Ein Asyl
Es mußte wohl eine entlegene Vorstadtstraße sein, in der das Automobil haltmachte, denn ringsherum herrschte Stille, am Trottoirrand hockten Kinder und spielten. Ein Mann mit einer Menge alter Kleider über den Schultern rief beobachtend zu den Fenstern der Häuser empor. In seiner Müdigkeit fühlte sich Karl unbehaglich, als er aus dem Automobil auf den Asphalt trat, den die Vormittagssonne warm und hell beschien.
„Wohnst du wirklich hier?“ rief er ins Automobil hinein.
Robinson, der während der ganzen Fahrt friedlich geschlafen hatte, brummte irgendeine undeutliche Bejahung und schien darauf zu warten, daß Karl ihn hinaustragen werde.
„Dann habe ich hier also nichts mehr zu tun. Leb wohl“, sagte Karl und machte sich daran, die ein wenig sich senkende Straße abwärts zu gehen.
„Aber Karl, was fällt dir denn ein?“ rief Robinson und stand schon vor lauter Sorge ziemlich aufrecht, nur mit noch etwas unruhigen Knien, im Wagen.
„Ich muß doch gehen“, sagte Karl, der der raschen Gesundung Robinsons zugesehen hatte.
„In Hemdärmeln?“ fragte dieser.
„Ich werde mir schon noch einen Rock verdienen“, antwortete Karl, nickte Robinson zuversichtlich zu, grüßte mit erhobener Hand und wäre wirklich fortgegangen, wenn nicht der Chauffeur gerufen hätte: „Noch einen kleinen Augenblick Geduld, mein Herr!“
Es zeigte sich unangenehmerweise, daß der Chauffeur noch Ansprüche auf eine nachträgliche Bezahlung stellte, denn die Wartezeit vor dem Hotel war noch nicht bezahlt.
„Nun ja“, rief aus dem Automobil Robinson in Bestätigung der Richtigkeit dieser Forderung, „ich habe ja dort so lange auf dich warten müssen. Etwas mußt du ihm noch geben.“
„Ja, freilich“, sagte der Chauffeur.
„Ja, wenn ich nur noch etwas hätte“, sagte Karl und griff in die Hosentaschen, obwohl er wußte, daß es nutzlos war.
„Ich kann mich nur an Sie halten“, sagte der Chauffeur und stellte sich breitbeinig auf, „von dem kranken Mann dort kann ich nichts verlangen.“
Vom Tor her näherte sich ein junger Bursch mit zerfressener Nase und hörte aus einer Entfernung von einigen Schritten zu. Gerade machte durch die Straße ein Polizeimann die Runde, faßte mit gesenktem Gesicht den hemdärmeligen Menschen ins Auge und blieb stehen.
Robinson, der den Polizeimann auch bemerkt hatte, machte die Dummheit, aus dem anderen Fenster ihm zuzurufen: „Es ist nichts, es ist nichts!“, als ob man einen Polizeimann wie eine Fliege verscheuchen könnte. Die Kinder, welche den Polizeimann beobachtet hatten, wurden nun durch sein Stillstehen auch auf Karl und den Chauffeur aufmerksam und liefen im Trab herbei. Im Tor gegenüber stand eine alte Frau und sah starr hinüber.
„Roßmann!“ rief da eine Stimme aus der Höhe. Es war Delamarche, der das vom Balkon des letzten Stockwerks rief. Er selbst war nur schon recht undeutlich gegen den weißlich blauen Himmel zu sehen, hatte offenbar einen Schlafrock an und beobachtete mit einem Operngucker die Straße. Neben ihm war ein roter Sonnenschirm aufgespannt, unter dem eine Frau zu sitzen schien. „Halloh!“ rief er mit größter Anstrengung, um sich verständlich zu machen, „ist Robinson auch da?“
„Ja“, antwortete Karl, von einem zweiten, viel lauteren „Ja“ Robinsons aus dem Wagen kräftig unterstützt.
„Halloh!“ rief es zurück, „ich komme gleich!“
Robinson beugte sich aus dem Wagen.
„Das ist ein Mann“, sagte er, und dieses Lob Delamarches war an Karl gerichtet, an den Chauffeur, an den Polizeimann und an jeden, der es hören wollte. Oben auf dem Balkon, den man aus Zerstreutheit noch ansah, obwohl ihn Delamarche schon verlassen hatte, erhob sich nun unter dem Sonnenschirm tatsächlich eine starke Frau in rotem, taillenlosem Kleid, nahm den Operngucker von der Brüstung und sah durch ihn auf die Leute hinunter, die nur allmählich die Blicke von ihr wandten. Karl sah in Erwartung Delamarches in das Haustor und weiterhin in den Hof, den eine fast ununterbrochene Reihe von Geschäftsdienern durchquerte, von denen jeder eine kleine, aber offenbar sehr schwere Kiste auf der Achsel trug. Der Chauffeur war zu seinem Wagen getreten und putzte, um die Zeit auszunützen, mit einem Fetzen die Wagenlaternen. Robinson befühlte seine Gliedmaßen, schien erstaunt über die geringen Schmerzen zu sein, die er trotz größter Aufmerksamkeit fühlen konnte, und begann vorsichtig, mit tief geneigtem Gesicht, einen der dicken Verbände am Bein zu lösen. Der Polizeimann hielt sein schwarzes Stöckchen quer vor sich und wartete still, mit der großen Geduld, die Polizeileute haben müssen, ob sie nun im gewöhnlichen Dienst oder auf der Lauer sind. Der Bursche mit der zerfressenen Nase setzte sich auf einen Torstein und streckte die Beine von sich. Die Kinder näherten sich Karl allmählich mit kleinen Schritten, denn dieser schien ihnen, obwohl er sie nicht beachtete, wegen seiner blauen Hemdärmel der wichtigste von allen zu sein.
An der Länge der Zeit, die bis zur Ankunft Delamarches verging, konnte man die große Höhe dieses Hauses ermessen. Und Delamarche kam sogar sehr eilig, mit nur flüchtig zugezogenem Schlafrock.
„Also, da seid ihr!“ rief er erfreut und streng zugleich. Bei seinen großen Schritten enthüllte sich stets für einen Augenblick seine farbige Unterkleidung. Karl begriff nicht ganz, warum Delamarche hier, in der Stadt, in der riesigen Mietskaserne, auf der offenen Straße, so bequem angezogen herumging, als sei er in seiner Privatvilla. Ebenso wie Robinson hatte auch Delamarche sich sehr verändert. Sein dunkles, glatt rasiertes, peinlich reines, von roh ausgearbeiteten Muskeln gebildetes Gesicht sah stolz und respekteinflößend aus. Der grelle Schein seiner jetzt immer etwas zusammengezogenen Augen überraschte. Sein violetter Schlafrock war zwar alt, fleckig und für ihn zu groß, aber aus diesem häßlichen Kleidungsstück bauschte sich oben eine mächtige, dunkle Krawatte aus schwerer Seide.
„Nun?“ fragte er alle insgesamt. Der Polizeimann trat ein wenig näher und lehnte sich an den Motorkasten des Automobils. Karl gab eine kleine Erklärung.
„Robinson ist ein wenig marod, aber wenn er sich Mühe gibt, wird er schon die Treppen hinaufgehen können; der Chauffeur hier will noch eine Nachzahlung zum Fahrgeld, das ich schon bezahlt habe. Und jetzt gehe ich. Guten Tag.“
„Du gehst nicht“, sagte Delamarche.
„Ich habe es ihm auch schon gesagt“, meldete sich Robinson aus dem Wagen.
„Ich gehe doch“, sagte Karl und machte ein paar Schritte. Aber Delamarche war schon hinter ihm und schob ihn mit Gewalt zurück.
„Ich sage, du bleibst!“ rief er.
„Aber laßt mich doch“, sagte Karl und machte sich bereit, wenn es nötig sein sollte, mit den Fäusten sich die Freiheit zu verschaffen, so wenig Aussicht auf Erfolg gegenüber einem Mann wie Delamarche auch war. Aber da stand doch der Polizeimann, da war der Chauffeur, hie und da gingen Arbeitergruppen durch die sonst freilich ruhige Straße; würde man es denn dulden, daß ihm von Delamarche ein Unrecht geschehe? In einem Zimmer hätte er mit ihm nicht allein sein wollen, aber hier? Delamarche zahlte jetzt ruhig dem Chauffeur, der unter vielen Verbeugungen den unverdient großen Betrag einsteckte und aus Dankbarkeit zu Robinson ging und mit diesem offenbar darüber sprach, wie er am besten herausbefördert werden könnte. Karl sah sich unbeobachtet, vielleicht duldete Delamarche ein stillschweigendes Fortgehen leichter; wenn Streit vermieden werden konnte, war es natürlich am besten, und so ging Karl einfach in die Fahrbahn hinein, um möglichst rasch wegzukommen. Die Kin der strömten zu Delamarche, um ihn auf Karls Flucht aufmerksam zu machen, aber er mußte selbst gar nicht eingreifen, denn der Polizeimann sagte mit vorgestrecktem Stabe „Halt!“ „Wie heißt du?“ fragte er, schob den Stab unter den Arm und zog langsam ein Buch hervor. Karl sah ihn jetzt zum erstenmal genauer an, es war ein kräftiger Mann, hatte aber schon fast ganz weißes Haar.
„Karl Roßmann“, sagte er.
„Roßmann“, wiederholte der Polizeimann, zweifellos nur, weil er ein ruhiger und gründlicher Mensch war, aber Karl, der es hier eigentlich zum erstenmal mit amerikanischen Behörden zu tun bekam, sah schon in dieser Wiederholung das Aussprechen eines gewissen Verdachtes. Und tatsächlich konnte seine Sache nicht gut stehen, denn selbst Robinson, der doch so sehr mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt war, bat aus dem Wagen heraus mit stummen lebhaften Handbewegungen den Delamarche, er möge Karl doch helfen. Aber Delamarche wehrte ihn mit hastigem Kopfschütteln ab und sah untätig zu, die Hände in seinen übergroßen Taschen. Der Bursche auf dem Türstein erklärte einer Frau, die jetzt erst aus dem Tore trat, den ganzen Sachverhalt von allem Anfang an. Die Kinder standen in einem Halbkreis hinter Karl und sahen still zum Polizeimann hinauf.
„Zeig deine Ausweispapiere“, sagte der Polizeimann. Das war wohl nur eine formelle Frage; denn wenn man keinen Rock hat, wird man auch nicht viel Ausweispapiere bei sich haben. Karl schwieg deshalb, um lieber auf die nächste Frage ausführlich zu antworten und so den Mangel der Ausweispapiere möglichst zu vertuschen.
Aber die nächste Frage war: „Du hast also keine Ausweispapiere?“ und Karl mußte antworten: „Bei mir nicht.“
„Das ist aber schlimm“, sagte der Polizeimann, sah nachdenklich im Kreise umher und klopfte mit zwei Fingern auf den Deckel seines Buches.
„Hast du irgendeinen Verdienst?“ fragte der Polizeimann schließlich.
„Ich war Liftjunge“, sagte Karl.
„Du warst Liftjunge, bist es also nicht mehr, und wovon lebst du denn jetzt?“
„Jetzt werde ich mir eine neue Arbeit suchen.“
„Ja, bist du denn entlassen worden?“
„Ja, vor einer Stunde.“
„Plötzlich?“
„Ja“, sagte Karl und hob wie zur Entschuldigung die Hand. Die ganze Geschichte konnte er hier nicht erzählen, und wenn es auch möglich gewesen wäre, so schien es doch ganz aussichtslos, ein drohendes Unrecht durch Erzählung eines erlittenen Unrechts abzuwehren. Und wenn er sein Recht nicht von der Güte der Oberköchin und von der Einsicht des Oberkellners erhalten hatte, von der Gesellschaft hier auf der Straße hatte er es gewiß nicht zu erwarten.
„Und ohne Rock bist du entlassen worden?“ fragte der Polizeimann.
„Nun ja“, sagte Karl; also auch in Amerika gehörte es zur Art der Behörden, das, was sie sahen, noch eigens zu fragen. (Wie hatte sein Vater bei der Beschaffung des Reisepasses über die nutzlosen Fragereien der Behörden sich ärgern müssen!) Karl hatte große Lust wegzulaufen, sich irgendwo zu verstecken und keine Fragen mehr anhören zu müssen. Und nun stellte gar der Polizeimann jene Frage, vor der sich Karl am meisten gefürchtet und in deren unruhiger Voraussicht er sich bisher wahrscheinlich unvorsichtiger benommen hatte, als es sonst geschehen wäre.
„In welchem Hotel warst du denn angestellt?“
Er senkte den Kopf und antwortete nicht, auf diese Frage wollte er unbedingt nicht antworten. Es durfte nicht geschehen, daß er, von einem Polizeimann eskortiert, wieder ins Hotel Occidental zurückkäme, daß dort Verhöre stattfanden, zu denen seine Freunde und Feinde bei gezogen würden, daß die Oberköchin ihre schon sehr schwach gewordene gute Meinung über Karl gänzlich aufgab, da sie ihn, den sie in der Pension Brenner vermutete, von einem Polizeimann aufgegriffen, in Hemdärmeln, ohne ihre Visitenkarte, zurückgekehrt fand, während der Oberkellner vielleicht nur voll Verständnis nicken und der Oberportier dagegen von der Hand Gottes sprechen würde, die den Lumpen endlich gefunden habe.
„Er war im Hotel Occidental angestellt“, sagte Delamarche und trat an die Seite des Polizeimannes.
„Nein“, rief Karl und stampfte mit dem Fuße auf, „es ist nicht wahr!“ Delamarche sah ihn mit spöttisch zugespitztem Munde an, als könne er noch ganz andere Dinge verraten. Unter die Kinder brachte die unerwartete Aufregung Karls große Bewegung, und sie zogen zu Delamarche hin, um lieber von dort aus Karl genau anzusehen. Robinson hatte den Kopf völlig aus dem Wagen gesteckt und verhielt sich vor Spannung ganz ruhig; hie und da ein Augenzwinkern war seine einzige Bewegung. Der Bursche im Tor schlug in die Hände vor Vergnügen, die Frau neben ihm gab ihm einen Stoß mit dem Ellbogen, damit er ruhig sei. Die Gepäckträger hatten gerade Frühstückspause und erschienen sämtlich, mit großen Töpfen schwarzen Kaffees, in dem sie mit Stangenbroten herumführten. Einige setzten sich auf den Trottoirrand, alle schlürften den Kaffee sehr laut.
„Sie kennen wohl den Jungen?“ fragte der Polizeimann den Delamarche.
„Besser, als mir lieb ist“, sagte dieser.
„Ich habe ihm seinerzeit viel Gutes getan, er aber hat sich dafür sehr schlecht bedankt, was Sie wohl, selbst nach dem ganz kurzen Verhör, das Sie mit ihm angestellt haben, leicht begreifen werden.“
„Ja“, sagte der Polizeimann „er scheint ein verstockter Junge zu sein.“
„Das ist er“, sagte Delamarche, „aber es ist das noch nicht seine schlechteste Eigenschaft“.
„So?“ sagte der Polizeimann.
„Ja“, sagte Delamarche, der nun im Reden war und dabei mit den Händen in den Taschen seinen ganzen Mantel in schwingende Bewegung brachte, „das ist ein feiner Hecht. Ich und mein Freund dort im Wagen, wir haben ihn zufällig im Elend aufgegriffen, er hatte damals keine Ahnung von amerikanischen Verhältnissen, er kam gerade aus Europa, wo man ihn auch nicht hatte brauchen können; nun, wir schleppten ihn mit uns, ließen ihn mit uns leben, erklärten ihm alles, wollten ihm einen Posten verschaffen, dachten, trotz allen Anzeichen, die dagegen sprachen, noch einen brauchbaren Menschen aus ihm zu machen, da verschwand er einmal in der Nacht, war einfach weg, und das unter Begleitumständen, die ich lieber verschweigen will. War es so oder nicht?“ fragte Delamarche schließlich und zupfte Karl am Hemdärmel.
„Zurück, ihr Kinder!“ rief der Polizeimann, denn diese hatten sich so weit vorgedrängt, daß Delamarche fast über eines gestolpert wäre. Inzwischen waren auch die Gepäckträger, die bisher die Interessantheit dieses Verhörs unterschätzt hatten, aufmerksam geworden und hatten sich in dichtem Ring hinter Karl versammelt, der nun auch nicht einen Schritt hätte zurücktreten können und überdies unaufhörlich in den Ohren das Durcheinander der Stimmen dieser Gepäckträger hatte, die in einem gänzlich unverständlichen, vielleicht mit slawischen Worten untermischten Englisch mehr polterten als redeten.
„Danke für die Auskunft“, sagte der Polizeimann und salutierte vor Delamarche. „Jedenfalls werde ich ihn mitnehmen und dem Hotel Occidental zurückgeben lassen.“ Aber Delamarche sagte: „Dürfte ich die Bitte stellen, mir den Jungen vorläufig zu überlassen, ich hätte einiges mit ihm in Ordnung zu bringen. Ich verpflichte mich, ihn dann selbst ins Hotel zurückzuführen.“
„Das kann ich nicht tun“, sagte der Polizeimann.
Delamarche sagte: „Hier ist meine Visitenkarte“, und reichte ihm ein Kärtchen.
Der Polizeimann sah es anerkennend an, sagte aber, verbindlich lächelnd: „Nein, es ist vergeblich.“
So sehr sich Karl bisher vor Delamarche gehütet hatte, jetzt sah er in ihm die einzig mögliche Rettung. Es war zwar verdächtig, wie sich dieser beim Polizeimann um Karl bewarb, aber jedenfalls würde sich Delamarche leichter als der Polizeimann bewegen lassen, ihn nicht ins Hotel zurückzuführen. Und selbst wenn Karl an der Hand des Delamarche ins Hotel zurückkam, so war es viel weniger schlimm, als wenn es in Begleitung des Polizeimannes geschah. Vorläufig aber durfte natürlich Karl nicht zu erkennen geben, daß er tatsächlich zu Delamarche wollte, sonst war alles verloren. Und unruhig sah er auf die Hand des Polizeimannes, die sich jeden Augenblick erheben konnte, um ihn zu fassen.
„Ich müßte doch wenigstens erfahren, warum er plötzlich entlassen worden ist“, sagte schließlich der Polizeimann, während Delamarche mit verdrießlichem Gesicht beiseite sah und die Visitenkarte zwischen den Fingerspitzen zerdrückte.
„Aber er ist doch gar nicht entlassen!“ rief Robinson zu allgemeiner Überraschung und beugte sich, auf den Chauffeur gestützt, möglichst weit aus dem Wagen. „Im Gegenteil, er hat ja dort einen guten Posten. Im Schlafsaal ist er der oberste und kann hineinführen, wen er will. Nur ist er riesig beschäftigt, und wenn man etwas von ihm haben will, muß man lange warten. Immerfort steckt er beim Oberkellner, bei der Oberköchin und ist Vertrauensperson. Entlassen ist er auf keinen Fall. Ich weiß nicht, warum er das gesagt hat. Wie kann er denn entlassen sein? Ich habe mich im Hotel schwer verletzt, und da hat er den Auftrag bekommen, mich nach Hause zu schaffen, und weil er gerade ohne Rock war, ist er eben ohne Rock mitgefahren. Ich konnte nicht noch warten, bis er den Rock holt.“
„Nun also“, sagte Delamarche mit ausgebreiteten Armen, in einem Ton, als werfe er dem Polizeimann Mangel an Menschenkenntnis vor, und diese seine zwei Worte schienen in die Unbestimmtheit der Aussage Robinsons eine widerspruchslose Klarheit zu bringen.
„Ist das aber auch wahr?“ fragte der Polizeimann schon schwächer. „Und wenn es wahr ist, warum gibt der Junge vor, entlassen zu sein?“
„Du sollst antworten“, sagte Delamarche.
Karl sah den Polizeimann an, der hier zwischen fremden, nur auf sich selbst bedachten Leuten Ordnung schaffen sollte, und etwas von seinen allgemeinen Sorgen ging auch auf Karl über. Er wollte nicht lügen und hielt die Hände fest verschlungen auf dem Rücken.
In dem Tore erschien ein Aufseher und klatschte in die Hände, zum Zeichen, daß die Gepäckträger wieder an ihre Arbeit gehen sollten. Sie schütteten den Bodensatz aus ihren Kaffeetöpfen und zogen verstummend mit schwankenden Schritten ins Haus.
„So kommen wir zu keinem Ende“, sagte der Polizeimann und wollte Karl am Arm fassen. Karl wich unwillkürlich noch ein wenig zurück, fühlte den freien Raum, der sich ihm infolge des Abmarsches der Gepäckträger eröffnet hatte, wandte sich um und setzte sich unter einigen großen Anfangssprüngen in Lauf. Die Kinder brachen in einen einzigen Schrei aus und liefen mit ausgestreckten Ärmchen ein paar Schritte mit.
„Haltet ihn!“ rief der Polizeimann die lange, fast leere Gasse hinab und lief unter gleichmäßigem Ausstoßen dieses Rufes in geräuschlosem, große Kraft und Übung verratendem Lauf hinter Karl her. Es war ein Glück für Karl, daß die Verfolgung in einem Arbeiterviertel stattfand. Die Arbeiter halten es nicht mit den Behörden. Karl lief mitten in der Fahrbahn, weil er dort die wenigsten Hindernisse hatte, und sah nun hie und da auf dem Trottoir Arbeiter stehenbleiben und ihn ruhig beobachten, während der Polizeimann ihnen sein „Haltet ihn!“ zurief und in seinem Lauf, er hielt sich klugerweise auf dem glatten Trottoir, unaufhörlich den Stab gegen Karl hin ausstreckte. Karl hatte wenig Hoffnung und verlor sie fast ganz, als der Polizeimann nun, da sie sich Quergassen näherten, die gewiß auch Polizeipatrouillen enthielten, geradezu betäubende Pfiffe ausstieß. Karls Vorteil war lediglich seine leichte Kleidung, er flog, oder besser stürzte, die sich immer mehr senkende Straße hinab, nur machte er, zerstreut infolge seiner Verschlafenheit, oft zu hohe, zeitraubende und nutzlose Sprünge. Außerdem aber hatte der Polizeimann sein Ziel, ohne nachdenken zu müssen, immer vor Augen, für Karl dagegen war der Lauf doch eigentlich Nebensache, er mußte nachdenken, unter verschiedenen Möglichkeiten auswählen, immer neu sich entschließen. Sein etwas verzweifelter Plan war vorläufig, die Quergassen zu vermeiden, da man nicht wissen konnte, was in ihnen steckte, vielleicht würde er da geradewegs in eine Wachstube hineinlaufen; er wollte sich, solange es nur ging, an diese weithin übersichtliche Straße halten, die erst tief unten in eine Brücke auslief, die, kaum begonnen, in Wasser- und Sonnendunst verschwand. Gerade wollte er sich nach diesem Entschluß zu schnellerem Lauf zusammennehmen, um die erste Querstraße besonders eilig zu passieren, da sah er nicht allzu weit vor sich einen Polizeimann, lauernd an die dunkle Mauer eines im Schatten liegenden Hauses gedrückt, bereit, im richtigen Augenblick auf Karl loszuspringen. Jetzt blieb keine Hilfe als die Quergasse, und als er gar aus dieser Gasse ganz harmlos beim Namen gerufen wurde – es schien ihm zwar zuerst eine Täuschung zu sein, denn ein Sausen hatte er schon die ganze Zeit lang in den Ohren –, zögerte er nicht mehr länger und bog, um die Polizeileute möglichst zu überraschen, auf einem Fuß sich schwenkend, rechtwinklig in diese Gasse ein.
Kaum war er zwei Sprünge weit gekommen – daß man seinen Namen gerufen hatte, hatte er schon wieder vergessen, nun pfiff auch der zweite Polizeimann, man merkte seine unverbrauchte Kraft, ferne Passanten in dieser Querstraße schienen eine raschere Gangart anzunehmen –, da griff aus einer kleinen Haustüre eine Hand nach Karl und zog ihn mit den Worten „Still sein!“ in einen dunklen Flur. Es war Delamarche, ganz außer Atem, mit erhitzten Wangen, seine Haare klebten ihm rings um den Kopf. Den Schlafrock trug er unter dem Arm und war nur mit Hemd und Unterhose bekleidet. Die Türe, welche nicht das eigentliche Haustor war, sondern nur einen unscheinbaren Nebeneingang bildete, hatte er gleich geschlossen und versperrt.
„Einen Augenblick“, sagte er dann, lehnte sich mit hochgehaltenem Kopf an die Wand und atmete schwer. Karl lag fast in seinen Armen und drückte halb besinnungslos das Gesicht an seine Brust.
„Da laufen die Herren“, sagte Delamarche und streckte den Finger aufhorchend gegen die Tür. Wirklich liefen jetzt die zwei Polizeileute vorbei, ihr Laufen klang in der leeren Gasse, wie wenn Stahl gegen Stein geschlagen wird.
„Du bist aber ordentlich hergenommen“, sagte Delamarche zu Karl, der noch immer an seinem Atem würgte und kein Wort herausbringen konnte. Delamarche setzte ihn vorsichtig auf den Boden, kniete neben ihm nieder, strich ihm mehrmals über die Stirn und beobachtete ihn.
„Jetzt geht es schon“, sagte Karl und stand mühsam auf.
„Dann also los“, sagte Delamarche, der seinen Schlafrock wieder angezogen hatte, und schob Karl, der noch vor Schwäche den Kopf gesenkt hielt, vor sich her. Von Zeit zu Zeit schüttelte er Karl, um ihn frischer zu machen.
„Du willst müde sein?“ sagte er. „Du konntest doch im Freien laufen wie ein Pferd, ich aber mußte hier durch die verfluchten Gänge und Höfe schleichen. Glücklicherweise bin ich aber auch ein Läufer.“ Vor Stolz gab er Karl einen weit ausgeholten Schlag auf den Rücken.
„Von Zeit zu Zeit ist ein solches Wettrennen mit der Polizei eine gute Übung.“
„Ich war schon müde, wie ich zu laufen anfing“, sagte Karl.
„Für schlechtes Laufen gibt es keine Entschuldigung“, sagte Delamarche.
„Wenn ich nicht wäre, hätten sie dich schon längst gefaßt.“
„Ich glaube auch“, sagte Karl.
„Ich bin Ihnen sehr verpflichtet.“
„Kein Zweifel“, sagte Delamarche.
Sie gingen durch einen langen, schmalen Flurgang, der mit dunklen, glatten Steinen gepflastert war. Hie und da öffnete sich rechts oder links ein Treppenaufgang oder man erhielt einen Durchblick in einen anderen größeren Flur. Erwachsene waren kaum zu sehen, nur Kinder spielten auf den leeren Treppen. An einem Geländer stand ein kleines Mädchen und weinte, daß ihr vor Tränen das ganze Gesicht glänzte. Kaum hatte sie Delamarche bemerkt, als sie, mit offenem Munde nach Luft schnappend, die Treppe hinauflief und sich erst hoch oben beruhigte, als sie nach häufigem Umdrehen sich überzeugt hatte, daß ihr niemand folge oder folgen wolle.
„Die habe ich vor einem Augenblick niedergerannt“, sagte Delamarche lachend und drohte ihr mit der Faust, worauf sie schreiend weiter hinauflief.
Auch die Höfe, durch die sie kamen, waren fast gänzlich verlassen. Nur hie und da schob ein Geschäftsdiener einen zweirädrigen Karren vor sich her, eine Frau füllte an der Pumpe eine Kanne mit Wasser, ein Briefträger durchquerte mit ruhigen Schritten den ganzen Hof, ein alter Mann mit weißem Schnauzbart saß mit übergeschlagenen Beinen vor einer Glastür und rauchte eine Pfeife, vor einem Speditionsgeschäft wurden Kisten abgeladen, die unbeschäftigten Pferde drehten gleichmütig die Köpfe, ein Mann in einem Arbeitsmantel überwachte mit einem Papier in der Hand die ganze Arbeit; in einem Büro war das Fenster geöffnet, und ein Angestellter, der an seinem Schreibpult saß, hatte sich von ihm abgewendet und sah nachdenklich hinaus, wo gerade Karl und Delamarche vorübergingen.
„Eine ruhigere Gegend kann man sich gar nicht wünschen“, sagte Delamarche.
„Am Abend ist ein paar Stunden lang großer Lärm, aber während des Tages geht es hier musterhaft zu.“ Karl nickte, ihm schien die Ruhe zu groß zu sein.
„Ich könnte gar nicht anderswo wohnen“, sagte Delamarche, „denn Brunelda verträgt absolut keinen Lärm. Kennst du Brunelda? Nun, du wirst sie ja sehen. Jedenfalls empfehle ich dir, dich möglichst still aufzuführen.“
Als sie zu der Treppe kamen, die zur Wohnung Delamarches führte, war das Automobil bereits weggefahren, und der Bursche mit der zerfressenen Nase meldete, ohne über Karls Wiedererscheinen irgendwie zu staunen, er habe Robinson die Treppe hinaufgetragen. Delamarche nickte ihm bloß zu, als sei er sein Diener, der eine selbstverständliche Pflicht erfüllt habe, und zog Karl, der ein wenig zögerte und auf die sonnige Straße sah, mit sich die Treppe hinauf. „Wir sind gleich oben“, sagte Delamarche einige Male während des Treppensteigens, aber seine Voraussage wollte sich nicht erfüllen, immer wieder setzte sich an eine Treppe eine neue in nur unmerklich veränderter Richtung an. Einmal blieb Karl sogar stehen, nicht eigentlich vor Müdigkeit, aber vor Wehrlosigkeit gegenüber dieser Treppenlänge.
„Die Wohnung liegt ja sehr hoch“, sagte Delamarche, als sie weitergingen, „aber auch das hat seine Vorteile. Man geht sehr selten aus, den ganzen Tag ist man im Schlafrock, wir haben es sehr gemütlich. Natürlich kommen in diese Höhe auch keine Besuche herauf.“
‚Woher sollten denn die Besuche kommen?‘ dachte Karl. Endlich erschien auf einem Treppenabsatz Robinson vor einer geschlossenen Wohnungstür, und nun waren sie angelangt; die Treppe war noch nicht einmal zu Ende, sondern führte im Halbdunkel weiter, ohne daß irgend etwas auf ihren baldigen Abschluß hinzudeuten schien.
„Ich habe es mir ja gedacht“, sagte Robinson leise, als bedrückten ihn noch Schmerzen „Delamarche bringt ihn! Roßmann, was wärest du ohne Delamarche!“ Robinson stand in Unterkleidung da und suchte sich nur, soweit es möglich war, in die kleine Bettdecke einzuwickeln, die man ihm aus dem Hotel Occidental mitgegeben hatte; es war nicht einzusehen, warum er nicht in die Wohnung ging, statt hier vor möglicherweise vorüberkommenden Leuten sich lächerlich zu machen.
„Schläft sie?“ fragte Delamarche.
„Ich glaube nicht“, sagte Robinson, „aber ich habe doch lieber gewartet, bis du kommst.“
„Zuerst müssen wir schauen, ob sie schläft“, sagte Delamarche und beugte sich zum Schlüsselloch. Nachdem er lange unter verschiedenartigen Kopfdrehungen hindurchgeschaut hatte, erhob er sich und sagte: „Man sieht sie nicht genau, das Rouleau ist heruntergelassen. Sie sitzt auf dem Kanapee, aber vielleicht schläft sie.“
„Ist sie denn krank?“ fragte Karl, denn Delamarche stand da, als bitte er um Rat. Nun aber fragte er in scharfem Tone zurück: „Krank?“
„Er kennt sie ja nicht“, sagte Robinson entschuldigend.
Ein paar Türen weiter waren zwei Frauen auf den Korridor getreten, sie wischten die Hände an ihren Schürzen rein, sahen auf Delamarche und Robinson und schienen sich über sie zu unterhalten. Aus einer Tür sprang ein noch ganz junges Mädchen mit glänzendem blondem Haar und schmiegte sich zwischen die zwei Frauen, indem es sich in ihre Arme einhängte.
„Das sind widerliche Weiber“, sagte Delamarche leise, aber offenbar nur aus Rücksicht auf die schlafende Brunelda, „nächstens werde ich sie bei der Polizei anzeigen und werde für Jahre Ruhe vor ihnen haben. Schau nicht hin“, zischte er dann Karl an, der nichts Böses daran gefunden hatte, die Frauen anzuschauen, wenn man nun schon einmal auf dem Gang auf das Erwachen Bruneldas warten mußte. Und ärgerlich schüttelte er den Kopf, als habe er von Delamarche keine Ermahnungen anzunehmen, und wollte, um dies noch deutlicher zu zeigen, auf die Frauen zugehen, da hielt ihn aber Robinson mit den Worten „Roßmann, hüte dich!“ am Ärmel zurück, und Delamarche, schon durch Karl gereizt, wurde über ein lautes Auflachen des Mädchens so wütend, daß er mit großem Anlauf, Arme und Beine werfend, auf die Frauen zueilte, die jede in ihre Türe wie weggeweht verschwanden.
„So muß ich hier öfters die Gänge reinigen“, sagte Delamarche, als er mit langsamen Schritten zurückkehrte; da erinnerte er sich an Karls Widerstand und sagte: „Von dir aber erwarte ich ein ganz anderes Benehmen, sonst könntest du mit mir schlechte Erfahrungen machen.“
Da rief aus dem Zimmer eine fragende Stimme in sanftem, müdem Tonfall: „Delamarche?“
„Ja“, antwortete Delamarche und sah freundlich die Tür an, „können wir eintreten?“
„O ja“, hieß es, und Delamarche öffnete, nachdem er noch die zwei hinter ihm Wartenden mit einem Blick gestreift hatte, langsam die Tür.
Man trat in vollständiges Dunkel ein. Der Vorhang der Balkontüre, ein Fenster war nicht vorhanden, war bis zum Boden hinabgelassen und wenig durchscheinend, außerdem aber trug die Überfüllung des Zimmers mit Möbeln und herumhängenden Kleidern viel zu seiner Verdunkelung bei. Die Luft war dumpf, und man roch geradezu den Staub, der sich hier in Winkeln, die offenbar für jede Hand unzugänglich waren, angesammelt hatte. Das erste, was Karl beim Eintritt bemerkte, waren drei Kasten, die knapp hintereinander aufgestellt waren.
Auf dem Kanapee lag die Frau, die früher vom Balkon hinuntergeschaut hatte. Ihr rotes Kleid hatte sich unten ein wenig verzogen und hing in einem großen Zipfel bis auf den Boden, man sah ihre Beine fast bis zu den Knien, sie trug dicke weiße Wollstrümpfe; Schuhe hatte sie keine.
„Das ist eine Hitze, Delamarche“, sagte sie, wandte das Gesicht von der Wand, hielt ihre Hand lässig in Schwebe gegen Delamarche hin, der sie ergriff und küßte. Karl sah nur ihr Doppelkinn an, das bei der Wendung des Kopfes auch mitrollte.
„Soll ich den Vorhang vielleicht hinaufziehen lassen?“ fragte Delamarche.
„Nur das nicht“, sagte sie mit geschlossenen Augen und wie verzweifelt, „dann wird es ja noch ärger.“
Karl war zum Fußende des Kanapees getreten, um die Frau genauer anzusehen, er wunderte sich über ihre Klagen, denn die Hitze war gar nicht außerordentlich.
„Warte, ich werde es dir ein wenig bequem machen“, sagte Delamarche ängstlich, öffnete oben am Halse ein paar Knöpfe und zog dort das Kleid auseinander, so daß der Hals und der Ansatz der Brust frei wurde und ein zarter, gelblicher Spitzensaum des Hemdes erschien.
„Wer ist das“, sagte die Frau plötzlich und zeigte mit dem Finger auf Karl „warum starrt er mich so an?“
„Du fängst bald an, dich nützlich zu machen“, sagte Delamarche und schob Karl beiseite, während er die Frau mit den Worten beruhigte: „Es ist nur der Junge, den ich zu deiner Bedienung mitgebracht habe.“
„Aber ich will doch niemanden haben!“ rief sie.
„Warum bringst du mir fremde Leute in die Wohnung?“
„Aber die ganze Zeit wünschst du dir doch eine Bedienung“, sagte Delamarche und kniete nieder; auf dem Kanapee war trotz seiner großen Breite neben Brunelda nicht der geringste Platz.
„Ach, Delamarche“, sagte sie, „du verstehst mich nicht und verstehst mich nicht.“
„Dann verstehe ich dich also wirklich nicht“, sagte Delamarche und nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände.
„Aber es ist ja nichts geschehen, wenn du willst, geht er augenblicklich fort.“
„Wenn er schon einmal hier ist, soll er bleiben“, sagte sie nun wieder, und Karl war ihr in seiner Müdigkeit für diese vielleicht gar nicht freundlich gemeinten Worte so dankbar, daß er, immer in undeutlichen Gedanken an diese endlose Treppe, die er nun vielleicht gleich wieder hätte abwärtssteigen müssen, über den auf seiner Decke friedlich schlafenden Robinson hinwegtrat und trotz allem ärgerlichen Händefuchteln Delamarches sagte: „Ich danke Ihnen jedenfalls dafür, daß Sie mich noch ein wenig hier lassen wollen. Ich habe wohl schon vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen, dabei genug gearbeitet und verschiedene Aufregungen gehabt. Ich bin schrecklich müde. Ich weiß gar nicht recht, wo ich bin. Wenn ich aber ein paar Stunden geschlafen habe, können Sie mich ohne Rücksichtnahme fortschicken, und ich werde gerne gehen.“
„Du kannst überhaupt hierbleiben“, sagte die Frau und fügte ironisch hinzu, „Platz haben wir ja in Überfluß, wie du siehst.“
„Du mußt also fortgehen“, sagte Delamarche, „wir können dich nicht brauchen.“
„Nein, er soll bleiben“, sagte die Frau nun wieder im Ernste. Und Delamarche sagte zu Karl wie in Ausführung dieses Wunsches: „Also leg dich schon irgendwo hin.“
„Er kann sich auf die Vorhänge legen, aber er muß sich die Stiefel ausziehen, damit er nichts zerreißt.“
Delamarche zeigte Karl den Platz, den sie meinte. Zwischen der Türe und den drei Schränken war ein großer Haufen von verschiedenartigsten Fenstervorhängen hingeworfen. Wenn man alle regelmäßig zusammengefaltet, die schweren zu unterst und weiter hinauf die leichteren gelegt und schließlich die verschiedenen in den Haufen gesteckten Bretter und Holzringe herausgezogen hätte, so wäre es ein erträgliches Lager geworden, so war es nur eine schaukelnde und gleitende Masse, auf die sich aber Karl trotzdem augenblicklich legte, denn zu besonderen Schlafvorbereitungen war er zu müde und mußte sich auch mit Rücksicht auf seine Gastgeber hüten, viel Umstände zu machen.
Er war schon fast im eigentlichen Schlaf, da hörte er einen lauten Schrei, erhob sich und sah die Brunelda aufrecht auf dem Kanapee sitzen, die Arme weit ausbreiten und Delamarche, der vor ihr kniete, umschlingen. Karl, dem der Anblick peinlich war, lehnte sich wieder zurück und versenkte sich in die Vorhänge zur Fortsetzung des Schlafes. Daß er es hier auch nicht zwei Tage aushalten würde, schien ihm klar zu sein, desto nötiger aber war es, sich zuerst gründlich auszuschlafen, um sich dann bei völligem Verstande schnell und richtig entschließen zu können.
Aber Brunelda hatte schon Karls vor Müdigkeit groß aufgerissene Augen, die sie schon einmal erschreckt hatten, bemerkt und rief: „Delamarche, ich halte es vor Hitze nicht aus, ich brenne, ich muß mich ausziehen, ich muß baden, schick die beiden aus dem Zimmer, wohin du willst, auf den Gang, auf den Balkon, nur daß ich sie nicht mehr sehe! Man ist in seiner eigenen Wohnung, und immerfort gestört. Wenn ich mit dir allein wäre, Delamarche! Ach Gott, sie sind noch immer da! Wie dieser unverschämte Robinson sich in Gegenwart einer Dame in seiner Unterkleidung streckt. Und wie dieser fremde Junge, der mich vor einem Augenblick ganz wild angeschaut hat, sich wieder gelegt hat, um mich zu täuschen! Nur weg mit ihnen, Delamarche, sie sind mir eine Last, sie liegen mir auf der Brust, wenn ich jetzt umkomme, ist es ihretwegen.“
„Sofort sind sie draußen, zieh dich nur aus“, sagte Delamarche, ging zu Robinson hin und schüttelte ihn mit dem Fuß, den er ihm auf die Brust setzte. Gleichzeitig rief er Karl zu: „Roßmann, aufstehen! Ihr müßt beide auf den Balkon! Und wehe euch, wenn ihr hereinkommt, ehe man euch ruft! Und jetzt flink, Robinson“ – dabei schüttelte er Robinson stärker – „und du, Roßmann, gib acht, daß ich nicht auch über dich komme“, dabei klatschte er laut zweimal in die Hände.
„Wie lang das dauert!“ rief Brunelda auf dem Kanapee, sie hatte beim Sitzen die Beine weit auseinandergestellt, um ihrem übermäßig dicken Körper mehr Raum zu verschaffen, nur mit größter Anstrengung, unter vielem Schnappen und häufigem Ausruhen, konnte sie sich so weit bücken, um ihre Strümpfe am obersten Ende zu fassen und ein wenig hinunterzuziehen, gänzlich ausziehen konnte sie sich nicht, das mußte Delamarche besorgen, auf den sie nun ungeduldig wartete.
Ganz stumpf vor Müdigkeit war Karl von dem Haufen hinuntergekrochen und ging langsam zur Balkontüre, ein Stück Vorhangstoff hatte sich ihm um den Fuß gewickelt, und er schleppte es gleichgültig mit. In seiner Zerstreutheit sagte er sogar, als er an Brunelda vorüberkam: „Ich wünsche gute Nacht“ und wanderte dann an Delamarche vorbei, der den Vorhang der Balkontüre ein wenig beiseite zog, auf den Balkon hinaus. Gleich hinter Karl kam Robinson, wohl nicht minder schläfrig, denn er summte vor sich hin: „Immerfort malträtiert man einen! Wenn Brunelda nicht mitkommt, gehe ich nicht auf den Balkon.“ Aber trotz dieser Versicherung ging er ohne jeden Widerstand hinaus, wo er sich, da Karl schon in den Lehnstuhl gesunken war, sofort auf den Steinboden legte.
Als Karl erwachte, war es schon Abend, die Sterne standen schon am Himmel, hinter den hohen Häusern der gegenüberliegenden Straßenseite stieg der Schein des Mondes empor. Erst nach einigem Umherschauen in der unbekannten Gegend, einigem Aufatmen in der kühlen, erfrischenden Luft wurde sich Karl dessen bewußt, wo er war. Wie unvorsichtig war er gewesen, alle Ratschläge der Oberköchin, alle Warnungen Theresens, alle eigenen Befürchtungen hatte er vernachlässigt, saß hier ruhig auf dem Balkon Delamarches und hatte hier gar den halben Tag verschlafen, als sei nicht hier hinter dem Vorhang Delamarche, sein großer Feind. Auf dem Boden wand sich der faule Robinson und zog Karl am Fuße, er schien ihn auch auf diese Weise geweckt zu haben, denn er sagte: „Du hast einen Schlaf, Roßmann! Das ist die sorglose Jugend. Wie lange willst du denn noch schlafen? Ich hätte dich ja noch schlafen lassen, aber erstens ist es mir da auf dem Boden zu langweilig und zweitens habe ich einen großen Hunger. Ich bitte dich, steh ein wenig auf, ich habe da unten, im Sessel drin, etwas zum Essen aufgehoben, ich möchte es gern herausziehen. Du bekommst dann auch etwas.“ Und Karl, der aufstand, sah nun zu, wie Robinson, ohne aufzustehen, sich auf dem Bauch herüberwälzte und mit ausgestreckten Händen unter dem Sessel eine versilberte Schale hervorzog, wie sie etwa zum Aufbewahren von Visitenkarten dient. Auf dieser Schale lag aber eine halbe, ganz schwarze Wurst, einige dünne Zigaretten, eine geöffnete, aber noch gut gefüllte und von Öl überfließende Sardinenbüchse und eine Menge meist zerdrückter und zu einem Ballen gewordener Bonbons. Dann erschien noch ein großes Stück Brot und eine Art Parfümflasche, die aber etwas anderes als Parfüm zu enthalten schien, denn Robinson zeigte mit besonderer Genugtuung auf sie und schnalzte zu Karl hinauf.
„Siehst du, Roßmann“, sagte Robinson, während er Sardine nach Sardine hinunterschlang und hie und da die Hände vom Öl an einem Wolltuch reinigte, das offenbar Brunelda auf dem Balkon vergessen hatte. „Siehst du, Roßmann, so muß man sich sein Essen aufheben, wenn man nicht verhungern will. Du, ich bin ganz beiseite geschoben. Und wenn man immerfort als Hund behandelt wird denkt man schließlich, man ist's wirklich. Gut daß du da bist, Roßmann, ich kann wenigstens mit jemandem reden. Im Hause spricht ja niemand mit mir. Wir sind verhaßt. Und alles wegen der Brunelda. Sie ist ja natürlich ein prächtiges Weib. Du-“ und er winkte Karl zu sich herab, um ihm zuzuflüstern, – „ich habe sie einmal nackt gesehen. O!“ Und in der Erinnerung an diese Freude fing er an, Karls Beine zu drücken und zu schlagen, bis Karl ausrief: „Robinson, du bist ja verrückt“, seine Hände packte und zurückstieß.
„Du bist eben noch ein Kind, Roßmann“, sagte Robinson, zog einen Dolch, den er an einer Halsschnur trug, unter dem Hemd hervor, nahm die Dolchkappe ab und zerschnitt die harte Wurst. „Du mußt noch viel zulernen. Bist aber bei uns an der richtigen Quelle. Setz dich doch. Willst du nicht auch etwas essen? Nun, vielleicht bekommst du Appetit, wenn du mir zuschaust. Trinken willst du auch nicht, Du willst aber rein gar nichts. Und gesprächig bist du gerade auch nicht besonders. Aber es ist ganz gleichgültig, mit wem man auf dem Balkon ist, wenn nur überhaupt jemand da ist. Ich bin nämlich sehr oft auf dem Balkon. Das macht der Brunelda solchen Spaß. Es muß ihr nur etwas einfallen, einmal ist es ihr kalt, einmal heiß, einmal will sie schlafen, einmal will sie sich kämmen, einmal will sie das Mieder öffnen, einmal will sie es anziehen, und da werde ich immer auf den Balkon geschickt. Manchmal tut sie wirklich das, was sie sagt, aber meistens liegt sie nur so wie früher auf dem Kanapee und rührt sich nicht. Früher habe ich öfters den Vorhang so ein wenig weggezogen und durchgeschaut, aber seit einmal Delamarche bei einer solchen Gelegenheit – ich weiß genau, daß er es nicht wollte, sondern es nur auf Bruneldas Bitte tat – mir mit der Peitsche einige Male ins Gesicht geschlagen hat – siehst du die Striemen? –, wage ich nicht mehr, durchzuschauen. Und so liege ich dann hier auf dem Balkon und habe kein Vergnügen außer essen. Vorgestern, wie ich des Abends so allein gelegen bin, damals war ich noch in meinen eleganten Kleidern, die ich leider in deinem Hotel verloren habe – diese Hunde; reißen einem die teueren Kleider vom Leib! – wie ich also da so allein gelegen bin und durch das Geländer hinuntergeschaut habe, war mir alles so traurig und ich habe zu heulen angefangen. Da ist zufällig, ohne daß ich es gleich bemerkt habe, die Brunelda zu mir herausgekommen in dem roten Kleid – das paßt ihr doch von allen am besten –, hat mir ein wenig zugeschaut und hat endlich gesagt: ‚Robinson warum weinst du?‘ Dann hat sie ihr Kleid gehoben und hat mir mit dem Saum die Augen abgewischt. Wer weiß, was sie noch getan hätte, wenn nicht Delamarche nach ihr gerufen hätte und sie nicht sofort wieder ins Zimmer hätte hineingehen müssen. Natürlich habe ich gedacht, jetzt sei die Reihe an mir, und habe durch den Vorhang gefragt, ob ich schon ins Zimmer darf. Und was meinst du, hat die Brunelda gesagt: ‚Nein!‘ hat sie gesagt, und ‚Was fällt dir ein?‘ hat sie gesagt.“
„Warum bleibst du denn hier, wenn man dich so behandelt?“ fragte Karl.
„Verzeih, Roßmann, du fragst nicht sehr gescheit“, antwortete Robinson. „Du wirst schon auch noch hier bleiben, und wenn man dich noch ärger behandelt. Übrigens behandelt man mich gar nicht so arg.“
„Nein“, sagte Karl, „ich gehe bestimmt weg, und womöglich noch heute abend. Ich bleibe nicht bei euch.“
„Wie willst du denn zum Beispiel das anstellen, heute abend wegzugehen?“ fragte Robinson, der das Weiche aus dem Brot herausgeschnitten hatte und sorgfältig in dem Öl der Sardinenbüchse tränkte. „Wie willst du weggehen, wenn du nicht einmal ins Zimmer hineingehen darfst?“
„Warum dürfen wir denn nicht hineingehen?“
„Nun, solange es nicht geläutet hat, dürfen wir nicht hineingehen“, sagte Robinson, der mit möglichst weit geöffnetem Munde das fette Brot verspeiste, während er mit einer Hand das vom Brot herabtropfende Öl auffing, um von Zeit zu Zeit das noch übrige Brot in diese, als Reservoir dienende, hohle Hand zu tauchen. „Es ist hier alles strenger geworden. Zuerst war da nur ein dünner Vorhang, man hat zwar nicht durchgesehen, aber am Abend hat man doch die Schatten erkannt. Das war der Brunelda unangenehm, und da habe ich einen ihrer Theatermäntel zu einem Vorhang umarbeiten und statt des alten Vorhanges hier aufhängen müssen. Jetzt sieht man gar nichts mehr. Dann habe ich früher immer fragen dürfen, ob ich schon hineingehen darf, und man hat mir, je nach den Umständen, ja oder nein geantwortet, aber dann habe ich das wahrscheinlich zu sehr ausgenützt und zu oft gefragt. Brunelda konnte das nicht ertragen – und sie ist trotz ihrer Dicke sehr schwach veranlagt, Kopfschmerzen hat sie oft und Gicht in den Beinen fast immer – und so wurde bestimmt, daß ich nicht mehr fragen darf, sondern daß, wenn ich hineingehen kann, auf die Tischglocke gedrückt wird. Das gibt ein solches Läuten, daß es mich selbst aus dem Schlafe weckt – ich habe einmal eine Katze zu meiner Unterhaltung hier gehabt, die ist vor Schrecken über dieses Läuten weggelaufen und nicht mehr zurückgekommen; also, geläutet hat es heute noch nicht, wenn es nämlich läutet, dann darf ich nicht nur, sondern muß hineingehen – und wenn es einmal so lange nicht läutet, dann kann es noch sehr lange dauern.“
„Ja“, sagte Karl, „aber was für dich gilt, muß doch noch nicht für mich gelten. Überhaupt gilt so etwas nur für den, der es sich gefallen läßt.“
„Aber“, rief Robinson, „warum sollte denn das nicht auch für dich gelten? Selbstverständlich gilt es auch für dich. Warte hier nur ruhig mit mir, bis es läutet. Dann kannst du ja versuchen, ob du wegkommst.“
„Warum gehst du denn eigentlich nicht fort von hier? Nur deshalb, weil Delamarche dein Freund ist oder, besser, war. Ist denn das ein Leben? Wäre es da nicht in Butterford besser, wohin ihr zuerst wolltet? Oder gar in Kalifornien, wo du Freunde hast?“
„Ja“, sagte Robinson, „das konnte niemand voraussehen.“ Und ehe er weiter erzählte, sagte er noch: „Auf dein Wohl, lieber Roßmann“ und nahm einen langen Zug aus der Parfümflasche. „Wir waren ja damals, wie du uns so gemein hast sitzenlassen, sehr schlecht daran. Arbeit konnten wir in den ersten Tagen keine bekommen, Delamarche übrigens wollte keine Arbeit, er hätte sie schon bekommen, sondern schickte nur immer mich auf die Suche, und ich habe kein Glück. Er hat sich nur so herumgetrieben, aber es war schon fast Abend, da hatte er nur ein Damenportemonnaie mitgebracht. Es war zwar sehr schön, aus Perlen, jetzt hat er es der Brunelda geschenkt, aber es war fast nichts darin. Dann sagte er, wir sollten in die Wohnungen betteln gehen, bei dieser Gelegenheit kann man natürlich manches Brauchbare finden, wir sind also betteln gegangen, und ich habe, damit es besser aussieht, vor den Wohnungstüren gesungen. Und wie schon Delamarche immer Glück hat, kaum sind wir vor der zweiten Wohnung gestanden, einer sehr reichen Wohnung im Parterre, und haben an der Tür der Köchin und dem Diener etwas vorgesungen, da kommt die Dame, der diese Wohnung gehört, eben Brunelda, die Treppe herauf. Sie war vielleicht zu stark geschnürt und konnte die paar Stufen gar nicht heraufkommen. Aber wie schön sie ausgesehen hat, Roßmann! Sie hat ein ganz weißes Kleid mit einem roten Sonnenschirm gehabt. Zum Ablecken war sie. Zum Austrinken war sie. Ach Gott, ach Gott, war sie schön. So ein Frauenzimmer! Nein, sag mir nur, wie kann es so ein Frauenzimmer geben? Natürlich ist das Mädchen und der Diener ihr gleich entgegengelaufen und haben sie fast hinaufgetragen. Wir sind rechts und links von der Tür gestanden und haben salutiert, das macht man hier so. Sie ist ein wenig stehengeblieben, weil sie noch immer nicht genug Atem hatte, und nun weiß ich nicht, wie das eigentlich geschehen ist, ich war durch das Hungern nicht ganz bei Verstand, und sie war eben in der Nähe noch schöner und riesig breit und infolge eines besonderen Mieders, ich kann es dir dann im Kasten zeigen, überall so fest; kurz, ich habe sie ein bißchen hinten angerührt, aber ganz leicht, weißt du, nur so angerührt. Natürlich kann man das nicht dulden, daß ein Bettler eine reiche Dame anrührt. Es war ja fast keine Berührung, aber schließlich war es eben doch eine Berührung. Wer weiß, wie schlimm das ausgefallen wäre, wenn mir nicht Delamarche sofort eine Ohrfeige gegeben hätte, und zwar eine solche Ohrfeige, daß ich sofort meine beiden Hände für die Wange brauchte.“
„Was ihr getrieben habt!“ sagte Karl, von der Geschichte ganz gefangen genommen, und setzte sich auf den Boden. „Das war also Brunelda?“
„Nun ja“, sagte Robinson, „das war Brunelda.“
„Sagtest du nicht einmal, daß sie eine Sängerin ist?“ fragte Karl.
„Freilich ist sie eine Sängerin, und eine große Sängerin“, antwortete Robinson, der eine große Bonbonmasse auf der Zunge wälzte und hie und da ein Stück, das aus dem Mund gedrängt wurde, mit dem Finger wieder zurückdrückte. „Aber das wußten wir natürlich damals noch nicht, wir sahen nur, daß es eine reiche und sehr feine Dame war. Sie tat, als wäre nichts geschehen, und vielleicht hatte sie auch nichts gespürt, denn ich hatte sie tatsächlich nur mit den Fingerspitzen angetippt. Aber immerfort hat sie den Delamarche angesehen, der ihr wieder – wie er das schon trifft – gerade in die Augen zurückgeschaut hat. Darauf hat sie zu ihm gesagt: ‚Komm mal auf ein Weilchen hinein‘ und hat mit dem Sonnenschirm in die Wohnung gezeigt, wohin Delamarche ihr vorangehen sollte. Dann sind sie beide hineingegangen, und die Dienerschaft hat hinter ihnen die Tür zugemacht. Mich haben sie draußen vergessen, und da habe ich gedacht, es wird nicht gar so lange dauern, und habe mich auf die Treppe gesetzt, um Delamarche zu erwarten. Aber statt Delamarches ist der Diener herausgekommen und hat mir eine ganze Schüssel Suppe herausgebracht. ‚Eine Aufmerksamkeit Delamarches!‘ sagte ich mir. Der Diener blieb noch, während ich aß, ein Weilchen bei mir stehen und erzählte mir einiges über Brunelda, und da habe ich gesehen, welche Bedeutung der Besuch bei Brunelda für uns haben könnte. Denn Brunelda war eine geschiedene Frau, hatte ein großes Vermögen und war vollständig selbständig! Ihr früherer Mann, ein Kakaofabrikant, liebte sie zwar noch immer, aber sie wollte von ihm nicht das geringste hören. Er kam sehr oft in die Wohnung, immer sehr elegant, wie zu einer Hochzeit, angezogen – das ist Wort für Wort wahr, ich kenne ihn selbst –, aber der Diener wagte trotz der größten Bestechung nicht, Brunelda zu fragen, ob sie ihn empfangen wollte, denn er hatte schon einige Male gefragt, und immer hatte ihm Brunelda das, was sie gerade bei der Hand hatte, ins Gesicht geworfen. Einmal sogar ihre große gefüllte Wärmflasche, und mit der hatte sie ihm einen Vorderzahn ausgeschlagen. Ja, Roßmann, da schaust du!“
„Woher kennst du den Mann?“ fragte Karl.
„Er kommt manchmal auch herauf“, sagte Robinson.
„Herauf?“ Karl schlug vor Staunen leicht mit der Hand auf den Boden.
„Du kannst ruhig staunen“, fuhr Robinson fort, „selbst ich habe gestaunt, wie mir das der Diener damals erzählt hat. Denk nur, wenn Brunelda nicht zu Hause war, hat sich der Mann von dem Diener in ihre Zimmer führen lassen und immer eine Kleinigkeit als Andenken mitgenommen und immer etwas sehr Teueres und Feines für Brunelda zurückgelassen und dem Diener streng verboten zu sagen, von wem es ist. Aber einmal, als er etwas – wie der Diener sagte und ich glaube es – geradezu Unbezahlbares aus Porzellan mitgebracht hatte, muß Brunelda es irgendwie erkannt haben, hat es sofort auf den Boden geworfen, ist darauf herumgetreten, hat es angespuckt und noch einiges andere damit gemacht, so daß es der Diener vor Ekel kaum hinaustragen konnte.“
„Was hat ihr denn der Mann getan?“ fragte Karl.
„Das weiß ich eigentlich nicht“, sagte Robinson. „Ich glaube aber, nichts Besonderes, wenigstens weiß er es selbst nicht. Ich habe ja schon manchmal mit ihm darüber gesprochen. Er erwartet mich täglich dort an der Straßenecke, wenn ich komme, so muß ich ihm Neuigkeiten erzählen; kann ich nicht kommen, wartet er eine halbe Stunde und geht dann wieder weg. Es war für mich ein guter Nebenverdienst, denn er bezahlte die Nachrichten sehr vornehm, aber seit Delamarche davon erfahren hat, muß ich ihm alles abliefern, und so gehe ich seltener hin.“
„Aber was will der Mann haben?“ fragte Karl. „Was will er denn haben? Er hört doch, sie will ihn nicht.“
„Ja“, seufzte Robinson, zündete sich eine Zigarette an und blies unter großen Armschwenkungen den Rauch in die Höhe. Dann schien er sich anders zu entschließen und sagte: „Was kümmert das mich? Ich weiß nur, er würde viel Geld dafür geben, wenn er so hier auf dem Balkon liegen dürfte wie wir.“
Karl stand auf, lehnte sich ans Geländer und sah auf die Straße hinunter. Der Mond war schon sichtbar, in die Tiefe der Gasse drang sein Licht aber noch nicht. Die am Tag so leere Gasse war, besonders vor den Haustoren, gedrängt voll von Menschen, alle waren in langsamer, schwerfälliger Bewegung, die Hemdärmel der Männer, die hellen Kleider der Frauen hoben sich schwach vom Dunkel ab, alle waren ohne Kopfbedeckung. Die vielen Balkone ringsum waren nun insgesamt besetzt, dort saßen beim Licht einer Glühlampe die Familien, je nach der Größe des Balkons, um einen kleinen Tisch herum oder bloß auf Sesseln in einer Reihe oder sie steckten wenigstens die Köpfe aus dem Zimmer hervor. Die Männer saßen breitbeinig da, die Füße zwischen den Geländerstangen hinausgestreckt, und lasen Zeitungen, die fast bis auf den Boden reichten, oder spielten Karten, scheinbar stumm, aber unter starken Schlägen auf die Tische, die Frauen hatten den Schoß voll Näharbeit und erübrigten nur hie und da einen kurzen Blick für ihre Umgebung oder für die Straße. Eine blonde, schwache Frau auf dem benachbarten Balkon gähnte immerfort, verdrehte dabei die Augen und hob immer vor den Mund ein Wäschestück, das sie gerade flickte; selbst auf den kleinsten Balkonen verstanden es die Kinder, einander zu jagen, was den Eltern sehr lästig fiel. Im Inneren vieler Zimmer waren Grammophone aufgestellt und bliesen Gesang oder Orchestralmusik hervor, man kümmerte sich nicht besonders um diese Musik, nur hie und da gab der Familienvater einen Wink, und irgend jemand eilte ins Zimmer hinein, um eine neue Platte einzulegen. An manchen Fenstern sah man vollständig bewegungslose Liebespaare, an einem Fenster Karl gegenüber stand ein solches Paar aufrecht, der junge Mann hatte seinen Arm um das Mädchen gelegt und drückte mit der Hand ihre Brust.
„Kennst du jemanden von den Leuten hier nebenan?“ fragte Karl Robinson, der nun auch aufgestanden war, und, weil es ihn fröstelte, außer der Bettdecke auch noch die Decke Bruneldas um sich gewickelt hielt.
„Fast niemanden, das ist ja eben das Schlimme an meiner Stellung“, sagte Robinson und zog Karl näher zu sich, um ihm ins Ohr flüstern zu können, „sonst hätte ich mich augenblicklich nicht gerade zu beklagen. Die Brunelda hat ja Delamarches wegen alles, was sie hatte, verkauft und ist mit all ihren Reichtümern hierher in diese Vorstadtwohnung gezogen, damit sie sich ihm ganz widmen kann und damit sie niemand stört, übrigens war das auch der Wunsch Delamarches.“ „Und die Dienerschaft hat sie entlassen?“ fragte Karl.
„Ganz richtig“, sagte Robinson. „Wo sollte man auch die Dienerschaft hier unterbringen? Diese Diener sind ja sehr anspruchsvolle Herren. Einmal hat Delamarche bei der Brunelda einen solchen Diener einfach mit Ohrfeigen aus dem Zimmer getrieben, da ist eine nach der andern geflogen, bis der Mann draußen war. Natürlich haben die anderen Diener sich mit ihm vereinigt und vor der Tür Lärm gemacht, da ist Delamarche herausgekommen (ich war damals nicht Diener, sondern Hausfreund, aber doch war ich mit den Dienern beisammen) und hat gefragt: ‚Was wollt ihr?‘ Der älteste Diener, ein gewisser Isidor, hat daraufhin gesagt: ‚Sie haben mit uns nichts zu reden, unsere Herrin ist die gnädige Frau.‘ Wie du wahrscheinlich merkst, haben sie Brunelda sehr verehrt. Aber Brunelda ist, ohne sich um sie zu kümmern, zu Delamarche gelaufen, sie war damals doch noch nicht so schwer wie jetzt, hat ihn vor allen umarmt, geküßt und ‚Liebster Delamarche‘ genannt. ‚Und schick doch schon diese Affen weg‘, hat sie endlich gesagt. Affen – das sollten die Diener sein; stell dir die Gesichter vor, die sie da machten. Dann hat die Brunelda die Hand Delamarches zu ihrer Geldtasche hingezogen, die sie am Gürtel trug, Delamarche hat hineingegriffen und also angefangen, die Diener auszuzahlen; die Brunelda hat sich nur dadurch an der Auszahlung beteiligt, daß sie mit der offenen Geldtasche im Gürtel dabei gestanden ist. Delamarche mußte oft hineingreifen, denn er verteilte das Geld, ohne zu zählen und ohne die Forderungen zu prüfen. Schließlich sagte er: ‚Da ihr also mit mir nicht reden wollt, sage ich euch nur im Namen Bruneldas: Packt euch, aber sofort.‘ So sind sie entlassen worden, es gab dann noch einige Prozesse, Delamarche mußte sogar einmal zu Gericht, aber davon weiß ich nichts Genaueres. Nur gleich nach dem Abschied der Diener hat Delamarche zu Brunelda gesagt: ‚Jetzt hast du also keine Dienerschaft?‘ Sie hat gesagt: ‚Aber da ist ja Robinson.‘ Daraufhin hat Delamarche gesagt und hat mir dabei einen Schlag auf die Achsel gegeben: ‚Also gut, du wirst unser Diener sein.‘ Und Brunelda hat mir dann auf die Wange geklopft. Wenn sich die Gelegenheit findet, Roßmann, laß dir auch einmal von ihr auf die Wange klopfen. Du wirst staunen, wie schön das ist.“
„Du bist also Delamarches Diener geworden?“ sagte Karl zusammenfassend.
Robinson hörte das Bedauern aus der Frage heraus und antwortete: „Ich bin Diener, aber das bemerken nur wenige Leute. Du siehst, du selbst wußtest es nicht, obwohl du doch schon ein Weilchen bei uns bist. Du hast ja gesehen, wie ich in der Nacht bei euch im Hotel angezogen war. Das Feinste vom Feinen hatte ich an. Gehen Diener so angezogen? Nur ist eben die Sache die, daß ich nicht oft weggehen darf, ich muß immer bei der Hand sein, in der Wirtschaft ist eben immer etwas zu tun. Eine Person ist eben zu wenig für die viele Arbeit. Wie du vielleicht bemerkt hast, haben wir sehr viele Sachen im Zimmer herumstehen; was wir eben bei dem großen Auszug nicht verkaufen konnten, haben wir mitgenommen. Natürlich hätte man es wegschenken können, aber Brunelda schenkt nichts weg. Denk dir nur, welche Arbeit es gegeben hat, diese Sachen die Treppe heraufzutragen.“ „Robinson, du hast das alles heraufgetragen?“ rief Karl.
„Wer denn sonst?“ sagte Robinson. „Es war noch ein Hilfsarbeiter da, ein faules Luder; ich habe die meiste Arbeit allein machen müssen. Brunelda ist unten beim Wagen gestanden, Delamarche hat oben angeordnet, wohin die Sachen zu legen sind, und ich bin immerfort hin und her gelaufen. Es hat zwei Tage gedauert, sehr lange, nicht wahr? Aber du weißt ja gar nicht, wieviel Sachen hier im Zimmer sind, alle Kasten sind voll und hinter den Kasten ist alles vollgestopft bis zur Decke hinauf. Wenn man ein paar Leute für den Transport aufgenommen hätte; wäre ja alles bald fertig gewesen, aber Brunelda wollte es niemandem außer mir anvertrauen. Das war ja sehr schön, aber ich habe damals meine Gesundheit für mein ganzes Leben verdorben, und was habe ich denn sonst gehabt als meine Gesundheit? Wenn ich mich nur ein wenig anstrenge, sticht es mich hier und hier und hier. Glaubst du, diese Jungen im Hotel, diese Grasfrösche – was sind sie denn sonst? – hätten mich jemals besiegen können, wenn ich gesund wäre? Aber was mir auch fehlen sollte, dem Delamarche und der Brunelda sage ich kein Wort, ich werde arbeiten, solange es gehen wird, und wenn es nicht mehr gehen wird, werde ich mich hinlegen und sterben, und dann erst, zu spät, werden sie sehen, daß ich krank gewesen bin und trotzdem immerfort und immerfort weitergearbeitet und mich in ihren Diensten zu Tode gearbeitet habe. Ach Roßmann-“, sagte er schließlich und trocknete die Augen an Karls Hemdärmel. Nach einem Weilchen sagte er: „Ist dir denn nicht kalt, du stehst da so im Hemd?“
„Geh, Robinson“, sagte Karl, „immerfort weinst du. Ich glaube nicht, daß du so krank bist. Du siehst ganz gesund aus, aber weil du immerfort da auf dem Balkon liegst, hast du dir so Verschiedenes ausgedacht. Du hast vielleicht manchmal einen Stich in der Brust, das habe ich auch, das hat jeder. Wenn alle Menschen wegen jeder Kleinigkeit so weinen wollten wie du, müßten die Leute auf allen Balkonen weinen.“
„Ich weiß es besser“, sagte Robinson und wischte nun die Augen mit dem Zipfel seiner Decke. „Der Student, der nebenan bei der Vermieterin wohnt, die auch für uns kochte, hat mir letzthin, als ich das Eßgeschirr zurückbrachte, gesagt: ‚Hören Sie einmal, Robinson, sind Sie nicht krank?‘ Mir ist verboten, mit den Leuten zu reden, und so habe ich nur das Geschirr hingelegt und wollte weggehen. Da ist er zu mir gegangen und hat gesagt: ‚Hören Sie, Mann, treiben Sie die Sache nicht zum Äußersten, Sie sind krank.‘ ‚Ja also, ich bitte, was soll ich denn machen?‘ habe ich gefragt. ‚Das ist Ihre Sache‘, hat er gesagt und hat sich umgedreht. Die anderen dort bei Tisch haben gelacht, wir haben ja hier überall Feinde, und so bin ich lieber weggegangen.“
„Also Leuten, die dich zum Narren halten, glaubst du, und Leuten, die es gut mit dir meinen, glaubst du nicht.“
„Aber ich muß doch wissen, wie mir ist“, fuhr Robinson auf, kehrte aber gleich wieder zum Weinen zurück.
„Du weißt eben nicht, was dir fehlt, du solltest irgendeine ordentliche Arbeit für dich suchen, statt hier Delamarches Diener zu machen. Denn soweit ich nach deinen Erzählungen und nach dem, was ich selbst gesehen habe, urteilen kann, ist das hier kein Dienst, sondern eine Sklaverei. Das kann kein Mensch ertragen, das glaube ich dir. Du aber denkst, weil du Delamarches Freund bist, darfst du ihn nicht verlassen. Das ist falsch; wenn er nicht einsieht, was für ein elendes Leben du führst, so hast du ihm gegenüber nicht die geringsten Verpflichtungen mehr.“
„Du glaubst also wirklich, Roßmann, daß ich mich wieder erholen werde, wenn ich das Dienen hier aufgebe?“
„Gewiß“, sagte Karl.
„Gewiß?“ fragte nochmals Robinson. „Ganz gewiß“, sagte Karl lächelnd.
„Dann könnte ich ja gleich anfangen, mich zu erholen“, sagte Robinson und sah Karl an.
„Wieso denn?“ fragte dieser.
„Nun, weil du doch meine Arbeit hier übernehmen sollst“, antwortete Robinson.
„Wer hat dir denn das gesagt?“ fragte Karl.
„Das ist doch ein alter Plan. Davon wird ja schon seit einigen Tagen gesprochen. Es hat damit angefangen, daß Brunelda mich ausgezankt hat, weil ich die Wohnung nicht sauber genug halte. Natürlich habe ich versprochen, daß ich alles gleich in Ordnung bringen werde. Nun, das ist aber sehr schwer. Ich kann zum Beispiel in meinem Zustand nicht überallhin kriechen, um den Staub wegzuwischen, man kann sich schon in der Mitte des Zimmers nicht rühren, wie erst dort zwischen den Möbeln und den Vorräten? Und wenn man alles genau reinigen will, muß man doch auch die Möbel von ihrem Platz wegschieben, und das soll ich allein machen? Außerdem müßte das alles ganz leise geschehen, weil doch Brunelda, die ja das Zimmer kaum verläßt, nicht gestört werden darf. Ich habe also zwar versprochen, daß ich alles rein machen werde, aber rein gemacht habe ich es tatsächlich nicht. Als Brunelda das bemerkt hat, hat sie zu Delamarche gesagt, daß das nicht so weitergeht und daß man noch eine Hilfskraft wird aufnehmen müssen. ‚Ich will nicht, Delamarche‘, hat sie gesagt, ‚daß du mir einmal Vorwürfe machst, ich hätte die Wirtschaft nicht gut geführt. Selbst kann ich mich nicht anstrengen, das siehst du doch ein, und Robinson genügt nicht; am Anfang war er so frisch und hat sich überall umgesehen, aber jetzt ist er immerfort müde und sitzt meist in einem Winkel. Aber ein Zimmer mit so viel Gegenständen wie das unsrige hält sich nicht selbst in Ordnung.‘ Daraufhin hat Delamarche nachgedacht, was sich da tun ließe, denn eine beliebige Person kann man natürlich in einen solchen Haushalt nicht aufnehmen, auch zur Probe nicht, denn man paßt uns ja von allen Seiten auf. Weil ich aber dein guter Freund bin und von Renell gehört habe, wie du dich im Hotel plagen mußt, habe ich dich in Vorschlag gebracht. Delamarche war gleich einverstanden, obwohl du dich damals gegen ihn so keck benommen hast, und ich habe mich natürlich sehr gefreut, daß ich dir so nützlich sein konnte. Für dich ist nämlich diese Stellung wie geschaffen, du bist jung, stark und geschickt, während ich nichts mehr wert bin. Nur will ich dir sagen, daß du noch keineswegs aufgenommen bist; wenn du Brunelda nicht gefällst, können wir dich nicht brauchen. Also strenge dich nur an, daß du ihr angenehm bist, für das übrige werde ich schon sorgen.“
„Und was wirst du machen, wenn ich hier Diener sein werde?“ fragte Karl; er fühlte sich so frei, der erste Schrecken, den ihm die Mitteilungen Robinsons verursacht hatten, war vorüber. Delamarche hatte also keine schlimmeren Absichten mit ihm, als ihn zum Diener zu machen – hätte er schlimmere Absichten gehabt, dann hätte sie der plapperhafte Robinson gewiß verraten –, wenn es aber so stand, dann getraute sich Karl, noch heute nacht den Abschied durchzuführen. Man kann niemanden zwingen, einen Posten anzunehmen. Und während Karl früher Sorgen gehabt hatte, ob er nach seiner Entlassung aus dem Hotel bald genug, um vor Hunger geschützt zu sein, einen passenden und womöglich nicht unansehnlicheren Posten bekommen werde, schien ihm jetzt im Vergleich zu dem ihm hier zugedachten Posten, der ihm widerlich war, jeder andere Posten gut genug, und selbst die stellungslose Not hätte er diesem Posten vorgezogen. Robinson das aber begreiflich zu machen, versuchte er gar nicht, besonders da Robinson jetzt in jedem Urteil durch die Hoffnung völlig befangen war, von Karl entlastet zu werden.
„Ich werde also“, sagte Robinson und begleitete die Rede mit behaglichen Handbewegungen – die Ellbogen hatte er auf das Geländer aufgestützt – „dir zunächst alles erklären und die Vorräte zeigen. Du bist gebildet und hast sicher auch eine schöne Schrift, du könntest also gleich ein Verzeichnis all der Sachen machen, die wir da haben. Das hat sich Brunelda schon längst gewünscht. Wenn morgen vormittag schönes Wetter ist, werden wir Brunelda bitten, daß sie sich auf den Balkon setzt, und inzwischen werden wir ruhig und ohne sie zu stören im Zimmer arbeiten können. Denn darauf, Roßmann, mußt du vor allem achtgeben. Nur nicht Brunelda stören. Sie hört alles, wahrscheinlich hat sie als Sängerin so empfindliche Ohren. Du rollst zum Beispiel das Faß mit Schnaps, das hinter den Kasten steht, heraus, es macht Lärm, weil es schwer ist und dort überall verschiedene Sachen herumliegen, so daß man es nicht mit einem Male durchrollen kann. Brunelda liegt zum Beispiel ruhig auf dem Kanapee und fängt Fliegen, die sie überhaupt sehr belästigen. Du glaubst also, sie kümmert sich um dich nicht, und rollst dein Faß weiter. Sie liegt noch immer ruhig. Aber in einem Augenblick, wo du es gar nicht erwartest und wo du am wenigsten Lärm machst, setzt sie sich plötzlich aufrecht, schlägt mit beiden Händen auf das Kanapee, daß man sie vor Staub nicht sieht – seit wir hier sind, habe ich das Kanapee nicht ausgeklopft; ich kann ja nicht, sie liegt doch immerfort darauf – und fängt schrecklich zu schreien an, wie ein Mann, und schreit so stundenlang. Das Singen haben ihr die Nachbarn verboten, das Schreien aber kann ihr niemand verbieten, sie muß schreien, übrigens geschieht es ja jetzt nur selten, ich und Delamarche sind sehr vorsichtig geworden. Es hat ihr ja auch sehr geschadet. Einmal ist sie ohnmächtig geworden, und ich habe – Delamarche war gerade weg – den Studenten von nebenan holen müssen, der hat sie aus einer großen Flasche mit Flüssigkeit bespritzt, es hat auch geholfen, aber diese Flüssigkeit hat einen unerträglichen Geruch gehabt, noch jetzt, wenn man die Nase zum Kanapee hält, riecht man es. Der Student ist sicher unser Feind, wie alle hier, du mußt dich auch vor allen in acht nehmen und dich mit keinem einlassen.“
„Du, Robinson“, sagte Karl, „das ist aber ein schwerer Dienst. Da hast du mich für einen schönen Posten empfohlen.“
„Mach dir keine Sorgen“, sagte Robinson und schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf, um alle möglichen Sorgen Karls abzuwehren. „Der Posten hat auch Vorteile, wie sie dir kein anderer Posten bieten kann. Du bist immerfort in der Nähe einer Dame wie Brunelda, du schläfst manchmal mit ihr im gleichen Zimmer, das bringt schon, wie du dir denken kannst, verschiedene Annehmlichkeiten mit sich. Du wirst reichlich bezahlt werden, Geld ist in Menge da, ich habe als Freund Delamarches nichts bekommen; nur wenn ich ausgegangen bin, hat mir Brunelda immer etwas mitgegeben, aber du wirst natürlich bezahlt werden wie ein anderer Diener. Du bist ja auch nichts anderes. Das Wichtigste für dich aber ist, daß ich dir den Posten sehr erleichtern werde. Zunächst werde ich natürlich nichts machen, damit ich mich erhole, aber wie ich nur ein wenig erholt bin, kannst du auf mich rechnen. Die eigentliche Bedienung Bruneldas behalte ich überhaupt für mich, also das Frisieren und Anziehen, soweit es nicht Delamarche besorgt. Du wirst dich nur um das Aufräumen des Zimmers, um Besorgungen und die schwereren häuslichen Arbeiten zu kümmern haben.“
„Nein, Robinson“, sagte Karl, „das alles verlockt mich nicht.“
„Mach keine Dummheiten, Roßmann“, sagte Robinson, ganz nahe an Karls Gesicht, „verscherze dir nicht diese schöne Gelegenheit. Wo bekommst du denn gleich einen Posten? Wer kennt dich? Wen kennst du? Wir, zwei Männer, die schon viel erlebt haben und große Erfahrungen besitzen, sind wochenlang herumgelaufen, ohne Arbeit zu bekommen. Es ist nicht leicht, es ist sogar verzweifelt schwer.“
Karl nickte und wunderte sich, wie vernünftig Robinson sprechen konnte. Für ihn hatten diese Ratschläge allerdings keine Geltung, er durfte hier nicht bleiben, in der großen Stadt würde sich wohl noch ein Plätzchen für ihn finden, die ganze Nacht über, das wußte er, waren alle Gasthäuser überfüllt, man brauchte Bedienung für die Gäste, darin hatte er nun schon Übung. Er würde sich schon rasch und unauffällig in irgendeinen Betrieb einfügen. Gerade im gegenüberliegenden Hause war unten ein kleines Gasthaus untergebracht, aus dem eine rauschende Musik hervordrang. Der Haupteingang war nur mit einem großen gelben Vorhang verdeckt, der manchmal, von einem Luftzug bewegt, mächtig in die Gasse hinausflatterte. Sonst war es in der Gasse freilich viel stiller geworden. Die meisten Balkone waren finster, nur in der Ferne fand sich noch hier oder dort ein einzelnes Licht, aber kaum faßte man es für ein Weilchen ins Auge, erhoben sich dort die Leute, und während sie in die Wohnung zurückdrängten, griff ein Mann an die Glühlampe und drehte, als letzter auf dem Balkon zurückbleibend, nach einem kurzen Blick auf die Gasse das Licht aus.
‚Nun beginnt ja schon die Nacht‘, sagte sich Karl, ‚bleibe ich noch länger hier, gehöre ich schon zu ihnen.‘ Er drehte sich um, um den Vorhang vor der Wohnungstür wegzuziehen. „Was willst du?“ sagte Robinson und stellte sich zwischen Karl und den Vorhang.
„Weg will ich“, sagte Karl. „Laß mich! Laß mich!“
„Du willst sie doch nicht stören“, rief Robinson, „was fällt dir denn nur ein!“ Und er legte Karl die Arme um den Hals, hing sich mit seiner ganzen Last an ihn, umklammerte mit den Beinen Karls Beine und zog ihn so im Augenblick auf die Erde nieder. Aber Karl hatte unter den Liftjungen ein wenig raufen gelernt, und so stieß er Robinson die Faust unter das Kinn, aber schwach und voll Schonung. Der gab Karl noch rasch und ganz rücksichtslos mit dem Knie einen vollen Stoß in den Bauch, fang dann aber, beide Hände am Kinn, so laut zu heulen an, daß von dem benachbarten Balkon ein Mann unter wildem Händeklatschen „Ruhe!“ befahl. Karl lag noch ein wenig still, um den Schmerz, den ihm der Stoß Robinsons verursacht hatte, zu verwinden. Er wandte nur das Gesicht zum Vorhang hin, der ruhig und schwer vor dem offenbar dunklen Zimmer hing. Es schien ja niemand mehr im Zimmer zu sein, vielleicht war Delamarche mit Brunelda ausgegangen, und Karl hatte schon völlige Freiheit. Robinson, der sich wirklich wie ein Wächterhund benahm, war ja endgültig abgeschüttelt.
Da ertönten aus der Ferne von der Gasse her stoßweise Trommeln und Trompeten. Einzelne Rufe vieler Leute sammelten sich bald zu einem allgemeinen Schreien. Karl drehte den Kopf und sah, wie sich alle Balkone von neuem belebten. Langsam erhob er sich, er konnte sich nicht ganz aufrichten und mußte sich schwer gegen das Geländer drücken. Unten auf dem Trottoir marschierten junge Burschen mit großen Schritten, ausgestreckten Armen, die Mützen in der erhobenen Hand, die Gesichter zurückgewandt. Die Fahrbahn blieb noch frei. Einzelne schwenkten auf hohen Stangen Lampions, die von einem gelblichen Rauch umhüllt waren. Gerade traten die Trommler und Trompeter in breiten Reihen ans Licht, und Karl staunte über ihre Menge, da hörte er hinter sich Stimmen, drehte sich um und sah den Delamarche den schweren Vorhang heben und dann aus dem Zimmerdunkel Brunelda treten, im roten Kleid, mit einem Spitzenüberwurf um die Schultern, einem dunklen Häußchen über dem wahrscheinlich unfrisierten und bloß aufgehäuften Haar, dessen Enden lose hie und da hervorsahen. In der Hand hielt sie einen kleinen ausgespannten Fächer, bewegte ihn aber nicht, sondern drückte ihn eng an sich.
Karl schob sich dem Geländer entlang zur Seite, um den beiden Platz zu machen. Gewiß würde ihn niemand zum Hierbleiben zwingen und, wenn es auch Delamarche versuchen wollte, Brunelda würde ihn auf seine Bitte sofort entlassen. Sie konnte ihn ja gar nicht leiden, seine Augen erschreckten sie. Aber als er einen Schritt zur Tür hin machte, hatte sie es doch bemerkt und sagte: „Wohin denn, Kleiner?“ Karl stockte vor den strengen Blicken Delamarches, und Brunelda zog ihn zu sich. „Willst du dir denn nicht den Aufzug unten ansehen?“ sagte sie und schob ihn vor sich an das Geländer. „Weißt du, worum es sich handelt?“ hörte Karl sie hinter sich sagen und machte ohne Erfolg eine unwillkürliche Bewegung, um sich ihrem Druck zu entziehen. Traurig sah er auf die Gasse hinunter, als sei dort der Grund seiner Traurigkeit.
Delamarche stand zuerst mit gekreuzten Armen hinter Brunelda, dann lief er ins Zimmer und brachte Brunelda den Operngucker. Unten war hinter den Musikanten der Hauptteil des Aufzuges erschienen. Auf den Schultern eines riesenhaften Mannes saß ein Herr, von dem man in dieser Höhe nichts anderes sah als seine matt schimmernde Glatze, über der er seinen Zylinderhut ständig grüßend hoch erhoben hielt. Rings um ihn wurden offenbar Holztafeln getragen, die, vom Balkon aus gesehen, ganz weiß erschienen; die Anordnung war derartig getroffen, daß diese Plakate von allen Seiten sich förmlich an den Herrn anlehnten, der aus ihrer Mitte hoch hervorragte. Da alles im Gange war, lockerte sich diese Mauer von Plakaten immerfort und ordnete sich auch immerfort von neuem.
Im weiteren Umkreis war um den Herrn die ganze Breite der Gasse, wenn auch, soweit man im Dunkel schätzen konnte, auf eine unbedeutende Länge hin, von Anhängern des Herrn angefüllt, die sämtlich in die Hände klatschten und wahrscheinlich den Namen des Herrn, einen ganz kurzen, aber unverständlichen Namen, in einem getragenen Gesange verkündeten. Einzelne, die geschickt in der Menge verteilt waren, hatten Automobillaternen mit äußerst starkem Licht, das sie die Häuser auf beiden Seiten der Straße langsam auf- und abwärts führten. In Karls Höhe störte das Licht nicht mehr, aber auf den unteren Ballkonen sah man die Leute, die davon bestrichen wurden, eiligst die Hände an die Augen führen.
Delamarche erkundigte sich auf die Bitte Bruneldas bei den Leuten auf dem Nachbarbalkon, was die Veranstaltung zu bedeuten habe. Karl war ein wenig neugierig, ob und wie man ihm antworten würde. Und tatsächlich mußte Delamarche dreimal fragen, ohne eine Antwort zu bekommen. Er beugte sich schon gefährlich über das Geländer, Brunelda stampfte vor Ärger über die Nachbarn leicht auf, Karl fühlte ihre Knie. Endlich kam doch irgendeine Antwort, aber gleichzeitig fingen auf diesem Balkon, der gedrängt voll Menschen war, alle laut zu lachen an. Daraufhin schrie Delamarche etwas hinüber, so laut, daß, wenn nicht augenblicklich in der ganzen Gasse viel Lärm gewesen wäre, alles ringsherum erstaunt hätte aufhorchen müssen. Jedenfalls hatte es die Wirkung, daß das Lachen unnatürlich bald sich legte.
„Es wird morgen ein Richter in unserem Bezirk gewählt und der, den sie unten tragen, ist ein Kandidat“, sagte Delamarche, vollkommen ruhig zu Brunelda zurückkehrend. „Nein!“ rief er dann und klopfte liebkosend Brunelda auf den Rücken. „Wir wissen schon gar nicht mehr, was in der Welt vorgeht.“
„Delamarche“, sagte Brunelda, auf das Benehmen der Nachbarn zurückkommend, „wie gern wollte ich übersiedeln, wenn es nicht so anstrengend wäre. Ich darf es mir aber leider nicht zumuten.“ Und unter großen Seufzern, unruhig und zerstreut, nestelte sie an Karls Hemd, der möglichst unauffällig immer wieder diese kleinen, fetten Händchen wegzuschieben suchte, was ihm auch leicht gelang, denn Brunelda dachte nicht an ihn, sie war mit ganz anderen Gedanken beschäftigt.
Aber auch Karl vergaß bald Brunelda und duldete die Last ihrer Arme auf seinen Achseln, denn die Vorgänge auf der Straße nahmen ihn sehr in Anspruch. Auf Anordnung einer kleinen Gruppe gestikulierender Männer, die knapp vor dem Kandidaten marschierten und deren Unterhaltungen eine besondere Bedeutung haben mußten, denn von allen Seiten sah man lauschende Gesichter sich ihnen zuneigen, wurde unerwarteterweise vor dem Gasthaus haltgemacht. Einer dieser maßgebenden Männer machte mit erhobener Hand ein Zeichen, das sowohl der Menge als auch dem Kandidaten galt. Die Menge verstummte, und der Kandidat, der sich auf den Schultern seines Trägers mehrmals aufzustellen suchte und mehrmals in den Sitz zurückfiel, hielt eine kleine Rede, während welcher er seinen Zylinder in Windeseile hin- und herfahren ließ. Man sah das ganz deutlich, denn während seiner Rede waren alle Automobillaternen auf ihn gerichtet worden, so daß er in der Mitte eines hellen Sternes sich befand.
Nun erkannte man aber auch schon das Interesse, welches die ganze Straße an der Angelegenheit nahm. Auf den Balkonen, die von Parteigängern des Kandidaten besetzt waren, fiel man mit in das Singen seines Namens ein und ließ die weit über das Geländer vorgestreckten Hände maschinenmäßig klatschen. Auf den übrigen Balkonen, die sogar in der Mehrzahl waren, erhob sich ein starker Gegengesang, der allerdings keine einheitliche Wirkung hatte, da es sich um die Anhänger verschiedener Kandidaten handelte. Dagegen verbanden sich weiterhin alle Feinde des anwesenden Kandidaten zu einem allgemeinen Pfeifen, und sogar Grammophone wurden vielfach wieder in Gang gesetzt. Zwischen den einzelnen Balkonen wurden politische Streitigkeiten mit einer durch die nächtliche Stunde verstärkten Erregung ausgetragen. Die meisten waren schon in Nachtkleidern und hatten nur Überröcke umgeworfen, die Frauen hüllten sich in große, dunkle Tücher, die unbeachteten Kinder kletterten beängstigend auf den Einfassungen der Balkone umher und kamen in immer größerer Zahl aus den dunklen Zimmern, in denen sie schon geschlafen hatten, hervor. Hie und da wurden einzelne unkenntliche Gegenstände von besonders Erhitzten in der Richtung ihrer Gegner geschleudert, manchmal gelangten sie an ihr Ziel, meist aber fielen sie auf die Straße hinab, wo sie oft ein Wutgeheul hervorriefen. Wurde den führenden Männern unten der Lärm zu arg, so erhielten die Trommler und Trompeter den Auftrag einzugreifen, und ihr schmetterndes, mit ganzer Kraft ausgeführtes, nicht endenwollendes Signal unterdrückte alle menschlichen Stimmen bis zu den Dächern der Häuser hinauf. Und immer, ganz plötzlich – man glaubte es kaum –, hörten sie auf, worauf die hierfür offenbar eingeübte Menge auf der Straße in die für einen Augenblick eingetretene allgemeine Stille ihren Parteigesang emporbrüllte – man sah im Lichte der Automobillaternen den Mund jedes einzelnen weit geöffnet –, bis dann die inzwischen zur Besinnung gekommenen Gegner zehnmal so stark wie früher aus allen Balkonen und Fenstern hervorschrien und die Partei unten nach ihrem kurzen Sieg zu einem für diese Höhe wenigstens gänzlichen Verstummen brachten.
„Wie gefällt es dir, Kleiner?“ fragte Brunelda, die sich eng hinter Karl hin- und herdrehte, um mit dem Gucker möglichst alles zu übersehen. Karl antwortete nur durch Kopfnicken. Nebenbei bemerkte er, wie Robinson dem Delamarche eifrig verschiedene Mitteilungen offenbar über Karls Verhalten machte, denen aber Delamarche keine Bedeutung beizumessen schien, denn er suchte Robinson mit der Linken, mit der Rechten hatte er Brunelda umfaßt, immerfort beiseite zu schieben. „Willst du nicht durch den Gucker schauen?“ fragte Brunelda und klopfte auf Karls Brust, um zu zeigen, daß sie ihn meine.
„Ich sehe genug“, sagte Karl.
„Versuch es doch“, sagte sie „du wirst besser sehen.“
„Ich habe gute Augen“, antwortete Karl „ich sehe alles.“ Er empfand es nicht als Liebenswürdigkeit, sondern als Störung, als sie den Gucker seinen Augen näherte, und tatsächlich sagte sie nun nichts als das eine Wort „Du!“, melodisch, aber drohend. Und schon hatte Karl den Gucker an seinen Augen und sah nun tatsächlich nichts.
„Ich sehe ja nichts“, sagte er und wollte den Gucker loswerden, aber den Gucker hielt sie fest, und den auf ihrer Brust eingebetteten Kopf konnte er weder zurück noch seitwärts schieben.
„Jetzt siehst du aber schon“, sagte sie und drehte an der Schraube des Guckers.
„Nein, ich sehe noch immer nichts“, sagte Karl und dachte daran, daß er Robinson ohne seinen Willen nun tatsächlich entlastet habe, denn Bruneldas unerträgliche Launen wurden nun an ihm ausgelassen.
„Wann wirst du denn endlich sehen?“ sagte sie und drehte – Karl hatte nun sein ganzes Gesicht in ihrem schweren Atem – weiter an der Schraube. „Jetzt?“ fragte sie.
„Nein, nein, nein!“ rief Karl, obwohl er nun tatsächlich, wenn auch nur sehr undeutlich, alles unterscheiden konnte. Aber gerade hatte Brunelda irgend etwas mit Delamarche zu tun, sie hielt den Gucker nur lose vor Karls Gesicht, und Karl konnte, ohne daß sie es besonders beachtete, unter dem Gucker hinweg auf die Straße sehen. Später bestand sie auch nicht mehr auf ihrem Willen und benützte den Gucker für sich.
Aus dem Gastbaus unten war ein Kellner getreten, und aus der Türschwelle hin und her eilend, nahm er die Bestellungen der Führer entgegen. Man sah, wie er sich streckte, um das Innere des Lokals zu übersehen und möglichst viel Bedienung herbeizurufen. Während dieser offenbar einem großen Freitrinken dienenden Vorbereitungen ließ der Kandidat nicht vom Reden ab. Sein Träger, der riesige, nur ihm dienende Mann, machte immer nach einigen Sätzen eine kleine Drehung, um die Rede allen Teilen der Menge zukommen zu lassen. Der Kandidat hielt sich meist ganz zusammengekrümmt und versuchte mit ruckweisen Bewegungen der einen freien Hand und des Zylinders in der anderen seinen Worten möglichste Eindringlichkeit zu geben. Manchmal aber, in fast regelmäßigen Zwischenräumen, durchfuhr es ihn, er erhob sich mit ausgebreiteten Armen, er redete nicht mehr eine Gruppe, sondern die Gesamtheit an, er sprach zu den Bewohnern der Häuser bis zu den höchsten Stockwerken hinauf, und doch war es vollkommen klar, daß ihn schon in den untersten Stockwerken niemand hören konnte; ja, daß ihm auch, wenn die Möglichkeit gewesen wäre, niemand hätte zuhören wollen, denn jedes Fenster und jeder Balkon war doch zumindest von einem schreienden Redner besetzt. Inzwischen brachten einige Kellner aus dem Gasthaus ein mit gefüllten leuchtenden Gläsern besetztes Brett, im Umfang eines Billards, hervor. Die Führer organisierten die Verteilung, die in Form eines Vorbeimarsches an der Gasthaustür erfolgte. Aber obwohl die Gläser auf dem Brett immer wieder nachgehüllt wurden, genügten sie für die Menge nicht, und zwei Reihen von Schankburschen mußten rechts und links vom Brett durchschlüpfen und die Menge weiterhin versorgen. Der Kandidat hatte natürlich mit dem Reden aufgehört und benützte die Pause, um sich neu zu kräftigen. Abseits von der Menge und dem grellen Licht trug ihn sein Träger langsam hin und her, und nur einige seiner nächsten Anhänger begleiteten ihn dort und sprachen zu ihm hinauf.
„Sieh mal den Kleinen“, sagte Brunelda, „er vergißt vor lauter Schauen, wo er ist.“ Und sie überraschte Karl und drehte mit beiden Händen sein Gesicht sich zu, so daß sie ihm in die Augen sah. Es dauerte aber nur einen Augenblick, denn Karl schüttelte gleich ihre Hände ab, und ärgerlich darüber, daß man ihn nicht ein Weilchen in Ruhe ließ, und gleichzeitig voll Lust, auf die Straße zu gehen und alles von der Nähe anzusehen, suchte er sich nun mit aller Kraft vom Druck Bruneldas zu befreien und sagte: „Bitte, lassen Sie mich weg.“
„Du wirst bei uns bleiben“, sagte Delamarche, ohne den Blick von der Straße zu wenden, und streckte nur eine Hand aus, um Karl am Weggehen zu verhindern.
„Laß nur“, sagte Brunelda und wehrte die Hand des Delamarche ab, „er bleibt ja schon.“ Und sie drückte Karl noch fester ans Geländer, er hätte mit ihr raufen müssen, um sich von ihr zu befreien. Und wenn ihm das auch gelungen wäre, was hätte er damit erreicht! Links von ihm stand Delamarche, rechts hatte sich nun Robinson aufgestellt, er war in einer regelrechten Gefangenschaft.
„Sei froh, daß man dich nicht hinauswirft“, sagte Robinson und beklopfte Karl mit der Hand, die er unter Bruneldas Arm durchgezogen hatte.
„Hinauswirft?“ sagte Delamarche. „Einen entlaufenen Dieb wirft man nicht hinaus, den übergibt man der Polizei. Und das kann ihm gleich morgen früh geschehen, wenn er nicht ganz ruhig ist.“
Von diesem Augenblick an hatte Karl an dem Schauspiel unten keine Freude mehr. Nur gezwungen, weil er Bruneldas wegen sich nicht aufrichten konnte, beugte er sich ein wenig über das Geländer. Voll eigener Sorgen, mit zerstreuten Blicken sah er die Leute unten an, die in Gruppen von etwa zwanzig Mann vor die Gasthaustüre traten, die Gläser ergriffen, sich umdrehten und diese Gläser in der Richtung gegen den jetzt mit sich beschäftigten Kandidaten schwenkten, einen Parteigruß ausriefen, die Gläser leerten und sie, jedenfalls dröhnend, in dieser Höhe aber unhörbar, auf das Brett wieder niedersetzten, um einer neuen, vor Ungeduld lärmenden Gruppe Platz zu machen. Über Auftrag der Führer war die Kapelle, die bisher im Gastbaus gespielt hatte, auf die Gasse getreten, ihre großen Blasinstrumente strahlten aus der dunklen Menge, aber ihr Spiel verging fast im allgemeinen Lärm. Die Straße war nun, wenigstens auf der Seite, wo sich das Gasthaus befand, weithin mit Menschen angefüllt. Von oben, woher Karl am Morgen im Automobil gekommen war, strömten sie herab, von unten, von der Brücke her, liefen sie herauf, und selbst die Leute in den Häusern hatten der Verlockung nicht widerstehen können, in diese Angelegenheit mit eigenen Händen einzugreifen, auf den Balkonen und in den Fenstern waren fast nur Frauen und Kinder zurückgeblieben, während die Männer unten aus den Haustoren drängten. Nun aber hatte die Musik und die Bewirtung den Zweck erreicht, die Versammlung war genügend groß, ein von zwei Automobillaternen flankierter Führer winkte der Musik ab, stieß einen starken Pfiff aus, und nun sah man den ein wenig abgeirrten Träger mit dem Kandidaten durch einen von Anhängern gebahnten Weg eiligst herbeikommen.
Kaum war er bei der Gasthaustüre, begann der Kandidat im Schein der nun im engen Kreis um ihn gehaltenen Automobillaternen seine neue Rede. Aber nun war alles viel schwieriger als früher, der Träger hatte nicht die geringste Bewegungsfreiheit mehr, das Gedränge war zu groß. Die nächsten Anhänger, die früher mit allen möglichen Mitteln die Wirkung der Reden des Kandidaten zu verstärken versucht hatten, hatten nun Mühe, sich in seiner Nähe zu erhalten, wohl zwanzig hielten sich mit aller Anstrengung am Träger fest. Aber selbst dieser starke Mann konnte keinen Schritt nach seinem Willen mehr machen, an eine Einflußnahme auf die Menge durch bestimmte Wendungen oder durch passendes Vorrücken oder Zurückweichen war nicht mehr zu denken. Die Menge flutete ohne Plan, einer lag am anderen, keiner stand mehr aufrecht, die Gegner schienen sich durch neues Publikum sehr vermehrt zu haben, der Träger hatte sich lange in der Nähe der Gasthaustüre gehalten, nun aber ließ er sich, scheinbar ohne Widerstand, die Gasse auf- und abwärts treiben, der Kandidat redete immerfort, aber es war nicht mehr ganz klar, ob er sein Programm auseinanderlegte oder um Hilfe rief; wenn nicht alles täuschte, hatte sich auch ein Gegenkandidat eingefunden, oder gar mehrere, denn hie und da sah man in irgendeinem plötzlich aufflammenden Licht einen von der Menge emporgehobenen Mann mit bleichem Gesicht und geballten Fäusten eine von vielstimmigen Rufen begrüßte Rede halten.
„Was geschieht denn da?“ fragte Karl und wandte sich in atemloser Verwirrung an seine Wächter.
„Wie es den Kleinen aufregt“, sagte Brunelda zu Delamarche und faßte Karl am Kinn, um seinen Kopf an sich zu ziehen. Aber das hatte Karl nicht wollen und er schüttelte sich, durch die Vorgänge auf der Straße förmlich rücksichtslos gemacht, so stark, daß Brunelda ihn nicht nur losließ, sondern zurückwich und ihn gänzlich freigab. „Jetzt hast du genug gesehen“, sagte sie, offenbar durch Karls Benehmen böse gemacht, „geh ins Zimmer, bette auf und bereite alles für die Nacht vor.“ Sie streckte die Hand nach dem Zimmer aus. Das war ja die Richtung, die Karl schon seit einigen Stunden nehmen wollte, er widersprach mit keinem Wort. Da hörte man von der Gasse her das Krachen von viel zersplitterndem Glas. Karl konnte sich nicht bezwingen und sprang noch rasch zum Geländer, um flüchtig noch einmal hinunterzuschauen. Ein Anschlag der Gegner, und vielleicht ein entscheidender, war geglückt, die Automobillaternen der Anhänger, die mit ihrem starken Licht wenigstens die Hauptvorgänge vor der gesamten Öffentlichkeit geschehen ließen und dadurch alles in gewissen Grenzen gehalten hatten, waren sämtlich und gleichzeitig zerschmettert worden, den Kandidaten und seinen Träger umfing nun die gemeinsame unsichere Beleuchtung, die in ihrer plötzlichen Ausbreitung wie völlige Finsternis wirkte. Auch nicht beiläufig hätte man jetzt angeben können, wo sich der Kandidat befand, und das Täuschende des Dunkels wurde noch vermehrt durch einen gerade einsetzenden, breiten, einheitlichen Gesang, der von unten, von der Brücke her sich näherte.
„Habe ich dir nicht gesagt, was du jetzt zu tun hast!“ sagte Brunelda. „Beeile dich. Ich bin müde“, fügte sie hinzu und streckte dann die Arme in die Höhe, so daß sich ihre Brust noch viel mehr wölbte als gewöhnlich. Delamarche, der sie noch immer umfaßt hielt, zog sie mit sich in eine Ecke des Balkons. Robinson ging ihnen nach, um die Überbleibsel seines Essens, die noch dort lagen, beiseite zu schieben.
Diese günstige Gelegenheit mußte Karl ausnützen, jetzt war keine Zeit hinunterzuschauen, von den Vorgängen auf der Straße würde er unten noch genug sehen, und mehr als von hier oben. In zwei Sprüngen eilte er durch das rötlich beleuchtete Zimmer, aber die Tür war verschlossen und der Schlüssel abgezogen. Der mußte jetzt gefunden werden, aber wer wollte in dieser Unordnung einen Schlüssel finden und gar in der kurzen, kostbaren Zeit, die Karl zur Verfügung stand! Jetzt hätte er schon eigentlich auf der Treppe sein, hätte laufen und laufen sollen. Und nun suchte er den Schlüssel! Suchte ihn in allen zugänglichen Schubladen, stöberte auf dem Tisch herum, wo verschiedenes Eßgeschirr, Servietten und irgendeine angefangene Stickerei herumlagen, wurde durch einen Lehnstuhl angelockt, auf dem ein ganz verfitzter Haufen alter Kleidungsstücke sich befand, in denen der Schlüssel sich möglicherweise befinden, aber niemals aufgefunden werden konnte, und warf sich schließlich auf das tatsächlich übelriechende Kanapee, um in allen Ecken und Falten nach dem Schlüssel zu tasten. Dann ließ er vom Suchen ab und stockte in der Mitte des Zimmers. Gewiß hatte Brunelda den Schlüssel an ihrem Gürtel befestigt, sagte er sich, dort hingen ja so viele Sachen, alles Suchen war umsonst.
Und blindlings ergriff Karl zwei Messer und bohrte sie zwischen die Türflügel, eines oben, eines unten, um zwei voneinander entfernte Angriffspunkte zu erhalten. Kaum hatte er an den Messern gezogen, brachen natürlich die Klingen entzwei. Er hatte nichts anderes wollen, die Stümpfe, die er nun fester einbohren konnte, würden desto besser halten. Und nun zog er mit aller Kraft, die Arme weit ausgebreitet, die Beine weit auseinander gestemmt, stöhnend und dabei genau auf die Tür aufpassend. Sie würde nicht auf die Dauer widerstehen können, das erkannte er mit Freuden aus dem deutlich hörbaren Sichlockern der Riegel, je langsamer es aber ging, desto richtiger war es, aufspringen durfte ja das Schloß gar nicht, sonst würde man ja auf dem Balkon aufmerksam werden, das Schloß mußte sich vielmehr ganz langsam voneinander lösen, und darauf arbeitete Karl mit größter Vorsicht hin, die Augen immer mehr dem Schlosse nähernd.
„Seht einmal“, hörte er da die Stimme des Delamarche.
Alle drei standen im Zimmer, der Vorhang war hinter ihnen schon zugezogen, Karl mußte ihr Kommen überhört haben, die Hände sanken ihm bei dem Anblick von den Messern herab. Aber er hatte gar nicht Zeit, irgendein Wort zur Erklärung oder Entschuldigung zu sagen, denn in einem weit über die augenblickliche Gelegenheit hinausgehenden Wutanfall sprang Delamarche – sein gelöstes Schlafrockseil beschrieb eine große Figur in der Luft – auf Karl los. Karl wich noch im letzten Augenblick dem Angriff aus, er hätte die Messer aus der Tür ziehen und zur Verteidigung benützen können, aber das tat er nicht, dagegen griff er, sich bückend und aufspringend, nach dem breiten Schlafrockkragen des Delamarche, schlug ihn in die Höhe, zog ihn dann noch weiter hinauf – der Schlafrock war ja für Delamarche viel zu groß – und hielt nun glücklich den Delamarche beim Kopf, der, allzusehr überrascht, zuerst blind mit den Händen fuchtelte und erst nach einem Weilchen, aber noch nicht mit ganzer Wirkung mit den Fäusten auf Karls Rücken schlug, der sich, um sein Gesicht zu schützen, an die Brust des Delamarche geworfen hatte. Die Faustschläge ertrug Karl, wenn er sich auch vor Schmerzen wand und wenn auch die Schläge immer stärker wurden, aber wie hätte er das nicht ertragen sollen, vor sich sah er ja den Sieg. Die Hände am Kopf des Delamarche, die Daumen wohl gerade über seinen Augen, führte er ihn vor sich her gegen das ärgste Möbeldurcheinander und versuchte überdies, mit den Fußspitzen das Schlafrockseil um die Füße des Delamarche zu schlingen und ihn auch so zu Fall zu bringen.
Da er sich aber ganz und gar mit Delamarche beschäftigen mußte, zumal er dessen Widerstand immer mehr wachsen fühlte und immer sehniger dieser feindliche Körper sich ihm entgegenstemmte, vergaß er tatsächlich, daß er nicht mit Delamarche allein war. Aber nur allzubald wurde er daran erinnert, denn plötzlich versagten seine Füße, die Robinson, der sich hinter ihm auf den Boden geworfen hatte, schreiend auseinander preßte. Seufzend ließ Karl von Delamarche ab, der noch einen Schritt zurückwich. Brunelda stand mit weit auseinander gestellten Beinen und gebeugten Knien in ihrer ganzen Breite in der Zimmermitte und verfolgte die Vorgänge mit leuchtenden Augen. Als beteilige sie sich tatsächlich an dem Kampf, atmete sie tief, visierte mit den Augen und ließ ihre Fäuste langsam vorrücken. Delamarche schlug seinen Kragen nieder, hatte nun wieder freien Blick, und nun gab es natürlich keinen Kampf mehr, sondern bloß eine Bestrafung. Er faßte Karl vorn beim Hemd, hob ihn fast vom Boden und schleuderte ihn, vor Verachtung sah er ihn gar nicht an, so gewaltig gegen einen ein paar Schritte entfernten Schrank, daß Karl im ersten Augenblick meinte, die stechenden Schmerzen im Rücken und am Kopf, die ihm das Aufschlagen am Kasten verursachte, stammten unmittelbar von der Hand des Delamarche. „Du Halunke!“ hörte er den Delamarche in dem Dunkel, das vor seinen zitternden Augen entstand, noch laut ausrufen. Und in der ersten Erschöpfung, in der er vor dem Kasten zusammensank, klangen ihm die Worte „Warte nur!“ noch schwach in den Ohren nach.
Als er zur Besinnung kam, war es um ihn ganz finster, es mochte noch spät in der Nacht sein, vom Balkon her drang unter dem Vorhang ein leichter Schimmer des Mondlichts in das Zimmer. Man hörte die ruhigen Atemzüge der drei Schläfer, die bei weitem lautesten stammten von Brunelda, sie schnaufte im Schlaf, wie sie es bisweilen beim Reden tat; es war aber nicht leicht festzustellen, in welcher Richtung die einzelnen Schläfer sich befanden, das ganze Zimmer war von dem Rauschen ihres Atems voll. Erst nachdem er seine Umgebung ein wenig geprüft hatte, dachte Karl an sich, und da erschrak er sehr, denn wenn er sich auch ganz krumm und steif von Schmerzen fühlte, so hatte er doch nicht daran gedacht, daß er eine schwere blutige Verletzung erlitten haben könnte. Nun aber hatte er eine Last auf dem Kopf, und das ganze Gesicht, der Hals, die Brust unter dem Hemd waren feucht wie von Blut. Er mußte ans Licht, um seinen Zustand genau festzustellen, vielleicht hatte man ihn zum Krüppel geschlagen, dann würde ihn Delamarche wohl gerne entlassen, aber was sollte er dann anfangen, dann gab es wirklich keine Aussichten mehr für ihn. Der Bursche mit der zerfressenen Nase im Torweg fiel ihm ein, und er legte einen Augenblick lang das Gesicht in seine Hände.
Unwillkürlich wandte er sich dann der Tür zu und tastete sich auf allen vieren hin. Bald erfühlte er mit den Fingerspitzen einen Stiefel und weiterhin ein Bein. Das war Robinson, wer schlief sonst in Stiefeln? Man hatte ihm befohlen, sich quer vor die Tür zu legen, um Karl an der Flucht zu hindern. Aber kannte man denn Karls Zustand nicht? Vorläufig wollte er gar nicht entfliehen, er wollte nur ans Licht kommen. Konnte er also nicht zur Tür hinaus, so mußte er auf den Balkon.
Den Eßtisch fand er an einer offenbar ganz anderen Stelle als am Abend, das Kanapee, dem sich Karl natürlich sehr vorsichtig näherte, war überraschenderweise leer, dagegen stieß er in der Zimmermitte auf hochgeschichtete, wenn auch stark gepreßte Kleider, Decken, Vorhänge, Polster und Teppiche. Zuerst dachte er, es sei nur ein kleiner Haufen, ähnlich dem, den er am Abend auf dem Sofa gefunden hatte und der etwa auf die Erde gerollt war, aber zu seinem Staunen bemerkte er beim Weiterkriechen, daß da eine ganze Wagenladung solcher Sachen lag, die man wahrscheinlich für die Nacht aus den Kasten herausgenommen hatte, wo sie während des Tages aufbewahrt wurden. Er umkroch den Haufen und erkannte bald, daß das Ganze eine Art Bettlager darstellte, auf dem hoch oben, wie er sich durch vorsichtiges Tasten überzeugte, Delamarche und Brunelda ruhten.
Jetzt wußte er also, wo alle schliefen, und beeilte sich nun, auf den Balkon zu kommen. Es war eine ganz andere Welt, in der er sich nun, außerhalb des Vorhangs, schnell erhob. In der frischen Nachtluft, im vollen Schein des Mondes ging er einigemal auf dem Balkon auf und ab. Er sah auf die Straße, sie war ganz still, aus dem Gasthaus klang noch die Musik, aber nur gedämpft, hervor, vor der Tür kehrte ein Mann das Trottoir, in der Gasse, in der am Abend innerhalb des wüsten allgemeinen Lärms das Schreien eines Wahlkandidaten von tausend anderen Stimmen nicht hatte unterschieden werden können, hörte man nun deutlich das Kratzen des Besens auf dem Pflaster.
Das Rücken eines Tisches auf dem Nachbarbalkon machte Karl aufmerksam, dort saß ja jemand und studierte. Es war ein junger Mann mit einem kleinen Spitzbart, an dem er beim Lesen, das er mit raschen Lippenbewegungen begleitete, ständig drehte. Er saß, das Gesicht Karl zugewendet, an einem kleinen, mit Büchern bedeckten Tisch, die Glühlampe hatte er von der Mauer abgenommen, zwischen zwei große Bücher geklemmt, und war nun von ihrem grellen Licht ganz überleuchtet.
„Guten Abend“, sagte Karl, da er bemerkt zu haben glaubte, daß der junge Mann zu ihm herübergeschaut hätte.
Aber das mußte wohl ein Irrtum gewesen sein, denn der junge Mann schien ihn überhaupt noch nicht bemerkt zu haben, legte die Hand über die Augen, um das Licht abzublenden und festzustellen, wer da plötzlich grüßte, und hob dann, da er noch immer nichts sah, die Glühlampe hoch, um mit ihr auch den Nachbarbalkon ein wenig zu beleuchten.
„Guten Abend“, sagte dann auch er, blickte einen Augenblick lang scharf hinüber, und fügte dann hinzu: „Und was Weiter?“
„Ich störe Sie?“ fragte Karl.
„Gewiß, gewiß“, sagte der Mann und brachte die Glühlampe wieder an ihren früheren Ort.
Mit diesen Worten war allerdings jede Anknüpfung abgelehnt, aber Karl verließ trotzdem die Balkonecke, in der er dem Manne am nächsten war, nicht. Stumm sah er zu, wie der Mann in seinem Buche las, die Blätter wendete, hie und da in einem anderen Buche das er immer mit Blitzesschnelle ergriff, irgend etwas nachschlug und öfters Notizen in ein Heft eintrug, wobei er immer überraschend tief das Gesicht zu dem Hefte senkte.
Ob dieser Mann vielleicht ein Student war? Es sah ganz so aus, als ob er studierte. Nicht viel anders – jetzt war es schon lange her – war Karl zu Hause am Tisch der Eltern gesessen und hatte seine Aufgaben geschrieben, während der Vater die Zeitung las oder Bucheintragungen und Korrespondenzen für einen Verein erledigte und die Mutter mit einer Näharbeit beschäftigt war und hoch den Faden aus dem Stoffe zog. Um den Vater nicht zu belästigen, hatte Karl nur das Heft und das Schreibzeug auf den Tisch gelegt, während er die nötigen Bücher rechts und links von sich auf Sesseln angeordnet hatte. Wie still war es dort gewesen! Wie selten waren fremde Leute in jenes Zimmer gekommen! Schon als kleines Kind hatte Karl immer gerne zugesehen, wenn die Mutter gegen Abend die Wohnungstür mit dem Schlüssel absperrte. Sie hatte keine Ahnung davon, daß es jetzt mit Karl so weit gekommen war, daß er fremde Türen mit Messern aufzubrechen suchte.
Und welchen Zweck hatte sein ganzes Studium gehabt! Er hatte ja alles vergessen; wenn es darauf angekommen wäre, hier sein Studium fortzusetzen, es wäre ihm sehr schwer geworden. Er erinnerte sich daran, daß er zu Hause einmal einen Monat lang krank gewesen war; welche Mühe hatte es ihn damals gekostet, sich nachher wieder in dem unterbrochenen Lernen zurechtzufinden. Und nun hatte er außer dem Lehrbuch der englischen Handelskorrespondenz schon so lange kein Buch gelesen.
„Sie, junger Mann“, hörte sich Karl plötzlich angesprochen, „könnten Sie sich nicht anderswo aufstellen? Ihr Herüberstarren stört mich schrecklich. Um zwei Uhr in der Nacht kann man doch schließlich verlangen, auf dem Balkon ungestört arbeiten zu können. Wollen Sie denn etwas von mir?“
„Sie studieren?“ fragte Karl.
„Ja, ja“, sagte der Mann und benützte dieses für das Lernen verlorene Weilchen, um unter seinen Büchern eine neue Ordnung einzurichten.
„Dann will ich Sie nicht stören“, sagte Karl, „ich gehe überhaupt schon ins Zimmer zurück. Gute Nacht.“
Der Mann gab nicht einmal eine Antwort, mit einem plötzlichen Entschlusse hatte er sich nach Beseitigung dieser Störung wieder ans Studieren gemacht und stützte die Stirn schwer in die rechte Hand.
Da erinnerte sich Karl knapp vor dem Vorhang daran, warum er eigentlich herausgekommen war, er wußte ja noch gar nicht, wie es mit ihm stand. Was lastete nur so auf seinem Kopf? Er griff hinauf und staunte, da war keine blutige Verletzung, wie er im Dunkel des Zimmers gefürchtet hatte, es war nur ein noch immer feuchter, turbanartiger Verband. Er war, nach den noch hie und da hängenden Spitzenüberresten zu schließen, aus einem alten Wäschestück Bruneldas gerissen, und Robinson hatte ihn wohl flüchtig Karl um den Kopf gewickelt. Nur hatte er vergessen, ihn auszuwinden, und so war während Karls Bewußtlosigkeit das viele Wasser das Gesicht hinab- und unter das Hemd geronnen und hatte Karl solchen Schrecken eingejagt.
„Sie sind wohl noch immer da?“ fragte der Mann und blinzelte hinüber.
„Jetzt gehe ich aber wirklich schon“, sagte Karl „ich wollte hier nur etwas anschauen, im Zimmer ist es ganz finster.“
„Wer sind Sie denn?“ sagte der Mann, legte den Federhalter in das vor ihm geöffnete Buch und trat an das Geländer. „Wie heißen Sie? Wie kommen Sie zu den Leuten? Sind Sie schon lange hier? Was wollen Sie denn anschauen? Drehen Sie doch Ihre Glühlampe dort auf, damit man Sie sehen kann.“
Karl tat dies, zog aber, ehe er antwortete, noch den Vorhang der Tür fester zu, damit man im Inneren nichts merken konnte. „Verzeihen Sie“, sagte er dann im Flüsterton, „daß ich so leise rede. Wenn mich die drinnen hören, habe ich wieder einen Krawall.“
„Wieder?“ fragte der Mann.
„Ja“, sagte Karl, „ich habe ja erst abends einen großen Streit mit ihnen gehabt. Ich muß da noch eine fürchterliche Beule haben.“ Und er tastete hinten seinen Kopf ab. „Was war denn das für ein Streit?“ fragte der Mann und fügte, da Karl nicht gleich antwortete, hinzu: „Mir können Sie ruhig alles anvertrauen, was Sie gegen diese Herrschaften auf dem Herzen haben. Ich hasse sie nämlich alle drei, und ganz besonders Ihre Madame. Es sollte mich übrigens wundern, wenn man Sie nicht schon gegen mich gehetzt hätte. Ich heiße Josef Mendel und bin Student.“
„Ja“, sagte Karl, „erzählt hat man mir schon von Ihnen, aber nichts Schlimmes. Sie haben wohl einmal Frau Brunelda behandelt, nicht wahr?“
„Das stimmt“, sagte der Student und lachte. „Riecht das Kanapee noch danach?“
„O ja“, sagte Karl.
„Das freut mich aber“, sagte der Student und fuhr mit der Hand durchs Haar. „Und warum macht man Ihnen Beulen?“
„Es war ein Streit“, sagte Karl im Nachdenken darüber, wie er es dem Studenten erklären sollte. Dann aber unterbrach er sich und sagte: „Störe ich Sie denn nicht?“ „Erstens“, sagte der Student, „haben Sie mich schon gestört, und ich bin leider so nervös, daß ich lange Zeit brauche, um mich wieder zurechtzufinden. Seit Sie da Ihre Spaziergänge auf dem Balkon angefangen haben, komme ich mit dem Studieren nicht vorwärts. Zweitens aber mache ich um drei Uhr immer eine Pause. Erzählen Sie also nur ruhig. Es interessiert mich auch.“
„Es ist ganz einfach“, sagte Karl. „Delamarche will, daß ich bei ihm Diener werde. Aber ich will nicht. Ich wäre am liebsten noch gleich abends weggegangen. Er wollte mich nicht lassen, hat die Tür abgesperrt, ich wollte sie aufbrechen, und dann kam es zu der Rauferei. Ich bin unglücklich, daß ich noch hier bin.“
„Haben Sie denn eine andere Stellung?“ fragte der Student.
„Nein“, sagte Karl, „aber daran liegt mir nichts, wenn ich nur von hier fort wäre.“
„Hören Sie einmal“, sagte der Student, „daran liegt Ihnen nichts?“ Und beide schwiegen ein Weilchen. „Warum wollen Sie denn bei den Leuten nicht bleiben?“ fragte dann der Student.
„Delamarche ist ein schlechter Mensch“, sagte Karl, „ich kenne ihn schon von früher her. Ich marschierte einmal einen Tag lang mit ihm und war froh, als ich nicht mehr bei ihm war. Und jetzt soll ich Diener bei ihm werden?“
„Wenn alle Diener bei der Auswahl ihrer Herrschaften so heikel sein wollten wie Sie!“ sagte der Student und schien zu lächeln. „Sehen Sie, ich bin während des Tages Verkäufer, niedrigster Verkäufer, eher schon Laufbursche im Warenhaus von Montly. Dieser Montly ist zweifellos ein Schurke, aber das läßt mich ganz ruhig, wütend bin ich nur, daß ich so elend bezahlt werde. Nehmen Sie sich also an mir ein Beispiel.“
„Wie?“ sagte Karl, „Sie sind bei Tag Verkäufer und in der Nacht studieren Sie?“
„Ja“, sagte der Student, „es geht nicht anders. Ich habe schon alles mögliche versucht, aber diese Lebensweise ist noch die beste. Vor Jahren war ich nur Student, bei Tag und Nacht, wissen Sie, nur bin ich dabei fast verhungert, habe in einer schmutzigen alten Höhle geschlafen und wagte mich in meinem damaligen Anzug nicht in die Hörsäle. Aber das ist vorüber.“
„Aber wann schlafen Sie?“ fragte Karl und sah den Studenten verwundert an.
„Ja, schlafen!“ sagte der Student. „Schlafen werde ich, wenn ich mit meinem Studium fertig bin. Vorläufig trinke ich schwarzen Kaffee.“ Und er wandte sich um, zog unter seinem Studiertisch eine große Flasche hervor, goß aus ihr schwarzen Kaffee in ein Täßchen und schüttete ihn in sich hinein, so wie man Medizinen eilig schluckt, um möglichst wenig von ihrem Geschmack zu spüren.
„Eine feine Sache, der schwarze Kaffee“, sagte der Student. „Schade, daß Sie so weit sind, daß ich Ihnen nicht ein wenig hinüberreichen kann.“
„Mir schmeckt schwarzer Kaffee nicht“, sagte Karl.
„Mir auch nicht“, sagte der Student und lachte. „Aber was wollte ich ohne ihn anfangen. Ohne den schwarzen Kaffee würde mich Montly keinen Augenblick behalten. Ich sage immer Montly, obwohl der natürlich keine Ahnung hat, daß ich auf der Welt bin. Ganz genau weiß ich nicht, wie ich mich im Geschäft benehmen würde, wenn ich nicht dort im Pult eine gleich große Flasche wie diese immer vorbereitet hätte, denn ich habe noch nie gewagt, mit dem Kaffeetrinken auszusetzen, aber, glauben Sie mir nur, ich würde bald hinter dem Pulte liegen und schlafen. Leider ahnt man das, sie nennen mich dort den ‚Schwarzen Kaffee‘, was ein blödsinniger Witz ist und mir gewiß in meinem Vorwärtskommen schon geschadet hat.“
„Und wann werden Sie mit Ihrem Studium fertig werden?“ fragte Karl.
„Es geht langsam“, sagte der Student mit gesenktem Kopf. Er verließ das Geländer und setzte sich wieder an den Tisch; die Ellbogen auf das offene Buch aufgestützt, mit den Händen durch seine Haare fahrend, sagte er dann: „Es kann noch ein bis zwei Jahre dauern.“
„Ich wollte auch studieren“, sagte Karl, als gebe ihm dieser Umstand ein Anrecht auf ein noch größeres Vertrauen, als es der jetzt verstummende Student ihm gegenüber schon bewiesen hatte.
„So“, sagte der Student, und es war nicht ganz klar, ob er in seinem Buche schon wieder las oder nur zerstreut hineinstarrte, „seien Sie froh, daß Sie das Studium aufgegeben haben. Ich selbst studiere schon seit Jahren eigentlich nur aus Konsequenz. Befriedigung habe ich wenig davon und Zukunftsaussichten noch weniger. Welche Aussichten wollte ich denn haben! Amerika ist voll von Schwindeldoktoren.“
„Ich wollte Ingenieur werden“, sagte Karl noch eilig zu dem scheinbar schon gänzlich unaufmerksamen Studenten hinüber.
„Und jetzt sollen Sie Diener bei diesen Leuten werden“, sagte der Student und sah flüchtig auf, „das schmerzt Sie natürlich.“
Diese Schlußfolgerung des Studenten war allerdings ein Mißverständnis, aber vielleicht konnte es Karl beim Studenten nützen. Er fragte deshalb: „Könnte ich nicht vielleicht auch eine Stelle im Warenhaus bekommen?“
Diese Frage riß den Studenten völlig von seinem Buche los; der Gedanke, daß er Karl bei seiner Postenbewerbung behilflich sein könnte, kam ihm gar nicht. „Versuchen Sie es“, sagte er, „oder versuchen Sie es lieber nicht. Daß ich meinen Posten bei Montly bekommen habe, ist der bisher größte Erfolg meines Lebens gewesen. Wenn ich zwischen dem Studium und meinem Posten zu wählen hatte, würde ich natürlich den Posten wählen. Meine Anstrengung geht nur darauf hin, die Notwendigkeit einer solchen Wahl nicht eintreten zu lassen.“ „So schwer ist es, dort einen Posten zu bekommen“, sagte Karl mehr für sich.
„Ach, was denken Sie denn“, sagte der Student, „es ist leichter, hier Bezirksrichter zu werden als Türöffner bei Montly.“
Karl schwieg. Dieser Student, der doch so viel erfahrener war als er und der den Delamarche aus irgendwelchen Karl noch unbekannten Gründen haßte, der dagegen Karl gewiß nichts Schlechtes wünschte, fand für Karl kein Wort der Aufmunterung, den Delamarche zu verlassen. Und dabei kannte er noch gar nicht die Gefahr, die Karl von der Polizei drohte und vor der er nur bei Delamarche halbwegs geschützt war.
„Sie haben doch am Abend die Demonstration unten gesehen? Nicht wahr? Wenn man die Verhältnisse nicht kannte, sollte man doch denken, dieser Kandidat, er heißt Lobter, werde doch irgendwelche Aussichten haben oder er komme doch wenigstens in Betracht, nicht?“
„Ich verstehe von Politik nichts“, sagte Karl.
„Das ist ein Fehler“, sagte der Student. „Aber abgesehen davon haben Sie doch Augen und Ohren. Der Mann hat doch zweifellos Freunde und Feinde gehabt, das kann Ihnen doch nicht entgangen sein. Und nun bedenken Sie, der Mann hat, meiner Meinung nach, nicht die geringsten Aussichten, gewählt zu werden. Ich weiß zufällig alles über ihn, es wohnt da bei uns einer, der ihn kennt. Er ist kein unfähiger Mensch, und seinen politischen Ansichten und seiner politischen Vergangenheit nach wäre gerade er der passende Richter für den Bezirk. Aber kein Mensch denkt daran, daß er gewählt werden könnte, er wird so prachtvoll durchfallen, als man durchfallen kann, er wird für die Wahlkampagne seine paar Dollars hinausgeworfen haben, das wird alles sein.“
Karl und der Student sahen einander ein Weilchen schweigend an. Der Student nickte lächelnd und drückte mit einer Hand die müden Augen.
„Nun, werden Sie noch nicht schlafen gehen?“ fragte er dann. „Ich muß ja auch wieder studieren. Sehen Sie, wieviel ich noch durchzuarbeiten habe.“ Und er blätterte ein halbes Buch rasch durch, um Karl einen Begriff von der Arbeit zu geben, die noch auf ihn wartete.
„Dann also gute Nacht“, sagte Karl und verbeugte sich.
„Kommen Sie doch einmal zu uns herüber“, sagte der Student, der schon wieder an seinem Tisch saß, „natürlich nur, wenn Sie Lust haben. Sie werden hier immer große Gesellschaft finden. Von neun bis zehn Uhr abends habe ich auch für Sie Zeit.“
„Sie raten mir also, bei Delamarche zu bleiben?“ fragte Karl.
„Unbedingt“, sagte der Student und senkte schon den Kopf zu seinen Büchern. Es schien, als hätte gar nicht er das Wort gesagt; wie von einer Stimme gesprochen, die tiefer war als jene des Studenten, klang es noch in Karls Ohren nach. Langsam ging er zum Vorhang, warf noch einen Blick auf den Studenten, der jetzt ganz unbeweglich, von der großen Finsternis umgeben, in seinem Lichtschein saß, und schlüpfte ins Zimmer. Die vereinten Atemzüge der drei Schläfer empfingen ihn. Er suchte die Wand entlang das Kanapee und, als er es gefunden hatte, streckte er sich ruhig auf ihm aus, als sei es sein gewohntes Lager. Da ihm der Student, der den Delamarche und die hiesigen Verhältnisse genau kannte und überdies ein gebildeter Mann war, geraten hatte, hier zu bleiben, hatte er vorläufig keine Bedenken. So hohe Ziele wie der Student hatte er nicht, wer weiß, ob es ihm sogar zu Hause gelungen wäre, das Studium zu Ende zu führen, und wenn es zu Hause kaum möglich schien, so konnte niemand verlangen, daß er es hier im fremden Lande tue. Die Hoffnung aber, einen Posten zu finden, in dem er etwas leisten und für seine Leistungen anerkannt werden könnte, war gewiß größer, wenn er vorläufig die Dienerstelle bei Delamarche annahm und aus dieser Sicherheit heraus eine günstige Gelegenheit abwartete. Es schienen sich ja in dieser Straße viele Büros mittleren und unteren Ranges zu befinden, die vielleicht im Falle des Bedarfes bei der Auswahl ihres Personals nicht gar zu wählerisch waren. Er wollte ja gern, wenn es sein mußte, Geschäftsdiener werden, aber schließlich war es ja gar nicht ausgeschlossen, daß er auch für reine Büroarbeit aufgenommen werden konnte und einstmals als Bürobeamter an seinem Schreibtisch sitzen und ohne Sorgen ein Weilchen lang aus dem offenen Fenster schauen würde wie jener Beamte, den er heute früh beim Durchmarsch durch die Höfe gesehen hatte. Beruhigend fiel ihm ein, als er die Augen schloß, daß er doch jung war und daß Delamarche ihn doch einmal freigeben würde; dieser Haushalt sah ja wirklich nicht danach aus, als sei er für die Ewigkeit gemacht. Wenn aber Karl einmal einen solchen Posten in einem Büro hätte, dann wollte er sich mit nichts anderem beschäftigen als mit seinen Büroarbeiten und nicht die Kräfte zersplittern wie der Student. Wenn es nötig sein sollte, wollte er auch die Nacht fürs Büro verwenden, was man ja im Beginn bei seiner geringen kaufmännischen Vorbildung sowieso von ihm verlangen würde. Er wollte nur an das Interesse des Geschäftes denken, dem er zu dienen hätte, und allen Arbeiten sich unterziehen, selbst solchen, die andere Bürobeamte als ihrer nicht würdig zurückweisen würden. Die guten Vorsätze drängten sich in seinem Kopf, als stehe sein künftiger Chef vor dem Kanapee und lese sie von seinem Gesicht ab.
In solchen Gedanken schlief Karl ein und nur im ersten Halbschlaf störte ihn noch ein gewaltiges Seufzen Bruneldas, die, scheinbar von schweren Träumen geplagt, sich auf ihrem Lager wälzte.