnte ich nach rechts in die Karlsgasse springen. Sie war winklig, es gab dort dunkle Haustore und Weinstuben die noch offen waren; ich mußte nicht verzweifeln.
Als wir unter dem Bogen am Ende des Quais hervortraten, rannte ich mit erhobenen Armen in die Gasse; doch als ich gerade zu einer kleinen Türe der Kirche kam, fiel ich, denn dort war eine Stufe die ich nicht gesehen hatte. Es krachte. Die nächste Laterne war entfernt, ich lag im Dunkel. Aus einer Weinstube gegenüber kam ein dickes Weib mit einem rauchigen Lämpchen heraus, um nachzusehn was auf der Gasse geschehen war. Das Klavierspiel hörte auf und ein Mann öffnete die jetzt halboffene Tür völlig. Er spie großartig auf eine Stufe und während er das Frauenzimmer zwischen den Brüsten kitzelte, sagte er, das was geschehen sei, sei jedenfalls ohne Bedeutung. Sie drehten sich darauf um und die Türe wurde wieder zugemacht.
Als ich aufzustehn versuchte, fiel ich wieder. „Es ist Glatteis“, sagte ich und verspürte einen Schmerz im Knie. Aber doch freute es mich, daß die Leute aus der Weinstube mich nicht sehen konnten und es schien mir daher das Bequemste hier bis zur Dämmerung liegen zu bleiben.
Mein Bekannter war wohl allein bis zur Brücke gegangen, ohne meinen Abschied bemerkt zu haben, denn er kam erst nach einer Weile zu mir. Ich sah nicht, daß er erstaunt war, als er sich mitleidig zu mir bückte und mich mit weicher Hand streichelte. Er fuhr an meinen Wangenknochen auf und nieder und legte dann zwei dicke Finger an meine niedrige Stirn: „Sie haben sich weh getan, nicht? Es ist Glatteis und man muß vorsichtig sein – der Kopf schmerzt Sie? Nein? ach das Knie, so.“ Er sprach in einem singenden Ton, als ob er eine Geschichte erzähle und eine sehr angenehme Geschichte überdies von einem sehr entfernten Schmerz in einem Knie. Er bewegte auch seine Arme, aber er dachte nicht daran mich aufzuheben. Ich stützte den Kopf auf meine rechte Hand – der Ellbogen lag auf einem Pflasterstein – und sagte schnell, damit ich es nicht vergäße: „Ich weiß nicht eigentlich, warum ich nach rechts lief. Doch ich sah unter den Lauben dieser Kirche – ich weiß nicht, wie sie heißt, oh, bitte, verzeihen Sie – eine Katze laufen. Eine kleine Katze und sie hatte ein helles Fell. Daher bemerkte ich sie. – Oh nein, das war es nicht, entschuldigen Sie, aber es ist genügende Mühe sich den Tag über zu beherrschen. Man schläft eben um sich zu dieser Mühe zu kräftigen, schläft man aber nicht, dann geschehn nicht selten zwecklose Dinge mit uns, aber es wäre unhöflich von unsern Begleitern sich darüber laut zu wundern.“
Mein Bekannter hatte die Hände in den Taschen und sah über die leere Brücke hin, dann zur Kreuzherrenkirche und dann auf zum Himmel, der klar war. Da er mir nicht zugehört hatte, sagte er dann ängstlich: „Ja, warum reden Sie denn nicht mein Lieber; ist Ihnen schlecht – ja warum stehn Sie denn eigentlich nicht auf – es ist doch kalt hier, Sie werden sich verkühlen und dann wollten wir doch auf den Laurenziberg.“
„Natürlich“, sagte ich, „verzeihen Sie“ und ich stand allein auf, aber mit starkem Schmerz. Ich schwankte und mußte das Standbild Karl des Vierten fest ansehn um meines Standpunktes sicher zu sein. Aber das Mondlicht war ungeschickt und brachte auch Karl den Vierten in Bewegung. Ich staunte darüber und meine Füße wurden viel kräftiger aus Angst, Karl der Vierte möchte umstürzen, wenn ich nicht in beruhigender Haltung wäre. Später schien mir meine Anstrengung nutzlos, denn Karl der Vierte fiel doch herunter, gerade als es mir einfiel, daß ich geliebt würde von einem Mädchen in einem schönen weißen Kleid.
Unnützes tue ich und versäume viel. Wie glücklich war dieser Einfall, das Mädchen betreffend! – Und lieb war es da vom Mond, daß er auch mich beschien und ich wollte aus Bescheidenheit mich unter die Wölbung des Brückenturmes stellen, als ich einsah, daß es doch bloß natürlich sei, daß der Mond alles bescheine. Daher breitete ich mit Freude meine Arme aus, um den Mond ganz zu genießen. – Da fiel mir der Vers ein:
Ich sprang durch die Gassen
wie ein betrunkener Läufer
stampfend durch Luft
und es wurde mir leicht, als ich Schwimmbewegungen mit den lässigen Armen machend ohne Schmerz und Mühe vorwärtskam. Mein Kopf lag gut in kühler Luft und die Liebe des weißgekleideten Mädchens brachte mich in trauriges Entzücken, denn es schien mir als schwimme ich von der Verliebten und auch von den wolkenhaften Bergen ihrer Gegend weg. – Und ich erinnerte mich, daß ich einmal einen glücklichen Bekannten, der jetzt noch vielleicht neben mir ging, gehaßt hatte und es freute mich, daß mein Gedächtnis so gut war, daß es selbst so nebensächliche Dinge bewahrte. Denn das Gedächtnis hat viel zu tragen. So kannte ich mit einem Male alle die vielen Sterne bei Namen, trotzdem ich es niemals gelernt hatte. Ja, es waren merkwürdige Namen, schwer zu behalten, aber ich wußte sie alle und sehr genau. Ich gab meinen Zeigefinger in die Höhe und nannte die Namen der einzelnen laut. – Ich kam aber nicht weit mit dem Nennen der Sterne, denn ich mußte weiterschwimmen, wollte ich nicht zusehr untertauchen. Aber damit man mir später nicht sagen könnte, über dem Pflaster könnte jeder schwimmen und es sei nicht des Erzählens wert, erhob ich mich durch ein Tempo über das Geländer und umkreiste schwimmend jede Heiligenstatue, der ich begegnete. – Bei der fünften, als ich mich gerade mit überlegenen Schlägen über dem Pflaster hielt, faßte mein Bekannter meine Hand. Da stand ich wieder auf dem Pflaster und fühlte einen Schmerz im Knie. Ich hatte die Namen der Sterne vergessen und von dem lieben Mädchen wußte ich nur, daß sie ein weißes Kleid getragen hatte, aber ich konnte mich gar nicht mehr erinnern, welche Gründe ich gehabt hatte, an die Liebe des Mädchens zu glauben. Es erhob sich in mir ein großer und so begründeter Zorn gegen mein Gedächtnis und Angst, ich könnte das Mädchen verlieren. Und so wiederholte ich angestrengt und unaufhörlich „weißes Kleid, weißes Kleid“ um wenigstens durch dieses eine Zeichen mir das Mädchen zu erhalten. Aber das hat nichts geholfen. Mein Bekannter drängte sich mit seinen Reden immer näher zu mir und in dem Augenblick, als ich anfieng seine Worte zu verstehn, hüpfte ein weißer Schimmer zierlich am Brückengeländer entlang, strich durch den Brückenturm und sprang in die dunkle Gasse.
„Immer liebte ich“, sagte mein Bekannter auf die Statue der heiligen Ludmila zeigend, „die Hände dieses Engels, links. Ihre Zartheit ist ohne Grenzen und die Finger, die sich aufspannen, zittern. Aber von heute abend an sind mir diese Hände gleichgültig, das kann ich sagen, denn ich küßte Hände –.“ Da umarmte er mich küßte meine Kleider und stieß mit seinem Kopf gegen meinen Leib.
Ich sagte: „Ja, ja. Ich glaube das. Ich zweifle nicht“ und dabei zwickte ich ihn mit meinen Fingern soweit er sie freiließ in seine Waden. Aber er spürte es nicht. Da sagte ich zu mir: „Warum gehst Du mit diesem Menschen Du liebst ihn nicht und Du hassest ihn auch nicht, denn sein Glück besteht nur in einem Mädchen und es ist nicht einmal sicher, daß sie ein weißes Kleid trägt. Also ist Dir dieser Mensch gleichgültig – wiederhole es – gleichgültig. Er ist aber auch ungefährlich, wie es sich erwiesen hat. Also geh mit ihm zwar weiter auf den Laurenziberg, denn Du bist schon auf dem Wege in schöner Nacht, aber laß ihn reden und vergnüge Dich auf Deine Weise, dadurch – sage es leise – schützt Du Dich auch am besten.“