Die Fabel von der intelligibelen Freiheit
39.
Die Fabel von der intelligibelen Freiheit. — Die Geschichte der Empfindungen, vermöge deren wir Jemanden verantwortlich machen, also der sogenannten moralischen Empfindungen verläuft, in folgenden Hauptphasen. Zuerst nennt man einzelne Handlungen gut oder böse ohne alle Rücksicht auf deren Motive, sondern allein der nützlichen oder schädlichen Folgen wegen. Bald aber vergisst man die Herkunft dieser Bezeichnungen und wähnt, dass den Handlungen an sich, ohne Rücksicht auf deren Folgen, die Eigenschaft „gut“ oder „böse“ innewohne: mit demselben Irrtume, nach welchem die Sprache den Stein selber als hart, den Baum selber als grün bezeichnet — also dadurch, dass man, was Wirkung ist, als Ursache fasst. Sodann legt man das Gut- oder Böse-sein in die Motive hinein und betrachtet die Taten an sich als moralisch zweideutig. Man geht weiter und gibt das Prädikat gut oder böse nicht mehr dem einzelnen Motive, sondern dem ganzen Wesen eines Menschen, aus dem das Motiv, wie die Pflanze aus dem Erdreich, herauswächst. So macht man der Reihe nach den Menschen für seine Wirkungen, dann für seine Handlungen, dann für seine Motive und endlich für sein Wesen verantwortlich. Nun entdeckt man schließlich, dass auch dieses Wesen nicht verantwortlich sein kann, insofern es ganz und gar notwendige Folge ist und aus den Elementen und Einflüssen vergangener und gegenwärtiger Dinge konkresziert: also dass der Mensch für Nichts verantwortlich zu machen ist, weder für sein Wesen, noch seine Motive, noch seine Handlungen, noch seine Wirkungen. Damit ist man zur Erkenntnis gelangt, dass die Geschichte der moralischen Empfindungen die Geschichte eines Irrtums, des Irrtums von der Verantwortlichkeit ist: als welcher auf dem Irrtum von der Freiheit des Willens ruht. — Schopenhauer schloss dagegen so: weil gewisse Handlungen Unmut („Schuldbewusstsein“) nach sich ziehen, so muss es eine Verantwortlichkeit geben; denn zu diesem Unmut wäre kein Grund vorhanden, wenn nicht nur alles Handeln des Menschen mit Notwendigkeit verliefe — wie es tatsächlich, und auch nach der Einsicht dieses Philosophen, verläuft —, sondern der Mensch selber mit der selben Notwendigkeit sein ganzes Wesen erlangte, — was Schopenhauer leugnet. Aus der Tatsache jenes Unmutes glaubt Schopenhauer eine Freiheit beweisen zu können, welche der Mensch irgendwie gehabt haben müsse, zwar nicht in Bezug auf die Handlungen, aber in Bezug auf das Wesen: Freiheit also, so oder so zu sein, nicht so oder so zu handeln. Aus dem esse, der Sphäre der Freiheit und Verantwortlichkeit, folgt nach seiner Meinung das operari, die Sphäre der strengen Kausalität, Notwendigkeit und Unverantwortlichkeit. Jener Unmut beziehe sich zwar scheinbar auf das operari — insofern sei er irrtümlich —, in Wahrheit aber auf das esse, welches die Tat eines freien Willens, die Grundursache der Existenz eines Individuums, sei; der Mensch werde Das, was er werden wolle, sein Wollen sei früher, als seine Existenz. — Hier wird der Fehlschluss gemacht, dass aus der Tatsache des Unmutes die Berechtigung, die vernünftige Zulässigkeit dieses Unmutes geschlossen wird; und von jenem Fehlschluss aus kommt Schopenhauer zu seiner phantastischen Konsequenz der sogenannten intelligibelen Freiheit. Aber der Unmut nach der Tat braucht gar nicht vernünftig zu sein: ja er ist es gewiss nicht, denn er ruht auf der irrtümlichen Voraussetzung, dass die Tat eben nicht notwendig hätte erfolgen müssen. Also: weil sich der Mensch für frei hält, nicht aber weil er frei ist, empfindet er Reue und Gewissensbisse. — Überdies ist dieser Unmut Etwas, das man sich abgewöhnen kann, bei vielen Menschen ist er in Bezug auf Handlungen gar nicht vorhanden, bei welchen viele andere Menschen ihn empfinden. Er ist eine sehr wandelbare, an die Entwicklung der Sitte und Kultur geknüpfte Sache und vielleicht nur in einer verhältnismäßig kurzen Zeit der Weltgeschichte vorhanden. — Niemand ist für seine Taten verantwortlich, Niemand für sein Wesen; richten ist soviel als ungerecht sein. Dies gilt auch, wenn das Individuum über sich selbst richtet. Der Satz ist so hell wie Sonnenlicht, und doch geht hier Jedermann lieber in den Schatten und die Unwahrheit zurück: aus Furcht vor den Folgen.