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Anmaßung

373.

Anmaßung. — Vor Nichts soll man sich so hüten, als vor dem Aufwachsen jenes Unkrautes, welches Anmaßung heißt und uns jede gute Ernte verdirbt; denn es gibt Anmaßung in der Herzlichkeit, in der Ehrenbezeigung, in der wohlwollenden Vertraulichkeit, in der Liebkosung, im freundschaftlichen Rate, im Eingestehen von Fehlern, in dem Mitleid für Andere, und alle diese schönen Dinge erwecken Widerwillen, wenn jenes Kraut dazwischen wächst. Der Anmaßende, das heißt Der, welcher mehr bedeuten will als er ist oder gilt, macht immer eine falsche Berechnung. Zwar hat er den augenblicklichen Erfolg für sich, insofern die Menschen, vor denen er anmaßend ist, ihm gewöhnlich das Maß von Ehre zollen, welches er fordert, aus Angst oder Bequemlichkeit; aber sie nehmen eine schlimme Rache dafür, insofern sie ebensoviel, als er über das Maß forderte, von dem Werte subtrahiren, den sie ihm bis jetzt beilegten. Es ist Nichts, was die Menschen sich theurer bezahlen lassen, als Demütigung. Der Anmaßende kann sein wirkliches großes Verdienst so in den Augen der Andern verdächtigen und klein machen, dass man mit staubigen Füßen darauf tritt. Selbst ein stolzes Benehmen sollte man sich nur dort erlauben, wo man ganz sicher sein kann, nicht missverstanden und als anmaßend betrachtet zu werden, zum Beispiel vor Freunden und Gattinnen. Denn es gibt im Verkehre mit Menschen keine größere Torheit, als sich den Ruf der Anmaßung zuzuziehen; es ist noch schlimmer, als wenn man nicht gelernt hat, höflich zu lügen.