Zum Hauptinhalt springen

Zeit

I.

Ein entsprechendes Wort für diesen Begriff hat überall und immer der Gemeinsprache angehört. Seitdem es Menschen gibt. Es scheint, daß die Tiere von dem Zeitverlaufe und der Zeitdauer, die uns so wohlbekannte Vorstellungen sind, höchstens dunkle Ahnungen haben. Der Mensch kann, wenn er dazu ein Psychologe der neuen Schule ist, noch zwei Eindrücke als in der Zeit verschieden wahrnehmen, die nur durch ¹/₅₀₀ einer Sekunde getrennt sind.

Trotz dieser Genauigkeit der subjektiven Empfindung und der objektiven Messung ist das Zeitproblem eines der schwersten Probleme der Menschheit geblieben; und eines der gefährlichsten dazu; der menschliche Verstand ist ungeeignet, alle sich aufdrängenden Fragen zu beantworten, und kann leicht in die Irre gehen, wenn er zu einer Beschränkung der Fragen nicht stark genug ist.

Das Problem ist so schwer und die Gemeinsprachen gehen an ihm mit so kindlicher Sicherheit vorüber, daß die Etymologien von χρονος, tempus, Zeit usw., auch wenn sie gesichert wären, und daß die entsprechenden Wortgeschichten uns diesmal nicht im mindesten fördern würden. Wer sich über die Begriffsgeschichte orientieren will, der findet eine gute Darstellung in einer Abhandlung von Posch »Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung« (Vierteljahrschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 23 und 24).

Ich habe einmal die Lösung des eigentlichen Zeitproblems zu erraten versucht und bin davon ausgegangen, daß die Zeit nicht eine Form der Anschauung sei, sondern eine Bedingung der adjektivischen Wirklichkeitswelt, also wieder der Anschauung, der äußern und der innern. Ich geriet immer tiefer in unlösbare Widersprüche und rettete meine Besinnung dadurch, daß ich mir der Widersprüche klar wurde, bewußt. Was ich also hier zu bieten wagen kann, das sind nur einige Gedanken über die Beziehungen des Zeitbegriffs zu den physikalischen Lehren von der Bewegung, über die Beziehungen des Zeitverlaufs zu der Lehre von der Entropie und über die Beziehungen des Zeitgefühls zu dem, was unserem Ichgefühl zugrunde liegt, dem Gedächtnis. Die Bemerkungen über Zeit und Bewegung werden sich genauer an die bisherige Philosophie der Zeit anlehnen und gerade darum die Widersprüche in der Metaphysik unserer Physik ausführlich darlegen; ich darf nicht hoffen, die allgemeine Verwirrung der Begriffe völlig entwirrt zu haben. Die Bemerkungen über Zeit und Entropie treten so neu auf, daß ich die Widersprüche vielleicht selbst nicht in der nötigen Distanz sehe; ich habe mich darum verpflichtet gefühlt, die neue Idee bloß als eine Vergleichungsmöglichkeit zwischen der Entropie der Wärme und der Entropie der Zeit vorzutragen. Vollends die Bemerkungen über Zeit und Gedächtnis beschränken sich auf einige wenige Worte, deren Gedanken auszuspinnen sich eine jüngere Kraft anregen lassen mag.

II.

Wenn diejenigen Begriffe die brauchbarsten sind, welche sich am sichersten dividieren, welche sich durch Zahlen messen lassen, so müßten die Ausdrücke für Raum und Zeit unsern Scharfsinn am wenigsten bemühen. Kann sich doch jedermann seinen Zollstock und seinen Chronometer kaufen und hat dann Raum und Zeit in der Tasche.

Was zuerst die Zeit betrifft, so sind unsere Einrichtungen für den praktischen Gebrauch allerdings genau genug. Mit der Uhr in der Hand kann die Köchin voraus wissen, wann die Eier im siedenden Wasser pflaumenweich werden, der Photograph, wann die Platte lang genug dem Sonnenlicht exponiert war, der Geschäftsreisende, wie schnell er zum Bahnhof zu gehen habe, um seinen Zug zu erreichen. Es sei kein Gewicht darauf gelegt, daß auch diese ewigen Wahrheiten Ausnahmen zulassen, daß z. B. der Geschäftsreisende wegen der inzwischen eingeführten mitteleuropäischen Zeit zu spät kommen kann, daß die Sonne trotz allen Glanzes, ihrer Stellung zur Atmosphäre wegen, wirkungsloser wird, daß die Eier roh bleiben, weil das Wasser auf einem hohen Berge siedet. Wir wollen von diesen Nebenumständen absehen, weil sie sich alle wissenschaftlich und zahlenmäßig bestimmen lassen; wir wollen nur fragen, ob die Zeit für uns, trotz aller mathematischen Genauigkeit, objektiv und subjektiv irgend etwas fest Bestimmtes sei.

Objektiv nun kann es keinem Zweifel unterliegen, daß wir die Zeit am letzten Ende nicht an einer Zeiteinheit messen, sondern an einer Bewegung. Hätte eine antike Hausfrau die Zeit bestimmen sollen, in der das Ei unter normalen Umständen in siedendem Wasser pflaumenweich wird, so hätte sie sich nach einer Sanduhr gerichtet und die Bewegung der Sandkörnchen zum Maß der Zeit genommen. Wir tun dasselbe, auch wenn wir die Sanduhr, die der Köchin wieder zur Hand ist, nicht mehr benützen. Den großen Kreislauf der Erde um die Sonne nehmen wir als große Zeiteinheit an und nennen sie ein Jahr. Die Umdrehung der Erde um sich selbst nennen wir einen Tag. Aber selbst die künstliche Einteilung der Tageseinheit in Stunden1, Minuten und Sekunden können wir selbstverständlich nicht durch Anlegen eines noch kleineren Zeitmaßes gewinnen, denn da Jahr und Tag Bewegungen sind, so können sie wieder nur durch Bewegungen gemessen werden. Und als die Astronomen gelernt hatten, die Umdrehungen der Erde unter die Klasse der gehemmten Fallbewegungen zu bringen, mußte ihre Größe wieder durch gehemmte Fallbewegungen gemessen werden. So ist der Maßstab für Sekunden und Minuten die Bewegung des Pendels, oder was ihr in unseren Taschenuhren entspricht.

Bedenkt man nun, daß jede Bewegung die Wirkung unbekannter Ursachen ist, die Zeit aber ein unbekannter Faktor dieser unbekannten Ursachen, so wird man zugeben, daß die Zeit eben auch nur für den Sprachgebrauch des täglichen Lebens nutzbar gemacht, als Sprachbegriff aber objektiv unfaßbar ist.

In subjektiver Beziehung ist, wie eine Baersche Phantasie schon gelehrt hat, die Zeit ganz unkontrollierbar. Die Stunde kann verfliegen oder sich zur Unerträglichkeit dehnen. Für unser subjektives Empfinden ist die Zeit wie das Gefäß eines Taschenspielers, das bald durch einen Tropfen gefüllt werden, bald nach endlosem Eingießen leer bleiben kann.

Nun scheint dafür der Raum das meßbarste aller Dinge geworden zu sein. Der Einwand, daß auch die feinsten Meßinstrumente (ebenso wie bei der Zeit) immer nur annähernde Vergleiche zulassen, mag für eine Schikane gelten, obgleich das à-peu-près für alle Begriffe, also auch für Raum und Zeit gelten wird. Mag man ferner davon absehen, daß die Raumgröße aller Dinge sich durch Wärmeunterschiede unaufhörlich ändert, wie denn auch die Länge und Bewegung des Pendels nach der Temperatur wechselt, das sind wohl Kleinigkeiten, die die Zahlenformeln schließlich doch nur verwickelter machen.

Aber am letzten Ende ist jeder Raumbegriff – selbst die Entfernung meiner Fingerspitzen von meinem Auge – doch nur der Ausdruck für eine Bewegungsgröße. Und wie bei der Zeit die Bewegung des Pendels zum Maß der kleinsten Einheiten gemacht wird, so ist schließlich das Maß für unsere handlichen Raumeinheiten der lebendige Mensch, d. h. die Bewegung seines Armes. Man mache sich doch klar, daß ein von Geburt an gelähmter Mensch, der auch die Augen nicht bewegen könnte, gewiß unsere Vorstellung vom Raum nicht besäße. Eine Wanze, die Zeit ihres Lebens eine ebene Wand bewohnt, nimmt keinen dreidimensionalen Raum wahr, sondern nur einen flächenhaften, der höchstens durch die Dicke der Wanze materialisiert wird. Was ohne Bewegung vom Raum übrig bliebe, das wäre die bloße Richtung, die nicht meßbar ist.

Selbst die Richtung aber verwirrt sich ins Tolle, wenn wir Folgendes erwägen: Wir halten die Richtung zwischen unseren Augen und einer Kirchturmspitze fest; in der Wirklichkeit stürzt die Erde mit samt dieser Richtung im schnellsten Kreislauf um sich selber, die Sonne reißt gleichzeitig die sich samt unserer Richtung drehende Erde im reißenden Lauf um sich herum; irgend eine Zentralsonne schmettert die Sonne mit samt allen stürzenden Planeten und diese mit samt ihren doppelten unausdrückbaren Flügen, also auch die Erde mit samt unserer Richtung, herum … und hinter der Zentralsonne wirkt vielleicht wieder eine Urmuttersonne … wo? Im Raume?

III.

Bewegung, Raum, Zeit und Kraft (Kausalität) sind im Sprechen oder Denken der Menschen so durcheinander gewirrt, daß es nicht wundern kann, wenn die schärfsten Köpfe seit Jahrtausenden nicht imstande waren, die einzelnen Begriffe auseinander zu wirren. Der Versuch muß je nach dem Stande der phoronomischen Vorstellungen immer wieder neu gemacht werden.

Selbst die wohlbekannten Ortsveränderungen, welche erst den gemeinen Begriff der Bewegung in die Sprache gebracht haben, sind nicht von einerlei Art. Bewegungen der Menschen, wie sie schon das Kind im Mutterleibe vollführt, und wie sie der Mensch unserer Zeit im Wagen, auf dem Schiffe, in der Eisenbahn, im Luftschiff immer schneller und komplizierter ausführt, sind immer von Erlebnissen begleitet. Der laufende Mensch nimmt den Raum, in dem er sich bewegt, mit den Augen und zugleich mit dem Tastgefühl wahr. Selbst Gehör, Geruch und Wärmesinn können sich an der Beobachtung beteiligen. Dazu empfindet der sich bewegende Mensch die ablaufende Zeit und ist sich seiner eigenen Kraft oder seines Willens oder eines Motivs seiner Bewegung bewußt. Er bewegt sich im Raume. Seine Sprache macht es ihm unmöglich, die metaphorische Tautologie der Präposition in zu fassen. Nur strenges Nachdenken wird ihn befähigen, wenigstens das Metaphorische der Präposition (in der Zeit) zu begreifen. »Im Raume« heißt so viel wie »im Raume des Raums«. »In der Zeit« bildlich so viel wie »im Raume der Zeit«.

Die Bewegung pflanzlicher Organismen hat noch viel Ähnlichkeit mit der der Tiere und Menschen. Auch Zeitgefühl soll ja nach Experimenten mit Bäumen, die in ein anderes Klima versetzt wurden (nordische Birken treiben, nach dem Süden versetzt, so spät wie zu hause), den Pflanzen nicht fremd sein. Und doch ein Unterschied. Die Pflanze verändert sich und bewegt sich im Raume, im Koordinatensystem, dessen Nullpunkt etwa die Grenze zwischen Stamm und Wurzel ist, sie bewegt sich relativ zu diesem Koordinatensystem, kennt aber nicht Veränderung des Ortes.

Die Gesetze der Bewegung wurden aber nicht – wie sprachlich und heute noch dynamisch die Gesetze der Kraft – von tierischen und menschlichen Bewegungen hergenommen, sondern von den aus eigener oder fremder Kraft bewegten anorganischen Körpern, geworfenen Steinen und kreisenden Planeten. Ballistik und Astronomie, Kriegskunst und Kalender forderten eine Phoronomie. Wie bei der Eigenbewegung konnte der Mensch die Bewegung des geworfenen Steins sehen, die des fallenden tasten. Konnte nach der ungeheuren Geistesarbeit Newtons die Bewegung des Steins der der Planeten gleichsetzen. Aber noch Newton nahm die Begriffe Bewegung, Raum, Zeit, Kraft fast unkritisch, wie die Gemeinsprache sie ihm bot. Bei der Beobachtung der Steinbewegung wird die Bewegung im Raume, in der Zeit beinahe gleich metaphorisch. Wie der Mensch bei den Mitmenschen ohne Beweis ein dem eigenen gleiches Seelenleben voraussetzt, so setzt er beim fliegenden Stein einen objektiven Raum voraus, den der Stein nicht selber fühlt. Und eine objektive Zeit, die der Stein wieder nicht selber fühlt. Newtons absoluter Raum ist nichts weiter als der vom Menschen mit dem Stein hinausprojizierte, objektive, also gedachte Raum. Ebenso steht es da um die Zeit. Wenn aber die Natur Sprache hätte, so würde der Unterschied herauskommen. Die Natur hat nur relativen und subjektiven Raum. Die Frage ist, ob die Zeit der Natur nicht objektiv, nicht wirklich ist.

Nun kennt die Akustik seit sehr langer Zeit, die Optik seit hundert Jahren, die Elektrizitätslehre seit kurzem noch eine Art Bewegung, die Wellenbewegung, die man bildlich auch in der Akustik eine mikroskopische nennen könnte. Die Bezeichnung ist bildlich von der Wellenbewegung des Wassers hergenommen. Und schon da, trotzdem jedes Kind das Laufen der Welle vom Ursprung im Teiche nach dem Ufer zu deutlich wahrnehmen kann, ist es offenbar, daß die Bewegung anders verläuft als bei der makroskopischen Bewegung von laufenden Menschen und geworfenen Steinen. Die Planetenbewegung führe ich nicht an, weil sie vielleicht als in sich zurückkehrend, in einem Inertialsystem stabiliert, der Wellenbewegung oder der Molekularbewegung makromikroskopisch verwandt ist. Aber die Wellenbewegung des Wassers scheint sich mir z. B. zur Bewegung des fließenden Wassers zu verhalten wie die Bewegung der Pflanze zur Bewegung des Tiers. Was sich bei der Wellenbewegung wirklich bewegt, was Wellen macht, ist teils Erscheinung, teils Kraft. Das einzelne Wasserteilchen jedoch ist festgewurzelt wie die Pflanze am Nullpunkt seines Koordinatensystems, kennt keine Veränderung des Ortes und hat überdies im idealen Falle nur Bewegung in einer einzigen Dimension, positiv und negativ natürlich. Auf die Wellenbewegung des Wassers und der Luft kann der Zeitbegriff wie auf die Planetenbewegung angewandt werden.

Die Bewegung der Gasteilchen ist nach der Theorie, die darum die kinetische heißt, wieder mit relativer Ortsveränderung verbunden, geht aber dennoch innerhalb eines Inertialsystems vor sich. Wie freilich auch der geworfene Stein am Ende auf die Erde zurückfällt.

Die Bewegung der Elektrizität soll mit der des Lichtes zusammenfallen. Die Ortsveränderung der Elektrizität am leitenden Draht betrifft wieder nur Erscheinung oder Kraft. Von der wirklichen Bewegung der einzelnen Elektrizitätsteilchen wissen wir nichts, weil wir diese Teilchen nur hypostasieren und entweder die Wellenbewegung oder die theoretisch erschlossene Gasbewegung ihnen nur bildlich zuschreiben.

Womöglich noch weniger wissen wir von der angenommenen Molekularbewegung der festen Körper: von der Bewegung bei chemischen Erscheinungen und von der inneren Wärmebewegung.

Und auf alle diese Arten des Bewegungsbegriffs werden nun im ganzen und großen die Formeln angewandt, die in der Zeit zwischen Galilei und Newton aus dem Fall und Wurf der Körper abstrahiert wurden.

Kopernikus selbst hat, wie nachher Newton, den Bewegungsbegriff direkt nicht untersucht. Erst Kepler suchte die Vorstellungen zu verlassen, die seit Aristoteles gang und gäbe waren. Aristoteles hatte den Begriff der Relativität der Bewegung, der Relativität der Örter noch nicht. Was heute jedem Schüler geläufig ist oder sein sollte, das bereitete einst den größten Männern Denkschwierigkeiten: daß zwischen einem sinkenden Pendel und der Erde die Annäherung als gegenseitig aufgefaßt werden kann, oder die Bewegung teilweise der Erde oder dem Pendel in der Vorstellung zugeschrieben, daß aber endlich die Ursache der Bewegung, die sogenannte Anziehungskraft, wirklich im Verhältnis gegenseitig ist.

Der Gegensatz gegen Aristoteles wird bei Galilei noch klarer und schärfer als bei Kepler, allerdings auf die Gefahr einer Beseelung der Natur, einer anthropomorphen Naturanschauung, die bei Galilei nur weniger dichterisch und phantastisch ist als bei Kepler. Sehr schön wendet sich Galilei in den Dialogen gegen den Rationalismus der Aristoteliker, die aus unserer Naturerkenntnis auf das Naturwirken, aus menschlich erdachten Naturgesetzen gewissermaßen auf Motive der Natur schlossen. Galilei erkannte aber, daß die Natur schon in der Mechanik geheimnisvoller ist, als unsere Vernunft ahnen kann (natürlich ohne die Vorstellung, daß die menschliche Sprache, die das bißchen Menschenvernunft erst zur Entwicklung gebracht hat, an die sprachlose Natur nicht heran kann). So weist Galilei der Natur beinahe ein zweckmäßiges Motiv des Wirkens zu, die Simplizität; die Natur hat ihren eigenen Anschauungsraum, und nur, was in diesem Raume vor sich geht, ist wahre Bewegung; was im Anschauungsraume des Menschen vor sich geht, wenn er nicht mit dem der Natur zusammenfällt, das ist scheinbare Bewegung. Die Relativität der Bewegung, die Relativität der Örter, hat Galilei erkannt, wenn auch wieder nicht genau definiert.

Ganz klar hat die Relativität der Ortsbewegung erst Descartes ausgesprochen, wie er mit meisterhafter Abstraktion auch das Trägheitsgesetz zuerst formuliert hat.

In fast bewußt einseitiger Größe hat sich der Mathematiker Newton da dem Mathematiker Descartes angeschlossen, wo es sich um Definitionen oberster Begriffe handelte (Bewegung, Trägheit), an Galilei, wo er dessen Phoronomie so ungeheuer weit führen sollte. In der merkwürdigen und ausführlichen Anmerkung, die die einleitenden Erklärungen seiner »Principia« abschließt, sagt Newton zunächst »Zeit, Raum, Ort und Bewegung erkläre ich nicht, weil sie allen bekannt sind.« Mit fast erzwungener Nüchternheit lehnt er so nicht nur die kraß anthropomorphe Phantastik Keplers, sondern auch die leise Naturbeseelung Galileis ab; erst später rettete sich die Mystik Newtons, ohne welche ein solcher Riesengeist wirklich nicht wirkend gedacht werden kann, in den größten Anthropomorphismus, in seinen Gott, als dessen Sensorium der Raum gelten sollte. Diesen Gott hat er zu der Zeit in kein so organisches Verhältnis gebracht.

Aber schärfer als irgend jemand vor ihm hat Newton, wie seine große Aufgabe es verlangte, Zeit und Raum bei der Bestimmung der Bewegung und der Örter parallel gesetzt (L. Lange, »Der Bewegungsbegriff während der Reformation der Himmelskunde« in Wundts philosophischen Studien III 384). Ich möchte nun zeigen, daß dieser Parallelismus von Zeit und Raum von Newton nicht kritisch genug aufgestellt worden ist. Eine dreidimensionale und eine eindimensionale Größe können ja wohl nicht parallel sein, auch im metaphorischen Sinne nicht. Newton glaubte zu sehr an die Sprache, als er Zeit, Raum, Ort und Bewegung als allen bekannt nicht erklären wollte.

An allen diesen Begriffen unterscheidet er gleichmäßig oder fast gleichmäßig zwei Erscheinungsformen: es gebe neben der absoluten, wahren und mathematischen Zeit, die gleichförmig und beziehungslos dauert, eine relative, scheinbare und gewöhnliche Zeit. Und so gebe es auch einen beziehungslosen absoluten Raum neben dem meßbaren relativen Raum. Wir können, ohne den Sinn Newtons zu fälschen, die absoluten Erscheinungsformen von Zeit und Raum auch die objektiven nennen. Ich behaupte nun, daß der dreidimensionale Raum, augenscheinlich so faßbar in jedem Dinge, niemals absolut werden kann, immer relativ bleiben muß, daß dagegen die unfaßbare, nur bildlich durch Raumgebilde meßbare Zeit wenigstens objektiv sein kann, daß die Relativität der Zeit eine ganz andere ist als die des Raums.

Newtons oft wiederholtes Beispiel, das schon bei Descartes zu finden ist, erklärt die Relativität der Bewegung sehr anschaulich durch Erde, Schiff und Schiffer. »Bewegt sich der Teil der Erde, auf welchem das Schiff sich befindet, gegen Osten mit einer Geschwindigkeit von 10010 Einheiten; das durch Wind und Segel angetriebene Schiff gegen Westen mit einer Geschwindigkeit von 10 Einheiten; geht endlich der Schiffer im Schiffe gegen Osten mit einer Geschwindigkeit von 1 Einheit, so bewegt sich der letztere wirklich und objektiv im unbewegten (?) Raume gegen Osten mit einer Geschwindigkeit von 10 001 Einheiten und relativ auf der Erde gegen Westen mit einer Geschwindigkeit von 9 Einheiten.« Den Hinweis auf den unbewegten Raum verstehe ich in diesem Zusammenhange nicht; wenn Newton nicht selbst andeuten wollte, daß die »absolute« Bewegung des Schiffers gegen Osten nur dann absolut ist, wenn wir die übrigen Bewegungen der Erde nicht in Betracht ziehen. Ich will das Beispiel so abändern, daß die Erde anstelle des Schiffes tritt (sie schwimmt ja im Äther) und unser Sonnensystem anstelle der Erde.

Wenn ich diktierend in meiner dreidimensionalen Stube auf und nieder gehe, so ändert meine Bewegung die Örter meines Körpers relativ zu meiner Stube. Dabei bewegt sich meine Stube mit der Erde ungleich schneller drehend gegen Osten; aber es ist doch offenbar Willkür, die Resultierende aus meiner Bewegung und der Erddrehung eine absolute Bewegung zu nennen. (Die Bewegung der Erde um die Sonne lasse ich sogar beiseite, weil diese meine Bewegung im Raume nur kompliziert, sich aber auf das gleiche System bezieht, wie die Drehung. Auch die kleinere Kreiselbewegung der Erdachse will ich aus dem gleichen Grunde nicht in Rechnung setzen.) Nach gegenwärtiger Wissenschaft bewegt sich unser Sonnensystem mit noch viel ungeheurerer Geschwindigkeit in einer bestimmten Richtung des Fixsternhimmels, mitsamt der drehenden, kreisenden und kreiselnden Erde, mitsamt meiner Stube und mitsamt meinem wandelnden Körper. Da ist nun meine Bewegung im Raume des Sonnensystems nur noch relativ. Aber wieder wäre es Willkür, die Resultierende all dieser Bewegungen und den durchmessenen Raum im System der angenommenen Zentralsonne absolut zu nennen oder auch nur objektiv. Denn der Schematismus unseres Denkens hält bei der Zentralsonne nicht inne. Auch das System der Zentralsonne mag wieder in einem Raume weiterer Relativität von einer mächtigern Urzentralsonne angezogen werden. Und so ins Unendliche. Womit wir auf den Krücken der wissenschaftlichen Sprache endlich in den unendlichen Raum hinausgetreten sind, der ja gern mit dem absoluten oder objektiven Raum identisch sein mag.

Unendlich nennen wir in dieser Sprache auch die Zeit, die eindimensionale. Und relativ hat sie Newton genannt. Während ich in meiner Stube auf und nieder gehe, werfe ich ab und zu einen Blick auf das Zifferblatt meiner Pendeluhr und lese vom relativen Raume, dem Verhältnisse zwischen Zeiger und Kreis, das ab, was man die relative Zeit nennen könnte, nach der Einteilung des Tages in 24 Stunden usw. Ich konnte die Zeit auch ablesen nach der scheinbaren Bewegung der Sonne im »absoluten« Raume (Newton hätte stutzig werden müssen darüber, daß nach ihm die Sonne eine scheinbare Bewegung im absoluten Raume ausführt). Beide Mal hätte ich fehlerhafte Zeitangaben erhalten, nicht mathematisch genaue, von der Ungleichheit des Erdentages zu geschweigen. Nur relativ wie der Raum ist die eindimensionale Zeit nicht. Und wenn man mir einwenden will, daß doch auch die Jahreszählung da nach der Gründung Roms, dort nach Christi Geburt, da nach der Hedschra, dort nach einer Thronbesteigung gezählt werde, daß die Stundenzählung da mit der Mitternacht, dort mit dem Mittag und wieder anderswo mit Sonnenuntergang beginne, so antworte ich darauf, daß diese Relativität der Zeit etwas ganz anderes sei als die Relativität des Raums. Zunächst ist die Zeit eindimensional und darum die Orientierung in den verschiedenen Relationen eine überaus einfache. Jedes Schulkind kann die Relation zwischen dem gegenwärtigen Moment, der Gründung Roms und Christi Geburt spielend überschauen. Sodann aber (was freilich mit dem eindimensionalen Charakter und der wahrscheinlich eindeutigen Richtung der Zeit zusammenhängen mag) beziehen sich alle diese Zeitmessungen ohne jede Ausnahme auf den Nullpunkt einer einzigen Ordinate, können wenigstens auf ihn bezogen werden, während die Relationen des Raumes von einem Koordinatensystem zum höheren und immer wieder zu einem nächst höheren sich steigern. Daher mag es kommen, daß uns bei dem Versuche, einen Zentralpunkt für den absoluten Raum zu finden, schließlich ein gefährlicher Schwindel ergreift, daß wir aber in die unendliche Zeit vor- und rückwärts ruhig hineinblicken können.

Man werfe mir nicht ein, daß wir auch in den unendlichen Raum mit gleicher ehrfürchtiger Ruhe hineinblicken. Seine Relativität schauen wir ja nicht an. Und wenn in solchen Dingen das Gefühl mitsprechen darf, so möchte ich dazu noch eines sagen. Sitze ich in meiner Stube still, so wird auch der unendliche Raum zu Ruhe gebracht und ist für mich nicht mehr. Die Zeit aber stürzt an mir vorüber, auch wenn ich das Pendel nicht ticken höre; ich fühle die Zeit stürzen, wirksam fließen.

Von seinem überaus konsequenten idealistischen Standpunkte aus hat Berkeley Newtons Lehre vom absoluten Raum usw. bis zur Sophistik scharfsinnig bekämpft. »Zeit, Raum und Bewegung sind, wenn sie im einzelnen oder konkret genommen werden, einem jeden bekannt; sind sie aber durch den Kopf eines Metaphysikers gegangen, so werden sie zu abstrakt und fein, um von Menschen mit gewöhnlicher Fassungskraft verstanden zu werden.« (Principles 97. Stück.) Der Diener verstehe ganz gut, wenn er sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Orte einfinden solle, und bewege sich auch ganz richtig hin. Die Zeit in abstracto mache vielleicht auch einem Philosophen Mühe. Ganz nominalistisch und sprachkritisch wird Berkeley bald darauf (116. Stück), da er den absoluten Raum leugnet. »Freilich sind wir geneigt zu glauben, daß jedes nomen substantivum eine bestimmte Idee vertrete, die von allen andern gesondert werden könne, was unzählige Irrtümer veranlaßt hat.«

Mit einem sehr geistreichen, aber schiefen Bilde lehnt Berkeley die Reziprozität der Bewegung ab. Kein Mensch werde behaupten, daß die Pflastersteine, über die er schreitet, bewegt genannt werden können, weil sie den Abstand von seinen Füßen ändern. »Wie ein Mensch über etwas denken kann, was selbst nicht denkt, so kann ein Körper zu einem andern Körper hin oder von demselben weg sich bewegen, ohne daß doch darum der letztere selbst in Bewegung ist.« (113. Stück.) Berkeley will nicht zugeben, daß man jede Änderung einer räumlichen Beziehung reziprok und bildlich eine Bewegung nennen dürfe; und was das Denken über ein Ding anlangt, das selbst nicht denkt, so möchte ich das Paradoxon wagen, daß oft genug etwas Totes durch die Denkbewegung eines lebendigen Menschen bewegt worden ist. Die Helden der Geschichte werden durch leidenschaftliche Geschichtsschreiber in bewegende Kräfte neuer Taten umgesetzt.

Sehr merkwürdig, daß schon Berkeley (in der Abhandlung »De motu« § 65) nicht nur daran zweifelt, ob die Bewegung gleichförmig sein müsse – wobei er sich mit Newtons Bedenken gegen die Gleichförmigkeit des Zeitablaufs begegnet –, sondern auch daran, ob die Bewegung gradlinig sei. An moveatur uniformiter in directum.

Diese ganze Abhandlung (De motu sive de motus principio et natura et de causa communicationis motuum) ist nominalistisch-idealistisch gegen Newtons Begriffe gerichtet, nicht gegen seine Lehre. (4) Was gravitas vulgo nuncupatur, sei causa caeca et incognita; darum könne gravitas nicht eine qualitas sensibilis genannt werden; auch sie sei eine qualitas occulta. (69) Physice res explicatur non assignando ejus causam vere agentem et incorpoream, sed demonstrando ejus connexionem cum principiis mechanicis. (18) Aliud demonstrationibus mathematicis inservire, aliud rerum naturam exhibere. (3) Sollicitatio et nisus sive conatus rebus solummodo animatis revera competunt. Cum aliis rebus tribuantur, sensu metaphorica accipiantur necesse est. A metaphoris autem abstinendum philosopho. (17) Vis, gravitas, attractio, und solche Worte seien nützlich zur Berechnung körperlicher Bewegung, nicht aber zum einfachen Verständnis von der Natur der Bewegung. Direkt gegen ein bekanntes Wort Newtons scheint es zu gehen, wenn Berkeley fortfährt: Attractionem certe quod attinet patet illam ab Newtono adhiberi non tanquam qualitatem veram et physicam, sed solummodo ut hypothesim mathematicam. (67) Ceterum entia mathematica in rerum natura stabilem essentiam non habent: pendent autem a notione definientis: unde eadem res diversimode explicari potest.

Berkeley leugnet also absoluten Raum und absolute Bewegung. (53) Ex spatio igitur absoluto auferamus modo vocabula, et nihil remanebit in sensu, imaginatione aut intellectu: nihil aliud ergo iis designatur, quam pura privatio aut negatio, hoc est merum nihil. (63) Absolute Bewegung sei unbegreiflich (66), man müsse unterscheiden zwischen mathematischen Hypothesen und der Natur der Dinge; zweitens cavere ab abstractionibus. (68) Vis incita … vis impressa … idem erit quoad rem, differentia existente in nominibus tantum. Aber er kennt schon die Lehre von der Erhaltung der Kraft (19): ex recentioribus multi sunt in ea opinione, ut putent motum neque destrui nec de novo gigni, sed eandem semper motus quantitatem permanere.

Die Abhandlung fängt mit einer Warnung vor den Worten an: Ad veritatem inveniendam praecipuum est cavisse ne voces male intellectae nobis officiant; quod omnes fere monent philosophi, pauci observant. Und (29): vocem autem proferre et nihil concipere, id demum indignum esset philosopho.

Man wird der Größe Berkeleys niemals gerecht, wenn man die restlose Vereinigung nicht nachfühlen kann, die in seinem Geiste Skepsis und Mystik oder doch radikale Kritik und Theosophie vollzogen haben. Theosophie und Mystik hindern Berkeley, seinen konsequenten Skeptizismus kalt und nüchtern zum Atheismus auszubilden. Er glaubt ganz naiv an den Gottschöpfer, nicht den Schöpfer Himmels und der Erden, aber den Schöpfer des Menschengeistes. Und mit den Dogmen der Theologie hat sein Schöpfer gar nichts gemein. Über diesen Gott etwas auszusagen, wäre die äußerste Torheit und Anmaßung (Pr. 81). Berkeley steht also trotz seiner Skepsis und trotz seiner Empfehlung, nach den Zweckursachen des weisen und guten höchsten Wesens zu forschen (Pr. 107), mit einem Fuße auf dem Boden des modernen englischen Agnostizismus. Ursachen sind Zeichen, ganz so wie später bei Hume. Gott ist das Zeichen der Dinge, die wir wahrnehmen, und die Dinge sind Zeichen Gottes, also Wirkungen gleich Ursachen, in eben der Weise, »wie unsere Perzeptionen der von Menschen hervorgebrachten Bewegungen uns als Zeichen dienen.« (Pr. 148) So scheint mir Berkeley eine Brücke zu bilden zwischen der lachenden Ehrfurcht oder Gottesliebe Spinozas und der grimmigen Pietätslosigkeit Humes.

Und Schopenhauer, der den historischen Gang von Cartesius über Malebranche, Spinoza und Berkeley zu Kant und dann wieder den zweiten Weg von Locke über Berkeley, Hume zu Kant so vorzüglich dargestellt hat, hat an dieser Stelle dennoch (Par. I 14) ein Unrecht gegen Berkeley begangen und einen kleinen Schnitzer dazu. Schopenhauer sagt: »Überhaupt legte sein geistlicher, sogar bischöflicher Stand ihm zu schwere Fesseln an und beschränkte ihn auf einen beengenden Gedankenkreis, gegen den er nirgends anstoßen durfte«; nur daß Berkeley, als er seine entscheidenden Werke schrieb, nicht Bischof war und kaum Geistlicher. Es ist nur sinnloser Weise hergebracht, Bischof Berkeley zu sagen. Treffend ist aber, was bei Schopenhauer unmittelbar vorausgeht: »Er hat mit seinen Vorgängern auch dies gemein, daß er Gott für bekannter als die vorliegende Welt und daher eine Zurückführung auf ihn für eine Erklärung hält.« Freilich, auch Schopenhauer hält den ihm so bekannten Willen für eine Erklärung. Und Berkeleys Gott ist noch unschädlicher als Spinozas deus sive natura. Berkeley hätte sagen können deus sive spirit, weil auch er in der ganzen Wirklichkeitswelt nichts sieht als spirits und so sein monistischer Spiritualismus oder konsequenter Idealismus mit dem Pantheismus manche Ähnlichkeit hat.

Ich mußte bei dem einzigen konsequenten Idealisten Berkeley länger verweilen, als es auf dem Wege zum gegenwärtigen Kritizismus oder gar in historischen Darstellungen physikalischer Grundlehren üblich ist. F. A. Lange hat schon (II 417) kurz und klar darauf hingewiesen, daß ebenso logisch wie historisch Empirismus, Materialismus und Sensualismus in dieser Reihenfolge nacheinander kommen und erst aus dem Sensualismus Lockes der Idealismus Berkeleys und dann wieder die Skepsis Humes und die Kritik Kants hervorgehen. Diesen Zusammenhang hat schon Hamann erkannt, nicht ohne Anachronismen; in seiner Metakritik (VII, 4) sagt er, daß Hume ohne Berkeley schwerlich der große Philosoph geworden wäre; und noch schärfer in einem Briefe an Herder (VI, 244): »So viel ist gewiß, daß ohne Berkeley kein Hume geworden wäre, wie ohne diesen kein Kant. Es läuft doch alles zuletzt auf Überlieferung hinaus, wie alle Abstraktion auf sinnliche Eindrücke.« Sehr merkwürdig, diese letzte Vertiefung des Berkeleyschen Hasses gegen Abstraktionen; und wunderlich, daß Kant selbst, dessen »Prolegomena« an dieser Briefstelle von dem lauernden Hamann angekündigt werden, in diesem Werke fast wie ein Empiriker das geistige Tischtuch zwischen seinem Idealismus und dem von Berkeley zerschneidet.

Berkeleys Idealismus, die Lehre also, daß wir ganz gewiß unsere Vorstellungen von der Wirklichkeitswelt in uns finden, außerdem aber von den Dingen durchaus nichts wissen, dieser reine und konsequente Idealismus ist allen Gegnern von Holbach bis Lange mit Recht unwiderleglich erschienen, unwiderleglich wenigstens (Lange I, 423) mit bezug »auf die Leugnung einer von unsern Vorstellungen verschiedenen Körperwelt«, ebenso unwiderleglich, wie später der bis zum Wahnsinn konsequente Solipsismus. Auch Lichtenberg stellte sich gern auf diesen Boden; und d'Alembert. Ein Mathematiker also und ein Physiker, die beide weit entfernt waren, Hirngespinste zu spinnen. Und wenn wir uns ohne Wortaberglauben fragen, wer in diesem letzten Streite recht behalten habe, so könnte die Antwort recht überraschend ausfallen.

IV.

Locke hatte an den Dingen der Wirklichkeitswelt die primären und die sekundären Eigenschaften unterschieden; die räumlichen Eigenschaften gehörten ganz gewiß zu den primären, und wir können den Raum kaum von Zeit und Bewegung trennen; zu den sekundären Eigenschaften gehören alle Daten unserer Sinnesorgane. Nun hat die neuere physiologische Psychologie der Sinnesorgane, besser: deren Erkenntnistheorie unwiderleglich nachgewiesen, daß Locke Recht hatte, daß Farben, Töne usw. nicht den Dingen anhaften, sondern vielmehr in unsern Organen, durch unsere Organe entstehen. Man drückt das seit Helmholtz gewöhnlich so aus, daß der kritische Idealismus Kants durch die neuere Physiologie bestätigt worden sei. Ob Kant auch darin recht hatte, daß ebenso Raum und Zeit den Dingen fremd und nur Formen der menschlichen Vorstellungsweise sind, darüber herrscht noch Streit. Nun aber hat nicht Philosophie und Metaphysik, wohl aber materialistischer Erfinderscharfsinn dahin geführt, daß wir heute nicht etwa theoretisch, nein, ganz praktisch und benutzbar Bewegungen der Körper in Zeit und Raum herstellen können und herstellen durch dieselben Ätherbewegungen, die nach der Physiologie der Sinnesorgane die sekundären Eigenschaften des Lichts und der Farben an den Körpern herstellen. Mit sogenannten elektrischen Wellen ohne Draht könnte man einen zerstörenden Torpedo nach dem zu zerstörenden Schiffe lenken.

Ich frage also noch einmal, wer hat in dem Streite gesiegt? Die Praktiker, die von dem Bankrott des theoretischen Materialismus noch nichts gehört haben, rufen auf allen Straßenbahnwagen und die Spatzen pfeifen es von allen Telephondächern, daß wir es nur durch die materialistische Empirie so herrlich weit gebracht haben; und die führenden Geister, die Waffenschmiede dieser Praktiker, geben zu gleicher Zeit Kant die Ehre. Die streitenden Parteien wissen selten, daß sie gar nicht auf dem gleichen Boden stehen, daß die Physik mit Recht materialistischer geworden ist, als sie jemals gewesen war, und daß die Psychologie, die als Erkenntnistheorie die einzige Metaphysik ist, ganz idealistisch geworden ist. Habe ich recht mit meiner Grundanschauung, dann trägt die Sprache die Schuld daran, daß beide Parteien einander nicht verstehen. Naturkunde jeder Art muß ewig materialistisch sein, so bald sie sich mitteilen will: weil die Sprache ihrem Wesen nach materialistisch ist. Psychologie aber als einzige Metaphysik darf nichts anderes sein als Kritik der Sprache. Darüber, über einen sprachkritischen Sensualismus, wird das arme Denken des Menschen nie hinauskommen, wenn es sich nicht in den Abgrund der Mystik stürzen will, brünstig und gläubig oder inbrünstig resigniert.

Da ist es denn kein Wunder, daß Locke sowohl als Berkeley starke Anläufe zu einer Sprachkritik gemacht haben. Berkeley steht einer ungeheuren Gruppe von Worten oder Begriffen wie ein reiner Nominalist gegenüber. Mit bewunderungswerter Klarheit führt er besonders in der Einleitung seiner »Prinzipien« die Trübung der Forschung und unzählige Irrtümer auf den falschen Gebrauch der Sprache zurück, auf die falsche Meinung, der Geist besitze ein Vermögen, abstract ideas zu bilden. Wir nehmen Farben wahr, aber das Abstraktum Farbe existiert nicht. »Es ist mir unmöglich, durch ein angestrengtes Denken … die abstrakte Idee zu erfassen.« Und mit äußerster Ironie: »Wir dürfen vernünftigerweise schließen, daß, wenn es abstrakte Ideen gibt, sie nur bei Gelehrten sich finden.« Lockes Lehre, daß der Mensch sich durch die Fähigkeit der Abstraktion vom Tiere unterscheide, sei falsch. »Wenn hierin ihr Unterscheidungsmerkmal liegen soll, so fürchte ich, daß sehr viele von denen, die für Menschen gelten, mit den Tieren in eine Klasse zu setzen seien.« (11) Es gebe allgemeine Ideen, aber nicht abstrakte Ideen. (Ich möchte dazu wieder einmal bemerken und behaupten, daß des Cartesius berühmte oder berüchtigte Lehre, die Tiere seien im Gegensatze zu den Menschen Maschinen, nur eine vorsichtige Schlauheit war, das Seelenleben im allgemeinen mechanistisch zu erklären, die göttliche Menschenseele jedoch auszunehmen.) Die für Mitteilungen trefflich geeignete Sprache trägt die Schuld an der verkehrten Annahme abstrakter Ideen; »die meisten Teile des Wissens sind erstaunlich verwirrt und verdunkelt worden durch den Mißbrauch der Worte und allgemeinen Redeweisen, worin sie überliefert worden sind.« (21) Berkeley verspricht, sich von der Benennungsgewohnheit zu befreien, die Ideen gleichsam bloß und nackt anzuschauen; aber eine völlige Befreiung von der Täuschung durch Worte könne er kaum versprechen; »so schwer ist es, eine Verbindung aufzulösen, die so früh begonnen hat und durch eine so lange Gewöhnung fest geworden ist, wie die Verbindung zwischen Ideen und Worten.« (23) »Wir müssen mit den Gelehrten denken und mit dem Volke sprechen.« (51)

Fassen wir Berkeley als Sprachkritiker, der die ersten Anregungen Lockes durch mystischen Tiefsinn noch wertvoller gemacht hat, so verstehen wir erst völlig seine Opposition gegen Newton. In zahlreichen Wendungen kehrt der Gedanke immer wieder, daß die neue Art der Naturbetrachtung wohl Regeln herausfinden könne für beobachtete Ähnlichkeiten und Gleichförmigkeiten, höchst erfreuliche Regeln, die zu sehr wahrscheinlichen Vermutungen über räumlich und zeitlich entfernte Erscheinungen führen, daß aber die wirklichen Ursachen dem Naturforscher unbekannt bleiben. (105)

Ich habe vorhin gesagt oder gemeint, daß Berkeley noch strenger als Locke die Unwirklichkeit oder die Idealität oder die Phänomenalität der sekundären Eigenschaften nachgewiesen hat. Die Erkenntnistheorie der Sinnesorgane ist durch Berkeley im wesentlichen auf ihren heutigen Stand gestellt worden; was von Johannes Müller, Helmholtz und andern Wichtiges erforscht worden ist, hat nicht erst Kants, sondern Berkeleys Grundanschauung bestätigt. Halb vergessen ist es, daß Berkeley selbst schon 1709, 100 Jahre vor Schopenhauer, einen wichtigen Beitrag zur Erkenntnistheorie des Sehens veröffentlicht hat. Nun aber ging Berkeley über Locke hinaus und lehrte, namentlich in seiner Kritik Newtons, auch die Unwirklichkeit oder Idealität der primären Eigenschaften, darin recht eigentlich der Vorläufer von Hume und Kant. Konsequenter als beide, weil er den Schlangenbetrug der Sprache durchschaute und als Theosoph, als Mystiker weder ganz in Skepsis verging, noch ein x, ein Ding-an-sich, brauchte. Sein x war Gott, sein Gott war x. Ich zitiere eine wichtige Stelle noch einmal. »Zeit, Raum und Bewegung sind, wenn sie im einzelnen oder konkret genommen werden, einem jeden bekannt; sind sie aber durch den Kopf eines Metaphysikers gegangen, so werden sie zu abstrakt und fein, um von Menschen mit gewöhnlicher Auffassungskraft verstanden zu werden. Sagt eurem Diener, er solle euch zu einer gewissen Zeit an einem gewissen Orte erwarten, so wird er sich nicht mit einer Überlegung aufhalten, was mit diesen Worten gemeint sei; er findet nicht die mindeste Schwierigkeit darin, sich die einzelne Zeit und den Ort vorzustellen oder die Bewegung, durch welche er sich dorthin zu begeben hat. Wird aber Zeit mit Ausschluß aller jener einzelnen Handlungen und Ideen, die Abwechslung in den Tag bringen, bloß als Fortsetzung der Existenz oder Dauer in abstracto genommen, dann wird es vielleicht auch einem Philosophen Mühe machen, den Sinn zu erfassen.« (97.) Zeit, Raum und Bewegung können nicht wirklich sein, weil sonst abstrakte Ideen wirklich wären. Daher Berkeleys Zorn gegen die absolute Zeit, den absoluten Raum und die absolute Bewegung Newtons. »Es muß, wenn ich von freiem oder leerem Raume spreche, nicht vorausgesetzt werden, das Wort Raum stehe für eine Idee, die von Körper und Bewegung gesondert oder ohne diese denkbar wäre. Freilich sind wir geneigt zu glauben, daß jedes nomen substantivum eine bestimmte Idee vertrete, die von allen anderen gesondert werden könne, was unzählige Irrtümer veranlaßt hat. Wenn ich also annehme, die ganze Welt werde vernichtet außer meinem eigenen Körper, so sage ich, es bleibe noch der bloße Raum; hiermit ist nichts anderes gemeint, als daß ich es als möglich denke, daß die Glieder meines Leibes nach allen Seiten hin ohne den geringsten Widerstand sich bewegen; wäre aber auch noch mein Leib vernichtet, dann könnte keine Bewegung und folglich kein Raum sein.« (116.)

Freilich: auch das Licht Berkeleys hat seinen Schatten. So überlegen der Denker Berkeley selbst dem Riesengeiste Newtons ist, in dem einen Punkte, wo er dessen neue Gesetze als bloße Regeln erkennt und ihnen die unbekannten Ursachen entgegenstellt, ebenso kindlich wird er, wo er sich auf das Arbeitsfeld Newtons begibt. Daß er die Ausdehnung des Gravitationsbegriffs auf die Fixsterne leugnet, mag für seine Zeit begreiflich sein; das Aufwärtswachsen der Pflanzen jedoch und die Ausdehnung der Luft, auch nach oben, gegen Newton zu benutzen, das wäre eines Aristoteles würdiger gewesen als Berkeleys.

Noch törichter, ja für einen Mann, der sich doch geistreich mit Mathematik beschäftigt hatte, ganz unbegreiflich sind Berkeleys Ausfälle gegen die Infinitesimalrechnung, die eben erst von Newton erfaßt und von Leibniz zu einem brauchbaren Algorithmus gemacht worden war. Berkeley spricht (118 ff.) ganz verächtlich von der neuen Methode: alle diese Untersuchungen und hohen Gedankenflüge seien nur schwierige Spielereien, bringen gar keinen Nutzen, die Vorstellung der unendlichen Teilbarkeit einer endlichen Größe sei sinnlos, unfaßbar. Berkeley hätte auf diesem Wege dazu kommen müssen, sogar die Wirkungen des Mikroskops zu leugnen.

Aber auch in dieser zornigen Opposition gegen das neue gewaltige Hilfswerkzeug des Materialismus, gegen die Infinitesimalrechnung, in der er halbwahr (121) etwas der Sprache Ähnliches erkannte, steckt zutiefst Berkeleys wertvolle Unterscheidung zwischen den wohlbekannten ordnenden Regeln und den unbekannten wirkenden Ursachen. Die Prinzipien der Mathematiker gehen nicht über die Betrachtung der Quantität hinaus, sie steigen nicht auf bis zu einer Betrachtung der transzendentalen Grundsätze; die Mathematiker sind vermutlich ebenso wie andere Menschen an den Irrtümern beteiligt, welche aus der Lehre herfließen, daß es abstrakte allgemeine Ideen gebe. (118)

Ich glaube nicht, daß bei dem Versuche einer Untersuchung über die Realität der Zeit diese Abschweifung zu tadeln sei, welche die Wege des Idealismus und Sensualismus bei den Engländern eine kleine Strecke weit verfolgt hat.

V.

Wenn wir schon nicht wissen, was etwa in der Wirklichkeitswelt jedesmal unsere Sinneseindrücke verursacht hat, wenn wir schon die Dinge-an-sich der Dinge nicht kennen, so werden wir noch weniger erfahren, was etwa in der Wirklichkeitswelt den Begriffen oder Worten entspricht, welche allen Wahrnehmungen so notwendig zugrunde liegen, wie ein Kanevas der bunten Stickerei. Solche Begriffe sind für den Menschen: Zeit, Raum und Ursache; für alle Organismen ohne Ausnahme wenigstens der Raum; für viele Tiere höchst wahrscheinlich Raum und Zeit. Wir können vermuten, daß die Ursache aus dem Zeitbegriff hervorgegangen ist und zwar in zweifacher Weise, einerseits ist die Ursache möglicherweise überhaupt nichts anderes als die gewohnte Vorstellung der regelmäßigen Zeitfolge, anderseits hat das Gedächtnis durch Vergleichung vergangener und gegenwärtiger Eindrücke, also durch Überwindung der Zeit, erst Allgemeinbegriffe geschaffen und diese Allgemeinbegriffe sind uns von jeher etwas wie eine Ursache der Individuen gewesen. Alle solche Gedanken sind freilich Luftgebilde, weil wir in allen Erklärungen von Zeitumständen immer wieder das Wort Zeit mitgebrauchen müssen, weil wir die Zeit ohne Zeit nicht definieren können. Der Fehler der Tautologie ist in seiner gröbsten Form unvermeidlich und wird auch in Folgendem unvermeidlich sein.

Denn auch der Versuch, die Zeit als vierte Dimension des Raumes aufzufassen, ist nur so verlockend, weil er uns hilft, die ungeheure Kluft zwischen Raum und Ursache zu überbrücken. Es wäre eine geistige Tat, eine Geschichte des organischen Denkens zu schreiben, welche uns die Zeit als vierte Dimension aus dem Raume erklärte und die Ursache als die Gesetzmäßigkeit in der Zeit. Es wäre eine blendende Kühnheit, aber ich bin nicht wortabergläubisch und empfinde nur zu gut, daß ich damit nur für die Registratur der schwierigsten Begriffe, nicht aber für ihr Verständnis etwas gewonnen hätte. Denn ich habe den Begriff Dimension gegen allen Sprachgebrauch erweitern müssen, um ihn als vierte auf die Zeit anzuwenden. Stelle ich mir nämlich vor, daß die dreidimensionalen Körper sich nun ihrerseits und gemeinsam in der Zeit weiterbewegen, so kann ich meine Einbildungskraft zermartern wie ich will, es bleibt die Richtung der Zeit innerhalb der drei Dimensionen des Raumes. Mache ich mir aber die Vorstellung klarer und erblicke in dieser vierten Dimension eine Folge von Veränderungen, die mit dem Raume nichts zu schaffen haben, so behalte ich den unveränderten alten Zeitbegriff in der Hand. Ich habe einmal besser zu sagen versucht: Zeit sei die vierte Determinante; aber damit nicht viel gewonnen.

Und dennoch muß es eine unbekannte Beziehung zwischen Raum und Zeit geben, weil die Zeit objektiv nicht anders gemessen werden kann als durch den Raum. Wie schon ausführlich gezeigt worden ist. Alle unsere Zeitmessung ist nur irgend ein Ausdruck für die Bewegung der Sonne. Sollte aber, wie Hebbel es in »Herodes und Mariamne« hübsch dargestellt hat, ein lebendiger Mensch dadurch zur Uhr werden, daß er seine regelmäßigen Pulsschläge zählt, so ist jeder einzelne Pulsschlag wieder nur als Bewegung im Raume fühlbar und erst durch die Zahl kommt unentwirrbar und unbewußt der Zeitbegriff hinzu.

Daran ist Eines nur sehr merkwürdig: wir sind geneigt, alle unsere Sinne als Differenzierungen des Tastsinns aufzufassen; Wärmesinn und Geruch und Geschmack sind Tastsinn für molekulare Veränderungen, Gesicht und Gehör ein projizierter Tastsinn. Es ist auch schon darauf hingewiesen worden, daß der Verstand der Tiere, abgesehen von den übrigen Sinnen, der Ausbildung ihres Tastsinns proportional ist. Die klugen Papageien haben in ihrem Schnabel ein ausgebildetes Tastorgan, die Elefanten und die Affen haben in ihrem Rüssel oder in ihren vier Händen vorzügliche Tastorgane. Nun schien es aber, als ob die Menschen für die Wahrnehmung von Raum, Zeit und Kausalität keine Sinnesorgane hätten, und es war darum begreiflich, daß Kant diese drei hohen Kategorien als Gaben der reinen Vernunft, frei von aller Sinnlichkeit, darstellen konnte. Gegenwärtig versteht man, wie sich die Raumvorstellung aus dem Tastsinn und aus den mit ihm in Verbindung stehenden Bewegungsgefühlen entwickeln konnte. Verzichten wir jetzt auch auf die Phantasie einer Weiterentwicklung der Raumvorstellungen zu Zeitvorstellungen und zum Ursachbegriff, so sehen wir doch die Möglichkeit, die Zeit aus dem Tastsinn hervorgehen zu lassen, weil die Zeit objektiv nur an Raumbewegungen gemessen werden kann.

Schön. Aber daneben haben wir für die Dauer, die immer Zeitdauer ist, ein subjektives Gefühl, welches nichts mit Raumvorstellungen zu tun hat. Und seltsam: wir wissen nichts von der Zeit, wenn wir in ihr tätig sind, wir wissen von der Zeit nur, wenn wir sie nicht benützen, wenn wir gewissermaßen nicht in ihr, sondern außer ihr leben. Wer auf ein erfreuliches oder schreckhaftes Ereignis wartet, dem tritt plötzlich die leibhaftige Zeit zwischen Gegenwart und Zukunft und dehnt sich quälend zu riesenhafter Länge aus. Wer untätig und schlaflos in seinem Bette liegt, und auch innerlich untätig, nicht mit Entwürfen oder Plänen beschäftigt, dem setzt sich die Zeit an den Bettrand und strickt oder singt oder schlägt auch nur mit den ungeheuern Flügeln, und der geängstigte Mensch hört aus dem Rhythmus des Strickens, des Singens oder des Flügelschlagens, wie die Zeit vergeht, während sie ihn bedrängt. Ein Widerspruch in jedem Bilde, in jedem Worte. Das ist nicht so mit dem Raum; den sehen wir auch, wenn wir in ihm sind, und er widerspricht sich nicht. Und wir könnten wirklich die Zeit für eine Abstraktion vom Raume halten, wenn wir nicht das deutliche und unabweisbare Gefühl einer Dauer in unserm Innenleben hätten. Doch dieses Gefühl ist relativ, viel relativer und täuschender, als es die Raumempfindungen sind. Auch die räumlichen Empfindungen verschieben und verkürzen sich in der Perspektive, doch gewöhnlich so, daß wir die Schätzung der Distanzen nicht verlieren; bei der zeitlichen Perspektive hört das Distanzenschätzen auf. Haben wir uns gut unterhalten, so müssen wir nach der Uhr sehen, also die Zeit am Raume messen, um uns zu vergewissern, daß wir nicht eine halbe Stunde, sondern drei Stunden verplaudert haben; in der Rückerinnerung schieben sich große Zeiträume zusammen, und wir brauchen künstliche Hilfen, um die wahre Größe des Zeitraums wieder herzustellen. Gesundheit und Krankheit, Jugend und Alter verlängern und verkürzen die Zeit für unser Bewußtsein. Es ist nicht unmöglich, daß ein munterer Vogel einen Tag ungleich länger fühlt als ein Mensch, daß eine Mücke, wenn sie tatsächlich mehrere Tausend Flügelschläge in der Sekunde macht, die Sekunde ganz anders bewertet als wir.

Die Phantasie Baers (K. E. v. Baer, Reden I, 258f.) von einem Menschen, der nur 29 Tage oder gar nur 40 Minuten lebte, dabei aber tausend- bzw. millionenmal rascheren Pulsschlag, also in seinem ganzen Leben die menschliche Anzahl von Sinneseindrücken (einen auf 1/10 Pulsschlag) hätte, diese Phantasie ist noch lange nicht genug gewürdigt worden. Ist eigentlich viel zu wenig bekannt. Baer stellt es als phantastische Hypothese auf, daß ein solcher Monats- bzw. Minutenmensch die Natur für unveränderlich halten, die Veränderungen an einer Pflanze oder einem Tier nicht bemerken würde, daß er ferner unsere 80-Jahre-Menschen-Töne gar nicht vernehmen, dafür aber vielleicht das Licht hören würde. Ob gewisse kurzlebige Insekten dieser Phantasie nicht entsprechen? Manche Erscheinung wäre dadurch erklärt.

Nun hat Baer seine Phantasie in entgegengesetztem Sinne weiter geführt. Der Mensch lebt 80 000 Jahre und empfindet mit tausendfach verlangsamtem Pulsschlag tausendfach langsamer. Er würde dann die Ereignisse eines Jahres in einer Zeit durchempfinden, die seinem Gefühle nach acht unserer Stunden entspräche, würde die Pflanzen wachsen und die Sonne über den Himmel jagen sehen. Noch einmal tausendfach verlangsamt, würde er den Unterschied von Tag und Nacht nicht mehr wahrnehmen, die umlaufende Sonne nur als glänzenden Ring sehen und den Wechsel der Jahreszeiten als Gebilde von der Dauer weniger unserer Sekunden empfinden.

Baer benutzt seine gewaltige Phantasie, um zuerst das Scheinhafte des Individuums und aller irdischen Veränderungen, dagegen das Dauernde und Feste der Naturgesetze anschaulich zu machen und um schließlich mit einem Aufschrei mehr als mit Beweisführung gegen den Materialismus der Naturwissenschaft aufzutreten.

Denkt man sich aber recht tief in seinen Traum hinein, so erfährt man, daß das Tempo des menschlichen Lebens, so wie es wirklich abläuft, eigentlich nur ein Spezialfall unter allen möglichen Fällen ist und daß die Sprache der Minutenmenschen, sowie die Sprache der Äonenmenschen, wenn sie beide unsere Sprache sprächen, doch nicht die gleiche sein könnte, daß die Sprache zuletzt von unserem Pulsschlag, von der Schnelligkeit unserer Sinneseindrücke abhängig ist. Und ich muß nicht erst meine Lehre bemühen, daß selbst die Entwicklung unserer Sinnesorgane eine Zufallsgeschichte ist, um jetzt mit Nachdruck zu wiederholen: alle unsere Erkenntnis der Wirklichkeit ist nur relativ.

Alles das beweist, was wir ohnehin wissen, daß auch die Zeit, welche wir objektiv nur am Raume schätzen können, unmittelbar und subjektiv von sehr relativer Dauer ist. Auch darin aber ähnelt die Zeitempfindung der Tastempfindung. Auch Tastempfindungen (wir nehmen als einfachstes Beispiel die Gewichte) sind objektiv nur durch künstliche Maschinen zu vergleichen. Subjektiv, wie die Psychophysik durch hundert nette Experimente nachgewiesen hat, ist das Gewichtsgefühl immer nur ein Verhältnis zwischen dem jeweiligen Zustande eines Organismus und einer Last. Bei ganz kleinen Gewichten, wie bei einem Gran, empfinden wir nicht einmal die Verdoppelung, bei ganz großen Gewichten, wie bei ganzen Schiffsladungen, würde eine Verdoppelung ebenso wenig ausmachen. Ein abgerichteter Floh würde ein Gran von zwei Gran unterscheiden, ein abgerichteter Walfisch eine Tonne von zwei Tonnen. Es ist also die uns wohlbekannte Tätigkeit des Vergleichens, welche auch sonst das Denken aus den Sinnesempfindungen hervorgehen läßt und welche auch die relative Empfindung der Dauer erzeugt. Den letzten Gegenstand der Vergleichung erkennen wir bei der Zeitempfindung schließlich nicht schlechter als bei Gewichtswahrnehmungen.

Fürchten wir uns nicht vor abstrakten Worten, so können wir dennoch auf einen Unterschied zwischen Zeitempfindungen und anderen Empfindungen hinweisen. Gesichtsempfindungen, Gehörempfindungen usw. entstehen aus dem Bewußtsein, daß sich im Gesichtsorgan, im Gehörorgan usw. etwas verändert habe; wir sehen, wir hören usw., indem wir den folgenden Zustand mit dem frühern Zustand vergleichen. Achten wir aber nicht mehr auf den Inhalt der Sinneseindrücke, achten wir z. B. nicht mehr darauf, daß soeben ein Lichtschein wahrgenommen wurde und daß jetzt ein Schatten zwischen die Lichtquelle und unsere Augen sich schiebt, richten wir vielmehr unsere Aufmerksamkeit nur darauf, daß soeben etwas war und jetzt etwas anderes ist, so bleibt uns die leere Hülse der Veränderung übrig, das Bewußtsein des Früher und des Später, d. h. das Bewußtsein einer Zeitdauer. Diese leere Hülse der Veränderungen, die Vergleichung der Veränderungen an sich ohne deren Inhalt ist also die Zeit. Es ist aber nicht notwendig, daß der abstrakten Vergleichung der Veränderungen in der Wirklichkeit ebenso ein Ding-an-sich zu grunde liege, wie der Vergleichung derjenigen Veränderungen, von welchen unsere Sinne berichten; die Zeit kann eine eingebildete Größe sein, mit welcher unser Instinkt sich in der Wirklichkeitswelt orientiert, wie die höhere Mathematik mit Hilfe imaginärer Formeln räumliche Gebilde berechnet; solche Formeln brauchen nicht falsch zu sein, weil sie unwirklich sind. Verzichten wir auf unsern Zeitinstinkt, wollen wir die Zeit messen, so müssen wir, wie gesagt, immer den Raum zu Hilfe nehmen. Aber der Raum ist es ja nicht selbst, der uns Maßstab ist, sondern die Bewegung im Raum; und die Bewegung verlangt wieder den Zeitbegriff zu ihrer Bestimmung. Wir nehmen nichts wahr als Veränderungen, auch die Bewegung im Raume nicht anders. Als Menschen anfingen, die Zeit nach Tagen einzuteilen, d. h. nach der Sonnenbewegung, da konnten sie gar nicht wissen, ob ein Tag dem andern an Länge gleich sei; sie schätzten die Länge als gleich nach ihrem subjektiven Zeitbegriff, während sie jetzt die Länge nach ihrer Taschenuhr messen, die doch wieder nach der Sonnenbewegung geordnet ist. Die Schrift ist als sichtbares Zeichen an Stelle der hörbaren Sprache getreten und Büchermenschen schalten die hörbare Sprache aus, wenn sie lesen; unsere Schrift aber wäre nicht verständlich, bezöge sie sich nicht auf unsere hörbaren Zeichen. So stürzt die Sprache unrettbar aus einem Dilemma ins andere, wenn sie die Zeit durch den Raum erklären will.

VI.

Nicht nur für die Subtilität Spencers, sondern auch für die Auffassung des schlichtesten Menschen ist unter Umständen die Dauer einer Erscheinung, also die Zeit, das einzige Kriterium der Existenz. Wer ein Phantom zu sehen glaubt, der schließt die Augen und öffnet sie wieder und glaubt an die Wirklichkeit, wenn das Phantom Dauer hatte. Lockes Einteilung der körperlichen Eigenschaften in primäre und sekundäre ist vielleicht entstanden aus einer ganz naiven Einteilung in Eigenschaften von längerer und von kürzerer Dauer. Die Menschen sind geneigt, Wirklichkeit nur einer Erscheinung zuzusprechen, die eine meßbare Zeitdauer aufweisen kann, Ehrwürdigkeit einer Erscheinung, deren Zeitdauer über das natürliche Maß hinausgeht, Phänomenalität einer Erscheinung, deren Zeit zu klein ist, um meßbar zu sein. Ein Blitz gehört nach dem Sprachgebrauch des Volkes nicht zu den wirklichen Dingen.

Diese Zeit nun, die das Wirklichste an der Wirklichkeit ist, erscheint uns von anderer Seite als imaginierte Größe. Unsere Sprache ist kaum im stande, diesen Widerspruch auch nur zu formulieren. Der Satz »Unser Denken ist in der Zeit, während die Zeit in unserem Denken ist« würde nur einen Teil des Widerspruchs andeuten, denn das Verhältnis zwischen Denken und Wirklichkeit wäre in diesem Satze gar nicht berührt. Daß die Zeit ein menschliches Denkprodukt sei, subjektiv, imaginiert, das ist seit Jahrhunderten immer wieder gesagt worden; daß sie zugleich der allerwirklichste Herrscher sei und das Denken in der Zeit, das scheint mir aus einer kleinen psychologischen Tatsache hervorzugehen, die jeder Schusterjunge kennt, die aber noch niemals analysiert worden ist. Wenn eine Reihe von musikalischen Tönen aufeinander folgt, so daß zwischen jedem und dem folgenden ein bestimmtes Intervall ist, so nennt man das eine Melodie. Der Schusterjunge, der eine Melodie pfeift, die er tags vorher spielen gehört hat, hat in seinem Gedächtnis die Zeitfolge aller Töne aufbewahrt, wohlgemerkt, die gerade Reihenfolge und nicht etwa die umgekehrte, wie sie bei anderen Assoziationen von Erinnerungen wohl als gleichwertig eintreten kann. Er hat sich die Melodie b, a, c, h gemerkt und nicht die Tonfolge h, c, a, b; wie übrigens auch die phantastischen Sprachversuche der Knaben zeigen, daß nur eine verzweifelte Einübung dem einen oder dem andern den Namen Hcab (oder meinetwegen den Namen Chab) so geläufig machen könnte wie den Namen Bach. Die Wichtigkeit der kleinen Tatsache wird klarer werden, wenn wir den Fall vereinfachen und uns anstatt einer Melodie irgend ein Signal von nur zwei Tönen vorstellen. Angenommen, es würde bei einer freiwilligen Ortsfeuerwehr das Signal c, e den Feuerwehrmann herbeirufen, das Signal e, c würde ihn entlassen, so wäre bei dem unmusikalischsten Mitglied ein Irrtum ausgeschlossen, so scharf ist der Unterschied zwischen der Aufwärts- und der Abwärtsbewegung des Tones. Nun kann man leicht sagen, die Melodie des Signals, d. h. die Bewegung nach aufwärts, beziehungsweise nach abwärts habe sich dem Gedächtnisse eingeprägt. Ich komme jedoch über die Frage nicht hinweg, wie denn das menschliche Gedächtnis zwischen c, e und e, c irgend welchen Unterschied wahrnehmen könnte, wenn die Aufeinanderfolge in der Zeit nicht wirklich wäre.

Und weil ich einmal am Zeitbegriffe alles Schwanken des Wortes aufzeigen will, so sei gleich darauf hingewiesen, wie sehr die Erscheinung der Zeit in der Melodie oder im Signal der sonst so verlockenden Idee widerspricht, es könnte die Zeit aus dem Raume, d. h. unser subjektives Zeitgefühl aus dem Raumgefühl hervorgegangen sein. Diese Entwicklungsgeschichte deckt sich mit der psychologischen Wirklichkeit nur so lange, als wir in der Zeit eine Form unserer Vorstellung erblicken. Sowie die Zeit, wie im Festhalten einer Melodie, wirksam oder wirklich geworden ist, entwindet sie sich dem Raume und ihre Auffassung als vierte Dimension wird noch gewagter. Wir können uns erinnern, die in einer Melodie verborgene Zeitfolge einmal da oder dort vernommen zu haben, aber die Melodie hat mit dem Raume nichts zu schaffen; Spencer fordert die Zweifler auf, einmal die rechte und die linke Seite eines Tons herauszufinden.

Aber die Frage, ob die Zeit in uns ist oder wir in ihr, ob sie imaginiert oder die wirklichste Eigenschaft der Wirklichkeit ist, diese Frage wird nicht entschieden werden können, bevor nicht ein närrisches Volk von philosophischen Kindern sich vorher darüber geeinigt hat: wir wollen erst sprechen lernen und unsere künftige Sprache gleich nach der Antwort auf die Frage einrichten, ob das erste in unserem Bewußtsein die Wirklichkeitswelt da draußen oder unsere Vorstellungswelt da drinnen sei, d. h. ob das Objekt oder das Subjekt das ursprünglich Wirkliche sei. Die Sprache dieses närrischen Volkes wird nie zustande kommen, der Anfang zur Lösung der Frage wird nie gemacht werden. Dasselbe Volk mag sich mit dem Dilemma beschäftigen: wo denn der notwendige Anfang der Wirklichkeitswelt zu suchen sein müsse, da doch die Wirklichkeitswelt und die Zeit keinen Anfang haben können. Ich lasse mich auf solchen Tiefsinn nicht ein. Nur als Beitrag für eine künftige systematischere Sprachkritik sei darauf aufmerksam gemacht, daß der Begriff Zeit doch wohl zwei sehr widersprechende Vorstellungen enthalten müsse; es könnte sonst die Negation der Zeit nicht bald die Zeitlosigkeit, bald die Ewigkeit bedeuten.

Freilich, Zeitlosigkeit und Ewigkeit sind einander darin ähnlich, daß beide weder einen Anfang noch ein Ende haben; und so stehen wir wieder vor der Frage: was meinen wir damit, wenn wir von einem Anfang der Zeit reden? Oder von ihrem Ende. Denn das können wir gleich sagen, daß es nur von der Richtung abhänge, ob wir einen bestimmten Punkt (der Zeit oder einer Linie) Anfang oder Ende nennen wollen. Bei der Zeit hängt die Wahl des Punktes überdies von unserem Willen ab, weil wir doch mit sog. Freiheit den Anfang (oder das Ende) immer weiter hinausrücken können. Und da zeigt es sich, daß die Darstellung der Zeit durch den Raum nicht mehr möglich ist, sobald wir uns eine unendliche Zeit vorstellen; zwar können wir uns auch einen unendlichen Raum vorstellen, aber dieser ist erst recht kein brauchbares Bild für die unendliche Zeit. Die Schwierigkeiten steigern sich, wenn wir uns die Zeit ungefähr als so etwas wie eine Kraft denken möchten, als eine Energieform. Auch bei den Kräften ist es eitel menschliche Denkökonomie, daß wir einen zeitlichen Anfangspunkt annehmen. Nicht nur die angenommenen geistigen und biologischen Energieen, auch die scheinbar so viel besser bekannten physischen Kräfte haben in Wahrheit keinen zeitlichen Anfang. Es ist nur eine Bequemlichkeit menschlicher Rechnung, wenn wir der Schwerkraft beim Falle eines Körpers einen Anfang setzen. Den Elektrotechnikern ist es nicht fremd, daß das Gewinde in einer Dynamomaschine schon eine Spur von Elektrizität in sich hatte, bevor diese Spur durch Arbeit ungeheuer vergrößert wurde. Wir kennen keinen Anfang von irgend etwas Wirklichem.

So müssen wir uns resignieren, können einen der wichtigsten Begriffe der Zeit auf die Zeit selbst nicht anwenden.

Etwas anderes ist es, die Frage der Fragen lösen wollen und etwas anderes die Fragestellung kritisieren und auf das Schielen der einzelnen Worte hinweisen. Wir stehen an dieser Stelle vor einem Dilemma, welches ohne sprachkritische Resignation die herrlichsten Aufschlüsse zu versprechen scheint; wir stehen in Wirklichkeit auf einem dunklen Gange zwischen zwei Toren, und es ist nicht Schuld der Tore, wenn wir uns einbilden, wenigstens eines von ihnen müsse plötzlich vor unserer Frage aufspringen.

Das alte Kreuz der Erkenntnistheorie, die Frage nämlich, ob das Subjekt oder das Objekt wirklich sei, hat sich in dem Spezialfalle des Zeitbegriffs zu der Frage verdichtet: ob die Zeit imaginiert sei oder die wirklichste Eigenschaft des Wirklichen. Wir haben hundert Gründe, die Zeit mit unserer Subjektivität oder mit unserem Denken verknüpft zu sehen; kein Begriff, keine Vorstellung kann entstehen, ohne daß das Gedächtnis eine frühere oder spätere Empfindung vergleicht, also den Zeitbegriff bemüht. Wir haben aber auch zum mindesten einen Grund, den Zeitbegriff mit dem Objekt zu verknüpfen; die Melodie prägt sich dem Gedächtnisse unerbittlich in der ihr eigenen Reihenfolge ein und das Gedächtnis ist so wenig Herr über die Zeit, daß es unmöglich e, c sich als das vorstellen kann, was vorhin c, e gewesen ist. Zu meinem Kummer und zum Schaden für die Darstellung dieser Sätze liegt die Schwierigkeit also nicht so sauber da, daß für die streng objektive Weltbetrachtung die Zeit imaginiert wäre, daß für die streng subjektive oder psychologische Weltbetrachtung die Zeit zu einer wichtigen, vielleicht der wichtigsten Eigenschaft des Wirklichen würde. Die Sachlage ist vielmehr so, daß die Frage der Fragen sich bei Betrachtung des Zeitbegriffs neu gestaltet und sehr brutal zu rufen scheint: Das ist mir völlig gleichgültig, ob du im allgemeinen und überhaupt subjektiv oder objektiv veranlagt bist, ob du die runde Welt aus deinem Denken hervorgehen läßt oder dein rundes Denken aus der eckigen Welt. Siehst du denn nicht, welch ein Wortquatsch das ist? Da denkst du über den Begriff Zeit nach und wüßtest nicht einmal zu sagen, ob er zu der Welt da draußen oder der Welt da drinnen gehört. So laß die Frage liegen, ob du im allgemeinen und überhaupt den Kopf gegen die Wand oder die Wand gegen den Kopf zu rennen vorziehst. Versuche den wohlbekannten Begriff der Zeit zu fassen. Hast du ihn gefaßt, handgreiflich gefaßt, dann erst lege dir die kniffliche Frage vor, ob handgreifliches Fassen endlich doch ein Beweis für Wirklichkeit sei, ob der ehrliche Tastsinn wenigstens nicht lüge. Hast du aber die Zeit nicht handgreiflich fassen können oder gar nicht einmal begrifflich, dann wisse, daß dies für die Unwirklichkeit der Zeit nichts beweise.

Und aufgeschreckt durch diese Ansprache will ich versuchen, die Beziehungen zwischen der Zeit und der Wirklichkeit wenigstens wortkritisch zu untersuchen, da eine Untersuchung der Beziehungen selbst immer unter der Gefahr des unfreiwilligen Spielens steht. Ein sonst vergessener Dichter, J. L. Stoll (Worte von ihm liegen auch einem schönen Liede Beethovens zugrunde) hat die Verse geschrieben, zu denen Weber die Melodie gesetzt hat: »Es sitzt die Zeit im weißen Kleid und webt und singt und webt; sie sitzt über ein offenes Grab, es rollen ihr lächelnd die Tränen herab.« Es ist beinahe Stimmungssache, ob man diese Zeit mit ihrem weißen Kleid albern oder schön findet; es ist beinahe Stimmungssache, ob jemand einmal in dichterischer Begeisterung die Beziehungen von Zeit und Wirklichkeit zu schauen glaubt.

Aber die Worte, in denen sich dieses Schauen ausdrückt, die können wir doch einigermaßen fassen? Ob die Zeit wirklich das erste Wirkliche sei, oder ob sie überhaupt nicht wirklich sei, das werden wir nie erfahren. Aber die Worte »die Zeit ist das erste Wirkliche« verstehen wir doch so gut, daß wir am Ende das aus den Worten gebildete Urteil auf seine Richtigkeit hin prüfen können.

In dem Satze »die Zeit ist das erste Wirkliche« muß es zunächst auffallen, daß das Adjektiv erste selbst wieder ein Zeitbegriff ist und metaphorisch dann einen superlativen Wertbegriff bedeutet. Ich will mir die Sache nicht leicht machen und will auf dem Wortlaut nicht bestehen, so sehr es reizen müßte, die Verwandtschaft zwischen Zeit- und Wertbegriff zu verfolgen. Nehmen wir also an, es solle heißen, die Zeit sei ein wichtiges Wirkliches, wo dann sowohl der superlativische Ausdruck als die Entlehnung des Wertbegriffs vom Zeitbegriff fortfiele. Doch umsonst. Ich habe ehrlich für erste die mir am banalsten erscheinende Bezeichnung gewählt, und wichtig ist doch wieder ein Werturteil, das metaphorisch vom allerletzten Zeugen der Wirklichkeit hergenommen ist, vom Tastsinn. Wichtig ist, noch in der Sprache des 18. Jahrhunderts, was Gewicht hat. Wollen wir aber einem Begriffe einen besonderen Wert schenken, so wäre es doch gut, wenn wir den Wertbegriff ohne Metapher ausdrücken könnten. Denn wir wollen dadurch, daß wir z. B. den Zeitbegriff wertvoll nennen, ihn wenigstens im Punkte seiner Schätzung über die Unklarheit erheben, die ihm wesentlich ist; bleibt aber die Schätzung undefinierbar, so wächst die Unklarheit. Nun hat aber schon Noiré (Ursprung der Vernunft, S. 177 f.) darauf hingewiesen, daß es innerhalb der Menschenwelt noch eine andere Anschauungsform gibt, welche gleichfalls, wie die in Zeit und Raum bestimmte objektive Kausalität, alle Dinge durch reine Zahlenverhältnisse auszudrücken ermöglicht; das sei der Begriff des Werts. Und der erste, der die Analogie zwischen dem Wertbegriff und den letzten Wirklichkeitsbeziehungen erkannte, war Herakleitos. Er sagte: »Alles wird gegen Feuer umgetauscht und Feuer gegen alles, wie Gold gegen die Dinge und die Dinge gegen Gold.« Ich glaube nicht zu weit zu gehen, wenn ich diesen dunklen Ausspruch etwa folgendermaßen in die Sprache unserer gegenwärtigen Wissenschaft übersetze: jede Kraft und die Äußerung jeder Kraft läßt sich in Wärme verwandeln, und Wärme in jede andere Kraftäußerung; wir können das Wärmeäquivalent jeder Erscheinung mit dem Marktwerte vergleichen, den die Dinge nach dem Verhältnisse von Angebot und Nachfrage zu besitzen scheinen, dürfen dabei jedoch nicht vergessen, daß dieser Marktwert, dieses Wärmeäquivalent doch den Erscheinungen selbst nicht wesentlich ist. Der Nationalökonomie war diese Vorstellung, daß der Marktwert ein Ausdruck zufälliger Verhältnisse sei, bald geläufig. Wenn ein geistig strebsamer Landwirt den Erlös von einer Fuhre Kuhdung dazu verwendet, sich ein Exemplar dieses Wörterbuchs anzuschaffen, so ist eine Gleichung hergestellt worden zwischen der mehr vegetativen Produktion einer Kuh und derjenigen Produktion meines Kopfes, die ich höher bewerte, weil mein Interesse befangen ist. Scherz beiseite: der Wertbegriff hat wirklich mit dem Zeitbegriff die furchtbare Ähnlichkeit, daß da und dort der letzte Maßstab fehlt. Und denke ich gar daran, daß unsere Sinne Zufallssinne sind, daß der Zeitbegriff, so wie er sich allmählich an diesen Zufallssinnen herausgebildet hat, nicht wäre oder anders wäre, wenn wir anstatt eines fein entwickelten Gehörsinns beispielsweise einen ebenso fein entwickelten Wärmesinn hätten, wenn ich weiter denke, daß der Wertbegriff auf einem andern Wege der Ableitung wieder von unserem Menschenleibe mit seinen Zufallssinnen hergekommen ist, so werde ich mich bescheiden, das Werturteil in dem obigen Satze zu tilgen und mich auf die Behauptung beschränken, die Zeit sei etwas Wirkliches.

Da muß ich beiseite lassen, daß unsere Anschauungen von Logik uns lehren, von keinem Subjekte etwas auszusagen, was nicht im Subjekte mitverstanden ist, z. B. unter keinen Umständen und nach keiner Deduktion von der Zeit zu behaupten, daß sie wirklich sei, wenn ich die Wirklichkeit nicht offenbar beim Zeitbegriffe mitdenke. Ich lasse dies beiseite, weil alle Wege von selbst zu meinen Beiträgen für eine Kritik der Sprache führen müssen, wenn die ganze Arbeit nicht systematisch, also unwahr werden soll. Ich will hier nur darauf hinweisen, daß ich bei dem Mangel an einer Zeitdefinition von der Zeit nichts aussagen darf, was sie von ihren Nachbarbegriffen trennt. Diese Nachbarbegriffe sind, ob durch Entwicklungsgeschichte oder bloß durch logische Quertreibereien verbunden, der Raum und die Kausalität. Raum, Zeit und Kausalität sind die notwendigen Bedingungen jedes Weltbildes, sei es falsch oder wahr, und keines von den dreien ist zu entbehren, wenn das Weltbild des Menschen stehen bleiben soll; so fällt ein Dreifuß, wenn man ihm einen der drei Füße nimmt. Ist die Zeit wirklich, so müssen Raum und Kausalität ebenfalls wirklich sein; die drei Füße haben aber zwar eine gleiche Länge, sie sind unermeßlich, sind aber sonst so unähnlich, daß für die Wirklichkeit des einen spricht, was für die Unwirklichkeit des andern. Zu trennen sind sie nicht; schon der kluge alte W. T. Krug macht zu dem Worte Newtons, der Raum müsse das Sensorium der Gottheit sein, die spöttische Bemerkung, ob dann die Zeit vielleicht ein zweites Sensorium Gottes sei. Wir bemerken also bei der Betrachtung des Subjekts die dreifache Schwierigkeit: daß wir instinktiv nur solche Prädikate aussagen möchten, die in der Definition des Subjekts mitverstanden sind, daß wir aber eine solche Definition der Zeit nicht haben; daß wir uns eine Hilfsdefinition und damit die Möglichkeit einer Prädikatbildung aus den Nachbarbegriffen der Zeit holen wollen und uns dabei mangels einer Definition und einer Geschichte der Vernunft auf Begriffe einlassen müssen, von denen wir nicht genau wissen, warum sie Nachbarbegriffe der Zeit genannt werden; daß wir endlich im Begriffe sind, von der Zeit etwas auszusagen, was auch auf ihre Nachbarbegriffe passen müßte, was aber auf diese offenbar nicht paßt.

Zuletzt aber: Was wird hier ausgesagt? Die Wirklichkeit? Wer will es wagen, auf dieser Höhe der Abstraktion noch von Wirklichkeit zu sprechen? Wirklichkeit ist doch ein ganz naiver Menschenbegriff, der bedeutet, daß dieses Blatt Papier da ein Objekt sei und nicht eine Phantasie meines Subjekts. Kommt es aber zum äußersten, wird die Frage der Fragen untersucht, ob die ganze weite Welt da draußen objektiv oder subjektiv sei, so heißt es doch mit der Sprache Schindluder treiben, wenn man mit Subjekt und Objekt Fangball spielt und zu untersuchen vorgibt, ob das Objekt subjektiv, oder das Subjekt objektiv sei. Hundert Philosophen haben sich an diesem Fangballspiele beteiligt und kein Student der Philosophie, der nicht noch heute glaubte, sein Subjekt hinüberwerfen zu können, um es als Objekt wieder in Empfang zu nehmen. Ich wage es kaum, gegenüber den hundert Philosophen und den abertausend Studenten auszusprechen, als was sich mir der Begriff der Wirklichkeit mit dem Federballspiele von Subjekt und Objekt enthüllt hat: als ein Übergangsbegriff, in welchem der arme Mensch mit dem scheinbaren Reichtum seiner Sprache den Standpunkt der Tierheit doch nicht überwunden hat. Daß die Welt da draußen wirklich sei, ist für den einfachen Menschen so absolut gewiß, weil diese Wirklichkeit der älteste, der gewohnteste, der eingeübteste Begriff der Menschheit ist, und die Wirklichkeit ist darum der eingeübteste und sicherste Begriff der Menschheit, weil er aus der Tierzeit herübergenommen ist, mitsamt dem Fangballspiel von Subjekt und Objekt. Denn was ist dieser Gegensatz von Subjekt und Objekt anderes, als das beschränkte Verständnis für die Wirksamkeit oder die Kausalität zwischen einem Individuum und der Außenwelt. Der Hund – soviel können wir wohl behaupten – empfindet sich selbst und empfindet die Außenwelt; er ist sich bewußt, daß er den Hasen erjagt hat und jetzt frißt; er ist sich bewußt, daß der Sturmwind ihn peitscht, daß der Herr ihn schlägt. Die Wirklichkeit fällt für den Hund also mit seinem Objekt zusammen. Dem Hunde fehlt der menschliche Begriff der Wirklichkeit, der von der Kausalität der Dinge untereinander ausgeht. Der Hund ist nicht naturwissenschaftlich gebildet und bemerkt darum nicht, daß auch die Peitsche in der Hand des Herrn vom Sturmwinde gebogen wird. Dem Hunde ist der Sturmwind der Gott, der ihm im Gesicht wehe tut; der Herr ist der Gott, der ihm am Rücken wehe tut. Beide Götter haben Beziehungen zum Hunde, sie haben keine Beziehungen untereinander. Diese Beziehungen der Dinge untereinander bilden die Wirklichkeit des Menschen, mit welcher er sich über das Tier erhoben hat; wäre der Mensch schon ganz Mensch, so müßte er sich selbst objektivieren, d. h. sich völlig zu den Beziehungen der Dinge untereinander rechnen. Es ist ein Atavismus des Menschen, ein Rückfall in die Weltanschauung des Tiers, wenn er die Welt als ein Wirkliches sich selbst entgegengesetzt sieht.

Unser Dilemma nimmt nach diesen melancholischen Gedanken eine seltsame Gestalt an. Für den atavistischen Sprachgebrauch, der noch mit der Weltanschauung des Tiers zusammenhängt und der das Objekt als allein wirklich dem Subjekt gegenüberstellt, mag die Zeit mehr etwas Unwirkliches bedeuten, weil sie ganz im Subjekte lebt und bestenfalls als eine Beziehung zwischen Subjekt und Objekt auftritt. Für einen stolzeren menschlichern Sprachgebrauch, der die Wirklichkeit in dem Wirken der Objekte aufeinander sieht und auch jedes Subjekt in der Kette dieser Wirkungen allein begreift, wird die Zeit zu etwas Wirklichem. Hier handelt es sich also um eine Geschichte des Sprachgebrauchs, die aufs engste mit der Urgeschichte der Vernunft verquickt ist. Der oberste und abstrakteste aller Begriffe, der des Seins, erweist sich einerseits als der leerste und hohlste Begriff, anderseits als der handgreiflichste, insofern er mit dem der Wirklichkeit zusammenfällt; als der handgreiflichste Begriff, als das dem Subjekt entgegenstehende Objekt, ist das Sein sicherlich schon im Besitze des tierischen Denkens; zum obersten und hohlsten Begriffe, zur ersten der Kategorien, hat ihn das ewige Streben des Menschen gemacht, die Logik des Tieres zu überwinden. Aus einem solchen Begriffe kann nichts erschlossen werden; der Satz »die Zeit ist etwas Wirkliches« ist uns nur ein Beitrag zur Geschichte des Denkens, er ist ein historischer Satz, wie »die Sonne bewegt sich in einer Kreislinie um die Erde.« Ich erinnere aber daran, daß die Scholastiker ihr subjektum für unser Objekt gebrauchten und umgekehrt; und daß ich geraten habe, einen Rücktausch der Begriffe vorzunehmen, zu dem Sprachgebrauch der Scholastik zurückzukehren. (Vgl. Art. objektiv II, 181.)

Eine viel wohlfeilere Betrachtung hätte uns rasch zu dem gleichen Ergebnisse führen können. Zeit und Wirklichkeit gehören zu jenen allgemeinsten Begriffen, welche seit Aristoteles in einer Kategorientafel angeordnet werden. Es scheint mir dem Wesen der Kategorien zu widersprechen, daß eine von der andern ausgesagt wird. Man kann von einer bestimmten Substanz, von einer bestimmten Größe, von einer bestimmten Eigenschaft räumliche oder zeitliche Verhältnisse aussagen, nicht aber von dem Sein selbst, von der Größe selbst, von der Eigenschaft selbst. Die Behauptung, die Zeit sei wirklich, sagt jedoch eine Kategorie von der andern aus. Kant war feiner als Aristoteles, als er den Zeitbegriff nicht unter seine Kategorien aufnahm, und er war ganz Kant, als er ihn durch ein Hinterpförtchen wieder einführte. Dem menschlichen Sprachgebrauche entspricht die alte Kategorientafel besser, sehr natürlich, weil sie doch nur eine äußerste Verdünnung des Sprachgebrauches, eine abstrakte Grammatik in zehn oder zwölf Worten ist. Und da trifft es sich recht gut, daß bei Aristoteles die Kategorie der Zeit eine Frage ist (ποτε, quando) und eine Frage wird sie bleiben.

Auch dann bleiben, wenn wir jetzt Ernst machen mit der Vorstellung, daß alle Begriffe der substantivischen Welt – also auch Zeit, Raum und Kausalität – atavistische Begriffe sind, die die Menschen mit den Tieren gemein haben; daß wir jetzt die Zeit, insofern wir sie wirklich oder wirksam nennen, nicht mehr den wirkenden Ursachen, sondern den zur Wirklichkeitswelt gehörigen Bedingungen zurechnen. Die Zeit ist neben dem Raume eine Bedingung der adjektivischen Welt des Seins; aber die Zeit ist auch und wesentlich eine Bedingung der verbalen Welt des Werdens. Da drängt sich aber eine noch schwierigere Frage auf. Der Begriff der Bedingung ist allgemeiner als der der Ursache; Ursachen sind diejenigen Bedingungen, in die wir nach einer besondern Richtung der Aufmerksamkeit die Kräfte von bestimmten Wirkungen hineinverlegen. Ursachen sind Kräfte. Wir müssen also nun, wenn die Zeit eine Bedingung der Wirklichkeitswelt ist, einen Oberbegriff suchen, der auf die Kraft und auf die Zeit paßt. Einen solchen Oberbegriff bietet uns die wissenschaftliche Sprache nicht, vielleicht aber eine theoretisch erschlossene Erscheinung, die gleicherweise hypothetisch an einer Kraft (Wärme) und an der Zeit vorgestellt werden kann: die Entropie.

VII.

Trendelenburgs Versuch, Kants Lehre von der Subjektivität, Apriorität der Anschauungsformen Raum und Zeit zu verbessern, ist dankenswert. Nur, daß Trendelenburg mehr als er selbst ahnte, unter Hegels Einfluß stand, den er übrigens so tapfer bekämpfte; sein Grundgedanke, Bewegung sei zugleich das Prinzip der Wirklichkeit und des Denkens, kommt von Hegel und mußte mit Hegel gehen. Aber viel Anregendes enthalten seine Ausführungen doch.

Trendelenburg hat schon bemerkt, daß in den Fallgesetzen Maße von Raum und Zeit sich zu Maßen der Bewegung vereinigen. Seitdem nun die neuere Physik Bewegung auch und erst recht der Schwere, den chemischen, thermischen und im weitesten Sinne elektrischen Erscheinungen zugrunde legt, wäre es Pflicht der Physik, die Realität von Zeit und Raum anzunehmen, wobei vorläufig Kant nicht in Frage käme. Denn die Bewegung als Ursache all dieser Erscheinungen braucht nur ein relatives Ding-an-sich zu sein, mag einen Regreß zu einem Ding-an-sich zweiter Potenz gestatten, so daß Raum und Zeit an der Bewegung immer noch als einer bloßen Erscheinung haften. Auf diesem vorsichtig gewählten Standpunkte jedoch wäre es endlich erwünscht, das Verhältnis der Zeit zum Raume und dann wieder das Verhältnis der Zeit zu den thermischen, elektrischen usw. Bewegungen genauer zu verstehen. Was man so verstehen nennt. Über bildliches Verstehen werden wir nicht hinausgelangen.

Das Bild von der Zeit, das mir nützlich scheint, ist: die Zeit strömt. Seit Carnot und Clausius ist die Vorstellung fruchtbar geworden, Wärme, Elektrizität seien in Arbeit umwandelbar, wenn sie und weil sie wie ein Wasserstrom vom höhern Niveau zu dem tieferen hinabfließen. Sonst keine Arbeit. Mir will es scheinen, daß dieses anschauliche Bild für die Zeit noch besser zutrifft, als für Wärme oder Elektrizität. Ich sehe das Bild noch deutlicher: aus einem ungeheuern Vorrat, den wir nicht sehen, den wir vorlaut und ungeduldig etwa die Zukunft nennen dürfen, kommt die Zeit heran wie der Wasserfall, dessen Oberlauf wir nicht kennen; unterhalb stürzt er in das Meer des Vergessens oder der Vergangenheit, wirkungslos, ohnmächtig, flach; wo er aber stürzt, wo der Mensch neben ihm lebt oder Fabriken baut, da leistet der Fall, der Strom Arbeit, da ist die Zeit Bedingung, Mitursache jeglicher Wirkung. Wirklich, der Strom der Zeit stürzt aus der Zukunft in die Vergangenheit, nicht umgekehrt. Man halte dem Bilde auch nicht entgegen, daß der Wasserfall oder der Strom streng begrenzt in seinem Bette fließen muß, daß die Zeit dagegen überall ist (wie der Raum immer ist), daß die Zeit, Strom und Sintflut zugleich, überall mit gleicher Schnelle und gleicher Stärke alle großen und kleinen Maschen des Raums durchfließt, daß die Zeit auch da ihren Zeitstrom, ihr Zeitgefälle hat, wo kein Mensch nebenan lebt oder Mühlen baut. Ich könnte antworten: Gibt es nicht in einsamer Wildnis Wasserfälle, die ungenützt und ungesehen stürzen? Gibt es nicht wochenlang über ausgedehnten Ländern und Meeren unendliche Regengüsse, die Wasserfällen gleichen, aber auch der Zeit? Doch ich habe eine bessere Vergleichung. Auch was wir Wärme nennen, ist ein Strom, der von der Sonne aus nicht in einem gewiesenen Bette fließt, sondern unendlich und allseitig wie der Raum durch alle Räume dringt, unendlich und eindeutig wie die Zeit, arbeitslustig hinabsinkt, aber trotzdem von seiner unendlichen Fülle nur den einen Tropfen Arbeit verrichten lassen kann, der von einem benachbarten Planeten, Menschen, Blatt, Wurm oder Dampfbläschen gehascht wird. Der Strom der Zeit umgibt uns, reißt uns mit, zerschellt uns, hebt uns, versenkt uns, läßt uns Mühlen treiben, uns paar Menschen an dem Punkte, wo der Strom uns berührt, an Quadrillionen andern Punkten stürzt der Strom der Zeit wirkungslos und flach ins Meer, wie der Wasserfall in der einsamen Wildnis, bevor der Mensch mit seinen Dampfschiffen kam, ungesehen und überhaupt ungenützt.

Unendlicher Vorrat von Zeit ist da: oberhalb des Falls oder Gefälles, von irgendwoher. Wie der Vorrat des Wasserfalls von himmlischem Regen. Unendlichen Vorrat sprechen wir auch dem Raume zu. Aber der Raum strömt nicht, stürzt nicht; der Raum ist wie ein See, eben wie der Ozean, der nicht verbraucht werden kann, der keine Arbeit leistet. Ob das Bild vom Strome der Zeit nur ein Bild ist oder mehr, ob es ein schlechtes oder ein gutes Bild also ist: eine Vergleichung von Zeit und Raum wird einige Linien des Bildes deutlicher machen.

Wir haben eben ganz nebenher den Gedanken zu ertappen gesucht, daß die Unendlichkeit der Zeit eine andere sei, als die Unendlichkeit des Raums. Diesen Unterschied in prägnanten Worten auszudrücken, ist unmöglich, mir unmöglich. Alles Wirkliche hat teil an Raum und Zeit. Der Raum gibt dem Wirklichen seine Gestalt, ist seine Form. Was ist nun der Gegensatz zu diesem Formbegriff? Überall sonst ist Inhalt der Gegensatz von Form. Ich wage aber nicht oder noch nicht zu sagen, Zeit sei der Inhalt des Wirklichen. Denn der Inhaltsbegriff müßte gewandelt werden, damit Zeit Inhalt werden könnte.

Sodann ist das Verhältnis des Menschen zur Unendlichkeit des Raums ein ganz anderes als zur Unendlichkeit der Zeit. Der Mensch, der stille hält, kann den unendlichen Raum nur denken, ihn aber nie erreichen, ohne Gehirnarbeit aber auch nicht den kleinsten Bruchteil des Raums, der über ein Klaftermaß hinausgeht. Die unendliche Zeit aber rückt ruhelos an den Menschen heran, der stille hält, und er brauchte nur ewig zu leben, um die unendliche Zeit zu Ende zu erleben. Anders ausgedrückt: Was immer der Mensch sieht, das ist räumlich geformt, das sieht er gestaltet; was aber immer auf den Menschen wirkt aus der Wirklichkeitswelt, also auch was auf sein Sehorgan wirkt, das hat schon Zeit in sich, als Inhalt, als Faktor. Für den Raum haben wir ein Organ oder vielmehr ein Nebenamt eines Organs: des Gesichts; ein Organ für die Zeit haben wir durchaus nicht, nicht einmal im Nebenamt.

Damit hängt es aufs engste zusammen, daß wir die räumlichen Verhältnisse des Wirklichen seit jeher zu seinen Eigenschaften rechnen, daß die Sprache sich aber dagegen sträubt, auch die zeitlichen Verhältnisse eines Dings oder eines dinglichen Erlebnisses Eigenschaften zu nennen. Gestrig, jetzig, morgig (morgend) klingen mir wie häßliche, unorganische Neubildungen nicht nur neben den Sinnesqualitäten blau, hart, laut, schwer, sondern auch neben den abstrakten Qualitäten gut, schlecht; und lang, kurz usw. sind nur darum unauffällige Eigenschaftsworte, weil sie (notwendig, wie wir gleich sehen werden) Raumvorstellungen bildlich auf die Zeit übertragen. Raum ist eine Eigenschaft des Wirklichen, Zeit ist eine Bedingung der Wirklichkeit. (Dieser Satz ist nicht ganz umkehrbar. Man könnte auch den Raum eine Bedingung der Wirklichkeit nennen, niemals aber die Zeit eine Eigenschaft des Wirklichen.) Man denke an den starrenden Fels, über den der Wasserfall hinunterstürzt. Sein ungeheures Massiv als Würfel, Kegel, Pyramide oder wem er sonst ähnelt, weiter seine Zacken und Schroffen und Rinnen und endlich seine feinsten Linien bis zu mikroskopischen Feinheiten hinunter gehören zu seinen Eigenschaften; starr, unveränderlich in den großen Zügen, aber veränderlich im kleinen. Sonne, Wasser, Wärme, Kälte verändern die Wirklichkeit des Felsens, aber nie ohne Mitwirkung der Zeit, die eine Bedingung, eine Mitursache der Änderung ist, nicht ihre Eigenschaft.

Nun aber das Wichtigste, das daraus zu erklären ist, daß wir ein Organ für den Raum haben, nicht aber für die Zeit. Das Maß des Raums ist für den messenden Menschen die Raumeinheit; das Maß der Zeit ist hilflos oder unbeholfen wieder eine Raumeinheit. Die Zeit kann nur bildlich gemessen werden. Man mache sich die Sachlage einmal klar.

Wenn man von der Zahleinheit, die allem Messen zugrunde liegt, absieht (vgl. Krit. d. Spr. III, 142f.), so ist jede Maßeinheit eine Konvention. Nicht nur Fuß, Elle, Yard usw. Auch die Redensart, das jetzt so weit verbreitete Metersystem gehe auf eine natürliche Maßeinheit zurück, ist ja nur eine Legende; der Urmeter in Paris bleibt ja Urmeter, nachdem der zugehörige Bruchteil des Meridianquadranten in einigen Dezimalstellen anders berechnet worden ist als früher (Vgl. Art. messen). Aber die konventionelle Maßeinheit ist vertretbar, übertragbar. Innerhalb der Toleranz oder der Fehlerquellen lassen sich Längenmaße, Flächenmaße und Hohlmaße, dann auch Gewichte mit Zirkel und Rechnung genau ausdrücken. Wie in der Geometrie Flächen durch vorgestellte Deckung sich vergleichen lassen, wobei nur die sehr wahrscheinliche Hypothese nötig ist, daß Flächenmaße durch Verschiebung im Raume sich nicht ändern. Die Hypothese ist sehr wahrscheinlich, weil der Raum eine Eigenschaft ist und nicht Mitursache von Änderungen.

Dagegen gibt es eine Zeiteinheit nicht, die unmittelbar zum Messen einer Zeitgröße dienen könnte. Bekanntlich bedienen wir uns auch zum Messen der Zeit der Raumeinheiten. Unsere Uhren lassen Zeitgrößen nach Winkelmaßen ablesen. Früher war das an Sonnenuhren schon üblich. Noch früher maß man die Stunden nach Sand- und Wasseruhren, berechnete also den unbekannten Zeitfaktor aus dem bekannten Produkt von Zeit und Bewegung, indem man theoretisch das Produkt (die Menge Sand oder Wasser) durch die Bewegungsgröße dividierte. In ganz ähnlicher Weise (wieder theoretisch) wurde das Jahr nach der Bewegung der Sonne gemessen. Es hat mit unserm Thema nichts zu tun, daß im Laufe der Zeit die Bewegung der Sonne richtiger gedeutet und genauer gemessen wurde. Es hat mit unserm Thema aber vielleicht doch etwas zu tun, daß die alte Wasseruhr (die in Babylon wahrscheinlich die »natürliche« Einheit für Zeit, Raum und Gewicht abgab), wohl den 24. Teil eines Tages innerhalb der Fehlergrenzen genau angeben konnte, ganz gewiß aber nicht Bruchteile einer Stunde. Weil Druck und Bewegung Funktionen der Wasserhöhe sind und kaum angenommen werden kann, daß damals Vorkehrungen getroffen worden waren, die Wasserhöhe im obern Gefäße immer gleich zu halten.

Diesen Vorteil könnte ein moderner Mechaniker natürlich ganz leicht in seiner Maschine einrichten. Was aber hinter dem Messen der Zeit durch Raum oder Bewegung als eine Hypothese steckt, die Gleichmäßigkeit nämlich des Zeitflusses oder Zeitstromes, das ist zwar eine ebenso wahrscheinliche Hypothese, wie die Vertretbarkeit der Flächen in der Geometrie; aber in der Welt der Erfahrung gibt es kein Mittel, diese Hypothese zu verifizieren. Ja, diese Hypothesen auch nur zu verstehen, hat seine besonderen Schwierigkeiten. Denn die Zeit, die keine Eigenschaft ist, wird da zu etwas, das wenigstens eine Eigenschaft hat: die Gleichmäßigkeit.

Das Erste, was sich schon der Hypothese von der Gleichmäßigkeit entgegenstellt, ist wieder der Umstand, daß wir kein Sinnesorgan für die Zeit haben. Raumgrößen können an Raumgrößen gemessen werden, nach allen Richtungen, vorwärts und rückwärts. Die Zeit verfließt eindeutig, in einer einzigen Richtung, ihre Umkehrbarkeit ist nicht einmal vorzustellen. Und wenn wir den Begriff der Zeit, deren Strom wir erleben, fassen wollen, so stehen wir vor einer neuen überraschenden Verwirrung: der Strom der Zeit um uns ist ja nicht einmal dasselbe, wie das Gefühl der Zeit in uns. Den Strom der Zeit messen wir bildlich, nach der verflossenen Zeitmenge, nach der Bewegung, nach dem Raume; das Gefühl der Zeit in uns können wir gar nicht messen. Und ich werde gleich fragen, ob wir das, was ich eben Zeitgefühl genannt habe, eine Empfindung nennen, neben die anderen Empfindungen unserer Sinne stellen dürfen.

Sodann ist es auch um die Gleichmäßigkeit anderer Größen eine eigene Sache. Wenn man Raumgrößen, die zum Maße dienen, als beständig ansieht, so vergißt man absichtlich die Tatsache, daß das Volumen eines Körpers in genauem Sinne niemals beständig ist. Das Volumen eines Körpers verändert sich unaufhörlich nach seiner Temperatur. Und eine Unsicherheit in zweiter Potenz: der Siedepunkt des Thermometers, auf dem die Skala beruht, ändert sich unaufhörlich nach dem Luftdruck, der seinerseits wieder von der Wärme abhängig ist.

Diese kleinen Fehler haben die Menschen nicht gehindert, den Raum mit konventionellen Volumgrößen auszumessen, die Wärme mit konventionellen Temperaturgrößen (ich nehme hier Volumen in einem weiteren Sinne auch für Linien und Flächen). Vom Raume besäßen wir nur unklare Empfindungen, wenn wir nicht annähernde Volumgrößen zu Hilfe genommen hätten. Ebenso besäßen wir von der Wärme nur höchst ungenaue Empfindungen (das gleiche Badewasser kann der einen Hand kalt, der andern warm erscheinen), wenn wir nicht die annähernde Temperaturskala eingeführt hätten. Das Messen der Zeit durch unsere Uhren, so genau sie gehen mögen, ist aber ein ganz ander Werk als das Messen des Raumes durch das Metersystem, das Messen der Wärme durch eines unserer Thermoskope. Denn es gibt auf der Welt nichts, was sich zur Zeit verhielte, wie sich das Volumen zum Raume verhält, die Temperatur zur Wärme. Das Volumen ist nicht ideal beständig, die Intervalle zwischen benachbarten Graden der Thermometerskala sind ganz gewiß nicht absolut gleichmäßig; beide Maße sind konventionell und nur annähernd genau. Aber von Volumen und Temperatur haben wir außer den gemessenen Zahlen auch Empfindungen; von der Zeit haben wir, wie ich jetzt zeigen will, eine Empfindung nicht, und von dem, was an der Zeit unmittelbar gemessen werden könnte (wie das Volumen eines Raumes und wie die Temperatur der Wärme), können wir uns nicht einmal eine Vorstellung machen. Wir können uns ganz gut vorstellen, daß die gleiche Stärke der Molekularbewegung, die auf unsere Haut als Wärmeempfindung wirkt, die Verlängerung des Quecksilberfadens im Thermometer bewirkt; also können wir uns das Ausmessen unserer Wärmeempfindung vorstellen. Nicht als Wirkung, aber als Eigenschaft der Körper können wir in Gedanken unsere subjektive Raumempfindung und das meßbare Volumen zusammenbringen. Nichts davon ist von der Zeit auszusagen. Noch trügerischer als Wärme und Kälte des Badewassers ist das subjektive Empfinden von Länge und Kürze der Zeit. Und das vermeintliche objektive Messen der Zeit wird nie zu Zeitempfindung, ist immer nur ein Ablesen von Raumbewegungen (Sonne und Sterne, Sanduhr, Uhrzeiger), ist immer nur die uralte Gewohnheit des Menschen, sich mit der Bewegung, als einem Bilde von der Zeit, zu begnügen, die Hypothese von der Gleichmäßigkeit des Zeitstroms zu glauben und sich niemals darüber zu wundern, daß wir von der wichtigsten Bedingung unseres Daseins, von der Zeit, nichts wissen.

Der Grund kann nicht darin liegen, daß wir flächenhaft sehen, also zweidimensional, und daß die Zeit nur eindimensional ist. Allerdings mag etwas Selbsttäuschung mitspielen, wenn wir eindimensional zu sehen glauben: eine gerade Linie, eine Richtung; historisch haben die Menschen gewiß zuerst Körper wahrgenommen, dann Flächen, zuletzt erst gerade Linien, die es in der Natur – wenn wir den Begriff ganz streng nehmen – gar nicht gibt. Immerhin ist die gerade Linie etwas wie eine Eigenschaft, die wir uns mit geringer Phantasie vorstellen können. Die Zeit aber ist doch nur bildlich eine gerade Linie. Es gehört wenig geometrische Phantasie dazu, sich im Raume mit Hilfe von drei Koordinaten, sich in der Ebene an zwei Koordinaten, sich in der Geraden an einer einzigen Ordinate (oder Abszisse) zu orientieren. Es gehört aber sehr viel Phantasie dazu (und noch mehr Phantasie, die Schwierigkeit zu begreifen), die Zeit im Bilde einer Geraden wiederzuerkennen. Und dann ist es ein ander Ding, an dieser einen Richtungslinie einen Zeitpunkt zu bestimmen, ein ander Ding, eine Zeitdauer. Der Zeitpunkt, mag er klein oder groß gedacht sein (Sekunde, Minute, Stunde, Tag, Jahr, Jahrtausend, Lichtjahr) läßt sich mathematisch an der Geraden darstellen. Was aber dem Raumvolumen entspräche, das ist ganz was anderes als eine Grenzbestimmung, das ist die Zeitdauer. Und die Dauer können wir nicht wahrnehmen, können wir nur metaphorisch ausdrücken, weil eben nicht einmal das eigentlich richtig ist, daß die Zeit eindimensional sei. Die Zeit ist eine Bewegung oder ein Strom, und das ist die erste Metapher; daß dieser Strom oder diese Bewegung in einer Geraden erfolge, das ist schon Metapher der Metapher.

Also noch einmal: wir haben keine Zeitempfindung, weil wir kein Zeitorgan haben. Oder: wir haben kein Zeitorgan, weil wir keine Zeitempfindung haben. Es ist ganz gleich, ob wir in dieser Tautologie das Organ oder die Empfindung zum Erkenntnisgrunde machen. Oder zum Realgrunde. Es wäre nicht unmöglich (was wäre der Sprache unmöglich?) die sogenannten Zeitempfindungen dem sogenannten Gemeingefühl zuzuweisen und das unbekannte Organ des Gemeingefühls zur besondern Auszeichnung auch noch das Organ der Zeit zu nennen. Unsere Erlebnisse sind ja, wenn wir darauf achten, stets mit einem Zeitzeichen versehen. Und es gibt zeitliche Verhältnisse, die wir uns unwillkürlich merken, auch wenn wir die Erlebnisse gar nicht beachten, an die sie geknüpft sind. Dahin gehören alle Erscheinungen des Rhythmus. Jeder gemeine Soldat, jeder Wilde ist imstande, seinen Marsch nach dem Trommelwirbel zu richten. Man unterscheidet mit Sicherheit einen Daktylus von seiner Umkehrung, dem Anapäst. Beim Rhythmus scheint etwas wie eine Zeitempfindung vorzuliegen, scheint nur. Ich könnte meine Behauptung, daß es Zeitempfindungen überhaupt nicht gibt, mit einem Hinweise stützen, den ich schon vorbereitet habe; das zeitliche Verhältnis ist immer nur Merkzeichen, Merkzeichen im Bewußtsein eines andern Empfindungserlebnisses, die wirklichen Empfindungen sind selbst Erlebnisse, wie man denn eine bestimmte Regenbogenfarbe, wie man einen Wärmegrad ohne jede andere Körperempfindung wahrnehmen kann. Aber ich darf noch weiter gehen. Gerade beim Rhythmus, auf den sich die Verteidiger der Zeitempfindung berufen, scheint sich mir eine überraschende Übereinstimmung zu enthüllen mit der Art, wie wir allein die objektive Zeit, ohne jede Empfindung, messen können: am Raume. Haben wir denn bei der Auffassung eines Rhythmus in uns irgend etwas anderes als eine Bewegungsvorstellung? Tanzmusik geht in die Beine, sagt man. Dem Unmusikalischen fährt sie nicht in die Beine. Der Soldat übersetzt den Marsch der Trommel in seine eigene Bewegung und nimmt ihn so wahr. Auch die Rhythmen der Verse sind Bewegung. Ich habe seit früher Jugend ohne jede erkenntnistheoretische Absicht die Bemerkung und fast die Beobachtung zu machen geglaubt, daß ich in schlaflosen und stillen Nächten den leisen Tritt der Zeit vernehmen könnte, und daß dieser leise Tritt der Zeit, der durch die einsamen Straßen verhallte, am Ende nichts anderes wäre als der eigene Pulsschlag, oder vielmehr, wie ich mir das deutete, der Rhythmus der Blutfülle und der Blutarmut im Gehirn, der Rhythmus von geistigem Vermögen und Unvermögen. Ich habe mich vor einigen Jahren gefreut, die gleiche Phantasie bei Mach wiederzufinden (Anal. der Empf. 3. Aufl. 197): »Es wird die Vermutung nahegelegt, daß die Empfindung der Zeit mit periodisch oder rhythmisch sich wiederholenden Prozessen in nahem Zusammenhange steht. Es wird sich aber kaum nachweisen lassen, wie es gelegentlich versucht worden ist, daß sich das allgemeine Zeitmaß auf die Atmung oder den Puls gründet.« Wäre etwas daran, so hätten wir wieder statt einer Zeitempfindung ein Bewegungsgefühl.

Mach lehrt die Existenz einer Zeitempfindung. »Manche Empfindungen treten mit, andere ohne deutliche Raumempfindung auf. Die Zeitempfindung begleitet aber jede andere Empfindung und kann von keiner gänzlich losgelöst werden« (a. a. O. 185). Dem möchte ich widersprechen. Mach hat in diesen Worten schon die landläufige Lehre, daß die Raumvorstellung nicht irgendwie, wenn auch undeutlich, mit allen Empfindungen verbunden sei, korrigiert. Mindestens eine Raum richtung knüpft sich an jede Sinnesempfindung. Noch spricht er da die Unablösbarkeit von der Zeitempfindung aus; aber wenige Seiten später (188) gibt er einen bessern Fingerzeig: Zeitempfindung sei immer vorhanden, »solange wir bei Bewußtsein sind.« Und nun halte ich endlich in festen Begriffen, was ich als den wesentlichen Unterschied von Raum und Zeit darstellen wollte. Raum ist eine Eigenschaft der sinnlichen Welt; für Volumgrößen besitzen wir ein Sinnesorgan im Nebenamt. Zeit ist keine Eigenschaft, ist nur eine unwahrnehmbare Bedingung alles sinnlichen Erlebens, wir haben kein Zeitorgan. Für die Empfindungen aller Sinnesdaten und des Raums brauchen wir kein Bewußtsein, nicht den Schimmer eines klaren Bewußtseins; man muß schon abgelenkt, zerstreut, eigentlich von einer andern Vorstellung hypnotisiert sein, um eine Entfernung, eine Farbe, eine Form, einen Ton, einen Geruch, einen Wärmeunterschied nicht wahrzunehmen. Nimmt das sogenannte Bewußtsein sich einer dieser Empfindungen besonders an, so nennt man das Aufmerksamkeit. Aber ich habe gezeigt oder zu zeigen gesucht, daß das berühmte Bewußtsein, von dem die Philosophen seit seiner Entdeckung nur feierlich zu sprechen wagen, nicht mehr und nicht weniger sei, als die rätselhafte Eigenschaft der Organismen, die man sonst Gedächtnis nennt, und daß das noch viel berühmtere Selbstbewußtsein, wo es sich überhaupt vorzufinden scheint, eine Täuschung der höchsten Organismen ist, eine Selbsttäuschung des Gedächtnisses. Habe ich darin recht, so ergibt sich für den Unterschied von Raum und Zeit der einfachste Ausdruck. Die Empfindung von Raum und allen andern Sinnesdaten liegt in der Gegenwart, nur in der Gegenwart. Die Vorstellung vom Zeitmoment gehört dem Bewußtsein an, also dem Gedächtnis, also der Vergangenheit. Was wir Zeitempfindung nennen, das klare oder unklare Bewußtsein einer Dauer, bezieht sich ausnahmslos auf eine abgelaufene Zeit, und wenn wir bewußt einer gegenwärtigen Sinnesempfindung oder Raumempfindung ein Zeitmoment zusprechen, den Zeitmoment eines augenblicklichen Erlebnisses festhaken, so brauchen wir dazu die Mittätigkeit unserer Aufmerksamkeit, und da behaupte ich, daß wir die Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Augenblick gar nicht lenken können, ohne ihn aus der Gegenwart hinaus in die Vergangenheit zu werfen. Ich will auf die Sekunde genau die Zeit eines besonders interessanten Blitzes feststellen; er ist vergangen, wenn ich die Zeit bemerke, nicht nur seiner Schnelligkeit wegen, sondern schon um deswillen, weil meine bloße Aufmerksamkeit ihn aus der Gegenwart des sinnlichen Erlebens herausreißt. Ganz allgemein ist das ja das Ergebnis der unzähligen psychophysischen Versuche unserer psychophysischen Laboratorien. Wieder ein Dilemma. Ist es die Zeit, die Aufmerksamkeit erfordert? Oder: ist es die Aufmerksamkeit, die Zeit erfordert? Hier fängt die Gefahr der Sophistik an, die sich schon des Satzes bemächtigt hat, daß die Zeit überall keine Gegenwart habe. Niemand hat seine Sophistik daran so hübsch geübt, wie Augustinus im 11. Buche seiner »Confessiones.« Nam si extenditur, dividitur in praeteritum et futurum: praesens autem nullum habet spatium und so weiter. Aber der liebe Heilige ist doch mehr als ein Sophist. Er sagt kurz vorher mit köstlicher Ehrlichkeit (C. 14): Quid est ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim nescio; fidenter tamen dico, scire me.

Eine Brücke führt vom brünstig gläubigen Augustinus zu dem fast pietistisch gläubigen Newton. Newton lehrte unkritisch die Existenz eines absoluten Raums und einer absoluten Zeit, nannte den Raum ein Sensorium Gottes (für die Zeit fand er so ein Wort nicht) und schmuggelte überhaupt gern Theologie in sein erstaunliches Werk. Beide fromme Männer mögen den gleichen Grund gehabt haben, sich in die Begriffe Raum und Zeit so hineinzuknieen. Wenn immer wir den Bericht über eine Begebenheit erhalten, so verlangen wir zunächst Antwort auf die beiden Fragen: wo und wann. Selbst das Märchen muß die Fragen wenigstens mit einer leeren Partikel beantworten: es war einmal, es war irgendwo. Dieser Forderung kann sich auch der Gottesbegriff nicht widersetzen; mit einem raum- und zeitlosen Gotte, der nicht einmal und irgendwo war, wissen wir nichts anzufangen.

Wir sind also in der Vergleichung von Zeit und Raum zu dem letzten Worte gekommen, daß der Raum immer gegenwärtig ist und vergangen eigentlich nicht gedacht werden kann, daß die Zeit immer vergangen ist und gegenwärtig eigentlich nicht einmal gedacht werden kann. Damit mag es zusammenhängen, daß wir uns den Vorrat an Raum als ein Gefäß vorstellen müssen, in dem alle besondern Räume stecken; daß wir uns den Vorrat an Zeit wie einen Strom vorstellen müssen, der an der Gegenwart vorüber in den unräumlichen Behälter unseres Gedächtnisses fließt.

Und nun habe ich die zweite Vergleichung vorzunehmen, habe zu zeigen, wie sich etwa die Zeit von einer andern Energieform unterscheidet, der Wärme, die wie die Zeit verbraucht wird und die doch offenbar wirklicher ist, palpabler als die Zeit.

Ich knüpfe zunächst an das letzte Wort an. Während alle sogenannten Körper den Raum zu einer Eigenschaft haben und darum allein eine Gegenwart besitzen, die im Widerspruch mit der Sprache eher eine räumliche als eine zeitliche Eigenschaft ist, steht es um die Wärme wie um die Zeit und um den Wasserfall. Eine körperliche Gegenwart hat die Wärme wie der Wasserfall nur oben, auf der Höhe, wo man im ruhenden Bergsee baden, wo man die ruhende Wärme empfinden kann. Solange Wärme und Wasser oben bleiben, im räumlichen Reservoir gegenwärtig, solange geschieht nichts, weder durch Wärme noch durch Wasser, als daß wir sie empfinden. Erst durch den Strom von Wärme oder von Wasser, durch das Gefälle zu einer tiefern Temperatur oder zu einem tiefern Niveau (die Sprache nennt beides tiefer) leisten Wärme und Wasser Arbeit. Wärme und Wasser hören im Gefälle auf der Gegenwart anzugehören. Sie wirken erst, wenn sie vergehen, wenn sie in die Vergangenheit stürzen. Wie die Zeit. Und noch eine wichtige Ähnlichkeit besteht zwischen Wärme (ich bemühe den Wasserfall nun vorläufig nicht weiter, vergesse ihn aber nicht) und Zeit: beide sind in ihrer Richtung eindeutig bestimmt. Ewig abwärts fließen Wärme und Zeit. Die Richtung ist für unser Naturwissen bei beiden nicht mehr umkehrbar. Bis auf die neuere Hydrostatik glaubte man, das Wasser könnte aufwärts fließen durch den horror vacui; bis auf Carnot glaubte man, die Wärme könnte – von selbst, ohne künstliche Mittel – aufwärts gehen von einem kältern Körper in einen wärmern; aber niemals glaubte man, die Zeit könnte rückwärts fließen. Selbst das Stillestehen der Zeit, also ihre Gegenwart, war ein unvorstellbarer Wunderglaube.

Aber der Unterschied ist ebenso stark wie die Ähnlichkeit. Wir betrachten die Wärme als eine rechte Ursache von Änderungen in der Wirklichkeitswelt, die Zeit nur als Bedingung solcher Änderungen. Und dann, worauf schon hingewiesen: das Gefälle leistet immer, auch wenn wir es nicht wahrnehmen, auch wenn die Erwärmung des Weltraumes unendlich klein ausfällt, irgend eine Arbeit, ist immer irgendwie wirksam, wirklich; das Gefälle der unendlichen Zeit aber entfließt ohne Wirkung, ohne Arbeit, ohne daß durch die Zeit oder in der Zeit etwas geschieht.

Mir ist nun eine Betrachtungsweise nicht fremd, die man verstiegen nennen mag, die aber die Vorstellung gestatten könnte, daß die Energieform der Wärme der Energieform der Zeit doch noch ähnlicher ist. Ich möchte das vorsichtig so vortragen:

Von der Wärme wissen wir nichts, als etwa, was wir Wärmeempfindung nennen. Messen können wir unsere Wärmeempfindungen so wenig, wie unsere Zeitempfindungen, nur ganz roh. Wollen wir Wärmeunterschiede genauer messen, so müssen wir, wie bei der Zeit, den Raum zu Hilfe nehmen; wir messen die als gleichmäßig vorausgesetzte Zeit an der gleichmäßig vorausgesetzten Bewegung (der Sterne, des Pendels), wir messen Wärmeunterschiede an der gleichmäßig gedachten Ausdehnung der Körper. Nur die Ausdehnung durch Wärme können wir messen, nur von dieser Erscheinung, deren konventionelle Grade wir Temperatur nennen, wissen wir etwas. Wir messen die Ursache Wärme an der Wirkung Ausdehnung und bringen Ursache und Wirkung in eine Proportion. Daß die Wärme die Ursache der Ausdehnung sei, daran hat niemals jemand gezweifelt. Darum heißt auch die Wärme eine Kraft, eine Energieform, der Raum hat nie so geheißen. Wenn nach dem Gesetze von Gay-Lussac bei gleichem Drucke die Gase sich im Verhältnisse zur Wärme ausdehnen, so heißt wieder Wärme die Ursache, Ausdehnung die Wirkung. Wie aber, wenn ein Gas dadurch wärmer wird, daß man es zwingt, einen kleineren Raum einzunehmen? Dadurch kälter wird, daß es sich ausdehnt? Wird dann nicht die Ausdehnung zur Ursache, die Temperatur zur Wirkung? Daß Ursache und Wirkung da in umgekehrtem Verhältnisse steht, braucht uns nicht zu kümmern; denn die Natur kennt keinen kategorischen Imperativ, sich nach den menschlichen Begriffen gerade und umgekehrt zu richten. Die Natur erlaubt sich lasterhaft unlogische Eigenmächtigkeiten, wenn z. B. das Wasser beim Sinken der Temperatur bis ungefähr 4° sich zusammenzieht und sich dann wieder ausdehnt. Und nicht einmal genau bei 4°!

Ich weiß ganz wohl, was die gegenwärtige Physik dieser verstiegenen Vorstellung, der Raum könne die Ursache der Wärme sein, entgegenhalten kann. Werde Wärme bei gleichem Drucke zugeführt, so sei die Wärme Ursache der Ausdehnung und Wärme und Ausdehnung in gerader Proportion. Verändere sich aber das Volumen, so sei die Temperaturänderung nicht eine Wirkung der Ausdehnung, sondern einer zugeführten Arbeit, die sich in Bewegung, in Molekularbewegung verwandle.

Ich wollte eigentlich nur die Begriffshypothese, die Zeit könnte eine Energieform genannt werden wie die Wärme, durch den Hinweis empfehlen, daß sogar der Raum als eine Ursache, also als eine Energieform in einer Phantasie vorzustellen wäre.

Es fällt mir natürlich nicht ein, mit einer solchen sprachkritischen Begriffsuntersuchung die Naturbeschreibung der neuern Physik antasten zu wollen. Ich habe nicht zu rühren an dem Satze von der Erhaltung der Energie, auch nicht an einem seiner Spezialfälle. Nur Begriffe oder Worte möchte ich strenger untersuchen, als es die Naturforscher getan haben, die die Erscheinungen nicht nur beschreiben, sondern auch erklären wollten. Und die Geschichte der Physik läßt mich hoffen, daß künftige Beobachtungen und künftige Einsichten den sprachlichen Ausdruck finden werden für das, was ich noch nicht fassen kann. Nicht in Worte fassen kann. Der große Newton hielt die Lichtstrahlen für Körperchen, und sein Ansehen hat die Korpuskular-Theorie bis auf Eulers Zeit gehalten. Die Wärme galt bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts den Meisten für einen Stoff. Licht und Wärme, dazu Magnetismus und Elektrizität waren der Physik Stoffe, unwägbare Stoffe. Für Licht und Wärme hatten wir von jeher Sinnesorgane; Magnetismus und Elektrizität konnten der Wahrnehmung nur indirekt und nur sehr allmählich zugänglich gemacht werden. Licht und Wärme waren unwägbare Stoffe, aber doch immerhin Stoffe. So lange konnten sie keine Beziehung zu Raum und Zeit haben, welche nicht wirklich waren, nur unsere Anschauungsformen der Wirklichkeit. Jetzt könnte die Sache anders werden. Kant konnte Licht und Wärme, Magnetismus und Elektrizität mit gleichem Rechte die menschlichen Wahrnehmungsformen der Wirklichkeit nennen. Oder gleich: Anschauungsformen. Mit mehr Recht. Denn eher kann ich mir vorstellen, daß das Ding an sich selbst mit Raum und Zeit behaftet sei, als daß es die Bewegung in sich habe, ohne die keine der Energien denkbar ist, die einst unwägbare Stoffe hießen. Und so gut wie man Wärme eine Anschauungsform, nennen könnte, ebenso gut könnte man die Zeit eine Energieform nennen. Nennen. Niemand wird die Resignation tiefer fühlen als ich. Über Namen und Bilder kommen wir nicht hinaus. Ein Bild nur: der Strom der Zeit im Bette des Raums.

VIII.

Ich möchte das Gesetz »Erhaltung der Energie« (es ist ein Begriff und kein Gesetz) am liebsten mit dem Gesetze vergleichen: »Die Summe der Winkel in einem Dreiecke ist gleich zwei Rechten«. Was immer ich mit dem Dreiecke anfange, ob ich es zu einer Geraden strecke (a = 2 R, b = c = 0º, ob es stumpf-, recht-, oder spitzwinklig wird, immer muß irgendwo etwas weggenommen werden, wenn es anderswo zugegeben werden soll. Die Summe bleibt immer die gleiche. Ob der wirkliche Raum ein ebenes Krümmungsmaß habe oder nicht, ob also in Wirklichkeit die Summe unendlich wenig von 2 R abweiche oder nicht, das wissen wir nicht; so wenig wir wissen, ob die Energie jenseits unseres Raumes, im Universum, den Lokalgesetzen unserer Welt gehorche.

Man hat die Energie als Fähigkeit definiert, Arbeit zu leisten. Fähigkeit? Wenn also die Energie das einzig Wirkliche wäre, so wäre das einzig Wirkliche eine Fähigkeit? Das einzig Wirkliche nur eine Möglichkeit? Vielleicht nur ein Wortstreit. Über die Erhaltung dieser Energie gibt es nicht einmal Wortstreit: nie (in unserer Welt) verschwindet Energie spurlos, nie entsteht sie von selbst. Auch die biologischen und psychischen Erscheinungen würden sich diesem Energiebegriff einordnen, wenn wir für Physik, Leben und Seele gemeinsame Maße oder Werte hätten.

Wie aber steht es um den Begriff, ohne den das Entropiegesetz nicht verstanden und nicht gedacht werden kann? Um die Richtung der Energie. Wir sprechen von zwei Richtungen der Energie, einer natürlichen und einer unnatürlichen, wie wir von den drei Dimensionen oder Abmessungen des Raumes reden. Die drei Dimensionen sind nichts, wenn sie nicht menschliche Richtungen oder Orientierungen sind. (Orient selbst eine Dimension oder Richtung.) Ist Richtung der Energie auch nur so eine menschliche Orientierung? Und wenn: was ist dann die Entropie, wenn sie menschliches Maß ist?

Denn Entropie ist eine Richtung der Energie. Oder: man spricht von Entropie nur bei der einen Richtung. Arbeit, Bewegung verwandelt sich von selbst in Wärme; nur in Wärme, wenn man der Bewegung nicht künstlich ein anderes Ziel setzt. Aber Wärme verwandelt sich in makroskopische Bewegung überhaupt nicht, außer wenn wir sie künstlich dazu zwingen. Die Richtung der einen Verwandlung (von Bewegung in Wärme) ist natürlich, die Richtung der andern Verwandlung (von Wärme in Bewegung) ist künstlich. Da aber diese künstliche Richtung nie und unter keinen Umständen stattfinden kann ohne eine begleitende natürliche Verwandlung, so ergibt sich, daß die natürliche Richtung die herrschende, die sieghafte ist.

In der Fassung von Thomson-Kelvin (die pietätslose Art der Engländer, den Namen gerade dann zu ändern, wenn der Name bleiben sollte, zwingt zu der Doppelung): Alle anderen Energien haben die Richtung, sich in Wärme zu verwandeln, und die Wärme zerteilt sich durch Strahlung in den Weltraum. Alle Unterschiede der Intensität verringern sich. Chwolson zieht daraus den Schluß, daß die Welt ein Organismus sei, daß es eine Evolution in der Erscheinungswelt gebe.

Ich erlaube mir einen bescheidenen Zweifel. Es ist nur eine Metapher, ein Vergleich, wenn man das Weltganze (Äther, Luft und Sterne) darum einen Organismus nennen will, weil auch die Welt in einer Art von Stoff- oder Energiewechsel lebt, und bei Aufhören der Wechselmöglichkeit doch der Erstarrung, dem Tode anheim fällt. Daß das Ende (wegen der unendlichen Langsamkeit der Entropie bei abnehmenden und verschwindenden Intensitätsunterschieden) unendlich lange auf sich warten ließe, das wäre keine Gegeninstanz; auch der Organismus kann langsam sterben, und die Welt wäre bei geringen Intensitätsunterschieden so tot – wie heute (so sagt man) die ungeheure Wärmemasse der Luft oder des Meeres arbeitsunfähig ist wegen der Unmöglichkeit, diese Unsumme von Wärme auf einen kälteren Körper abfließen zu lassen.

Gerade dieses Beispiel läßt mich an dem Werte des zweiten Hauptsatzes der Wärmedynamik zweifeln. Oder auch nur an der Möglichkeit, seinen Gedanken ganz genau auszusprechen. Was heißt das: die ungeheure Wärmemenge der Luft oder des Meeres, die nicht ausgenutzt werden kann? Wo ist das Maß für diese Wärme? Wenn die ganze Welt (mitsamt dem Thermometer) gleich warm ist, überall und immer, dann zeigt das Thermometer keine Wärme mehr an. Dann kann kein Thermometer mehr hergestellt werden. Dann liegt (weil die Wirkung der Wärmeenergie ausbleibt, das menschliche Wärmegefühl) gar kein Grund vor, das da – die gleichförmige Kinesis in den Dingen, ihre unsichtbare und nun auch nicht mehr fühlbare Atombewegung, Molekularbewegung, kurz ihre Kleinbewegung noch überhaupt Wärme zu nennen. Ganz abgesehen davon, daß es dann keine nennenden Menschen mehr gäbe.

Dann aber könnte vielleicht ein Unmensch fragen, ob es Sinn und Verstand hatte, die Umänderung der Großbewegung in Kleinbewegung eine natürliche, die Umänderung der Kleinbewegung in Großbewegung eine unnatürliche Richtung zu nennen. Dann hätten »wir« gar nicht mehr verschiedene Arten von Energie zu nennen. Wenn »wir« dann noch wären. Dann wäre der Mensch auch das Maß für Messung und Nennung der Wärme gewesen.

Was wäre Wärme dann noch, wenn sie nicht mehr wirkte, nicht mehr Wirkung wäre? Die ungeheure Wärmemenge der Welt, wenn diese Wärme gleichmäßig wäre und sich vielleicht noch in unendlich langsamer Abkühlung an den Weltenraum zweiter Ordnung verlöre, wäre da, grenzenlos verfließend, in einer Richtung fließend, nie wiederkehrend, wahrhaftig: wie unser ungeheurer Vorrat Zeit in einer Richtung, nie wiederkehrend, grenzenlos verfließt.

Nur die Möglichkeit einer Vergleichung wollte ich wieder zeigen.

Und noch eins: unser menschliches Maß der Zeit, wonach wir diesen Wert abschätzen, ist zuletzt ja eine Bewegung, der Pulsus unseres warmen Blutes, dessen Bewegung, mikroskopisch und makroskopisch, wieder nur Wärme ist. Unser Pulsus wäre anders bei anderer Wärme; unser Maßstab der Zeit wird von der Wärme bestimmt oder vom Leben, wie das so schön in der angeführten Baerschen Phantasie ausgedrückt worden ist. Fassen wir aber das Leben als Maßstab der Zeit, um dann wieder – wobei die Begriffe nicht ganz unverändert bleiben – das sogenannte Gesetz der Entropie auf das Leben und auf die Zeit anzuwenden, so kommen wir zu einem neuen Widerspruche: soll der zweite Hauptsatz der Wärmelehre, daß nämlich die Entropie der Welt einem Maximum zustrebt, allgemeine Gültigkeit haben, so muß er auch auf das Leben oder die Organismen und (nach der Weltanschauung der Energetik) auch auf die psychische Welt oder auf den menschlichen Geist passen. Und dagegen sträubt sich unser Instinkt, unser Ichgefühl; wir empfinden unser Dasein nicht als eine Dissipation, sondern als eine Konzentration von Kräften. Höchstens unser Altern, das Herannahen des Todes, das seltsamerweise auch mit einer Zerstreuung der Lebenswärme verbunden ist, können wir als eine Erscheinung von Entropie empfinden. Vorher stehen unsere Lebenserscheinungen, besonders aber unsere Geistestätigkeiten im Gegensatze zu der Lehre von der Entropie.

Diesen Gegensatz hat Felix Auerbach in einem kühnen Schriftchen ausgesprochen, dessen Tendenz sich schon im Titel verrät: » Ektropismus oder die physikalische Theorie des Lebens.«2 Auerbach setzt sehr fein für die Entropie drei Ausdrücke gleich: Ausgleich, Zerstreuung, Entwertung. »Die Tendenz der Energie kann zwiespältig sein, sie kann – rein logisch genommen – eine Wandlung zu verstärkter äußerer Wirksamkeit sein und ist alsdann ektropisch, oder sie kehrt sich der äußeren Wirksamkeit ab und ist alsdann entropisch« (S. 21). Das Leben sei die Organisation, die sich die Welt geschaffen hat zum Kampfe gegen die Entwertung der Energie (S. 38); Entwicklung sei organisierte Fähigkeit, ektropisch zu werden (S. 40); im Menschengeschlechte sei die ektropische Fähigkeit auf den bisher höchsten Punkt gestiegen (S. 48); es sei die Signatur alles Individuellen, alles spezifisch Ektropischen, daß es Unwahrscheinliches leiste, daß es die Statistik über den Haufen renne (S. 68).

Die Zeit hat also noch eine weitere und recht betrübende Ähnlichkeit mit der Entropie: wir wissen von einem der ältesten und populärsten Begriffe ebenso wenig, wie von einem der neuesten und schwierigsten Begriffe, ob ihm in der Wirklichkeitswelt etwas entspreche.

IX.

Für die Analyse der Beziehungen zwischen Zeit und Gedächtnis habe ich nur so spärliche Richtlinien zu geben, daß die Widersprüche nicht deutlich vor die Vorstellung treten werden; oder vielmehr: ich will gleich die Widersprüche in der Form eines Dilemmas darstellen.

Einige Zusammenhänge zwischen dem rätselhaften Gedächtnis und der ganz anders rätselhaften Zeit drängen sich der vorurteilslosen Selbstbeobachtung sofort auf. Das Gedächtnis steckt hinter der Illusion unseres Ichgefühls; das Ichgefühl aber stellt erst durch das Gedächtnis das Kontinuum Zeit her, den Strom der Zeit aus der Zukunft herunter, in die Vergangenheit hinab, durch die Gegenwart hindurch. Durch die scheinbare Gegenwart. Wie denn auch Aristoteles kindlich und naiv Zukunft und Vergangenheit als die Zeiten um die Gegenwart herum definierte. Die Gegenwart läßt sich in Wahrheit nicht definieren, weil sie niemals existiert, weil wir sie erst dann empfinden, wenn wir zu ihr ein Stückchen Zukunft und ein Stückchen Vergangenheit mit hinzu rechnen, als fringe, Franse, Hof. Und die Zeit gar läßt sich niemals ohne den Grundfehler der Tautologie definieren, weil jedesmal der Begriff des Nacheinander zu Hilfe genommen werden muß, in welchem der Begriff der Zeit schon verborgen ist. Auch das Gedächtnis hat sich uns als undefinierbar erwiesen. Wir haben also eine Vergleichung zweier undefinierbarer Begriffe zu wagen. Da es uns aber nur auf die Frage ankommt, ob die Zeit wirklich sei oder nicht, so können wir uns auf die Beachtung der Konsequenzen der beiden Möglichkeiten beschränken. Das ist das Dilemma.

Ist die Zeit wirklich, so hat auch das Gedächtnis Realität. Was die Zeit sei, wenn sie real ist, das ist eine ganz andere Frage. Ich erinnere nur daran, daß wir den Begriff der Ursache durch den der Bedingung zu ersetzen versucht haben und daß wir in der Richtung einen brauchbaren Oberbegriff für die unbrauchbar gewordenen Begriffe Ursache und Zweck zu finden geglaubt haben. Richtung kann uns aber auch ein Oberbegriff werden für die Kraft (der Ursache sehr nahe) und die Zeit. Ich vermeide es, an dieser Stelle wieder an den Zusammenhang zwischen Zweck und Zeit zu erinnern.

Nun ist, wie wir gelernt haben, eine Kraft immer eine gerichtete Kraft; die Zeit aber ist sogar dadurch charakterisiert, daß sie »unbedingt« nicht umkehrbar ist, immer nur eindeutig nach einer einzigen Richtung strömt. Sofort stellt sich aber unter diesem Gesichtspunkte ein scheinbar unüberbrückbarer Unterschied heraus zwischen der Zeit (die etwas wie eine Energie sein muß, wenn sie wirklich ist) und den übrigen Energien. Die übrigen Energien, auch die hypothetischen des Lebens und des Geistes, können als potentielle und als kinetische Energien erscheinen; auf den Wechsel in den Bezeichnungen dieser beiden ganz klaren Begriffe kommt es nicht an. Man denke an eine gestaute und an eine fließende Wassermasse. Dem fließenden Wasser läßt sich die Zeit ja gut vergleichen; ob sie sich in Arbeit umsetzen läßt oder nicht, ob sich ihre Richtung nutzbringend ändern läßt oder nicht, sie strömt dahin in ihrem Bette, das der Raum ist, wie ein Fluß der Urzeit, der noch kein Mühlrad und noch keine Turbine drehte. Nur aufstauen ließ sich die Zeit nicht; ihre Energie (wenn sie eine Energie ist) ließ sich nicht in potentielle Energie verwandeln. Wirklich nicht? Ließe sich nicht das Gedächtnis auffassen als der einzige Fall einer gebundenen, einer potentiellen Zeitenergie? Ich kann mir – in der Phantasie – das Gedächtnis als aufgestaute Zeit vorstellen, zunächst das unbewußte Gedächtnis der organischen Vererbung, zuletzt das Gedächtnis des Menschenhirns. Wohlgemerkt, mit dem Vorbehalte, von der Substanz der Zeit und des Gedächtnisses nichts zu wissen. Aber was wissen wir denn am Ende aller Enden von der Substanz des stürzenden Stromes? Nicht mehr, als das Tier von ihr weiß, welches diese Substanz als Wasser säuft. Wir sagen H²O und wissen nicht mehr. So wissen wir auch nicht, was sich als gestaute Zeit im Gedächtnisse sammelt. Dann hätten wir uns, unmerklich allerdings, dem Rätsel des Gedächtnisses genähert und könnten es begreifen, wie die Gedächtniskraft die Vergangenheit zur Gegenwart machen kann. Ich brauche für meinen guten Leser wohl nicht erst zu unterstreichen. Habe ich das Gedächtnis die potentielle Zeitenergie genannt (wie ich oben im Raume eine mögliche Ursache sah), so treibe ich immer nur Begriffskritik, und habe nicht den Glauben, im Laboratorium das Gedächtnis als potentielle Zeitenergie handgreiflich nachweisen zu können. Man hat den Begriff der Energie auf die rätselhaften Kräfte des Lebens und des Geistes ausgedehnt; es wäre eines Versuches wert, den Energiebegriff auch auf die Zeit auszudehnen.

Die andere Möglichkeit ist noch rascher mit Worten zu erledigen. Ist nämlich die Zeit nicht wirklich, dann kann auch das Gedächtnis, dessen alleiniger Inhalt die Zeit ist, nicht wirklich sein. Dann ist das Gedächtnis wie sein Ichgefühl eine Illusion. Dann träumen wir und mögen noch im Traume lächeln über die Traumarbeit, die Traumgesichte zu verstehen.


  1. Die heutige Bedeutung ist viel jünger, als man dem Worte anzuhören glaubt. Wir legen die heutige Bedeutung auch in solche Redensarten hinein, die schon gebraucht wurden, als Stunde noch nicht den vierundzwanzigsten Teil eines Tages bezeichnete. » Zu guter Stunde, seine letzte Stunde, sie erwartet ihre Stunde «, weisen auf eine Zeit zurück, wo Stunde noch allgemein einen Zeitpunkt ausdrückte, mit der lokalen Färbung, die Zeitbezeichnungen von jeher gehabt haben. Erst im späten Mittelalter wird Stunde zur üblichen Bezeichnung für den bestimmten Teil des Tages. Früher sagte man für diesen Zeitraum Uhr, wie heute noch: »Es ist zehn Uhr «, »Wieviel Uhr ist es?« In diesen alten Formen verrät es sich sofort durch den Wegfall der Deklination, daß Uhr eine Maßeinheit ist. (Zehn Fuß lang. Wieviel Fuß ?) Seitdem Uhr allgemein zum Worte für den Zeitmesser geworden ist, erscheinen diese Gebrauchsarten unorganisch und haben sich nur durch ihre Täglichkeit erhalten. Doch drängen sich schon pedantische Formen ein, wie »Was ist es an der Uhr
    Natürlich ist Uhr ein Lehnwort, direkt oder indirekt das lateinische hora. Es war eine arge Verirrung, Uhr aus dem schwedischen yre (sich drehen, irre gehen) herzuleiten; das Wort Uhr ist älter als die Sache Zifferblatt. Das lateinische hora ist ganz unverändert ein Lehnwort. Doch weder ὡρα noch hora bezeichnete ursprünglich, was jetzt Stunde heißt; ὡρα bezeichnete (die reizenden Beziehungen zur Mythologie spotten jeder Aufklärung) die Jahreszeiten, eigentlich die günstige Jahreszeit, dann überhaupt die passende Zeit, wie καιρος; insbesondere die Zeit der Reife. Als technischer Ausdruck wurde es erst im zweiten Jahrhundert von Hipparchos, oder nicht viel früher, auf die astronomisch berechnete Zeit angewandt. Trotzdem oder weil auch im Griechischen die alte Bedeutung neben der neuen bestehen blieb, schwankte der Gebrauch im Lateinischen; hora bedeutet Zeit, Jahreszeit, Stunde im alten und im neuen Sinn. Schon findet sich bei Horaz die Frage: hora quota est?
    Übrigens wurde die griechische ὡρα in Rom erst eingeführt, mit der Sache, als 263 v. Chr. auf dem römischen Markte die erste Sonnenuhr aufgestellt wurde; freilich passierte es da den Römern, daß sie eine für Catana (4 Grade südlicher) berechnete Sonnenuhr aufstellten und sich 100 Jahre nach ihr richteten.
    Als aus dem lateinischen hora das französische heure wurde, war mit hora wieder eine Veränderung vor sich gegangen. Im Dienste der Kirche. Horae waren zunächst die festgesetzten Zeiten für die abzuleistenden Gebete. Der Bauer und der Bürger brauchte damals die Stunde nicht genau einzuhalten; der Mönch nur brauchte einen Stundenmesser, ein horologium. Das bedeutete zugleich das Buch, in welchem die Zeiten für die einzelnen Horen eingetragen waren (in der slavischen Kirche Czasoslov), und das Instrument, mit dessen Hilfe die Mönche zu den Horen geweckt wurden. (Horologium bei du Cange). Aus horologium wurde in Frankreich horloge. Im Deutschen wandelte sich hora zu Uhr, zuerst, wie gesagt, im Sinne des Zeitteils, nachher im Sinne des Zeitmessers. Ich kann es nicht belegen, aber es ist leicht vorzustellen, daß die beiden Bedeutungen gemeinsam an der üblichen Sanduhr haften konnten, die ein Zeitmesser war und doch nur genau eine Stunde lang ging.
    Als aber Uhr nicht nur den Zeitmesser bedeutete, sondern die Uhren auch in allgemeineren Gebrauch kamen, als gar eine Uhr länger ging wie eine Stunde, da brauchte die Sprache ein neues Wort für den vierundzwanzigsten Teil eines ganzen Tages. Das Lehnwort war für den Zeitmesser verbraucht, eine Lehnübersetzung mußte herhalten. Ich wenigstens nehme an, daß Stunde (von stehen) eine schöne und kühne Bildung ist, um das astronomische und astrologische Wort Position wiederzugeben. Zeit und günstige Zeit spielen schon beim griechischen ὡρα durcheinander. Im Französischen sind die Worte heure und heur (augurium) leicht miteinander zu verwechseln. Ich empfehle meine Vermutung der Aufmerksamkeit von Kennern der deutschen und der niederländischen Astrologie.
    Schon Lessing notierte sich (Nachlaß, Beiträge zu einem deutschen Glossarium) aus dem Heldenbuch eine Stelle, wo Stund im Sinne von mal steht. »Wär er drei stund minder, er wär' mir noch groß genug«. Da mal nun einstmals einen Ort, dann ein Ortszeichen, erst später ein Zeitzeichen und dann wieder ein Wort für Zählung von Zeitzeichen und für Zählung überhaupt wurde, so muß ich glauben, daß das von Lessing bemerkte stund ziemlich genau die Entwicklung von mal durchgemacht hat, bevor es zum Zeichen der Zeiteinheit wurde. Der Parallelismus mit hora wäre da, wenn wir deutlich in einen alten Lokalsinn von ὡρα (ὁρος, ὁριζω) hineinblicken könnten. Adelung gibt übrigens Beispiele für stund = mal im Einmaleins. Im Plattdeutschen hat sich der alte Sinn vielleicht bis zur Stunde erhalten in upstunds = jetzt.
  2. Das Wort Ektropie ist schon vorher von Georg Hirth geprägt worden in seinem, trotz mancher Geschmacklosigkeiten der Darstellung, vielfach anregenden Buche »Entropie der Keimsysteme« (S. 66); übrigens besaßen schon die Griechen, und ein bißchen auch ihre römischen Nachahmer, die Wörter τροπη, ἐκτροπη und ἐντροπη (lat. tropa und ectropa) in ziemlich konkreten Bedeutungen; und schon die griechische Medizin hatte für das krankhafte Umwenden des Augenlides (bei gewissen Entzündungen) den technischen Ausdruck Ektropium.