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Von der verkleinernden Tugend


1

Als Zarathustra wieder auf dem festen Lande war, ging er nicht stracks auf sein Gebirge und seine Höhle los, sondern tat viele Wege und Fragen und erkundete dies und das, also, daß er von sich selber im Scherze sagte: „siehe einen Floß, der in vielen Windungen zurück zur Quelle fließt!“ Denn er wollte in Erfahrung bringen, was sich inzwischen mit dem Menschen zugetragen habe: ob er größer oder kleiner geworden sei. Und einmal sah er eine Reihe neuer Häuser; da wunderte er sich und sagte:

„Was bedeuten diese Häuser? Wahrlich, keine große Seele stellte sie hin, sich zum Gleichnisse!

Nahm wohl ein blödes Kind sie aus seiner Spielschachtel? Daß doch ein anderes Kind sie wieder in seine Schachtel täte.

Und diese Stuben und Kammern: können Männer da aus- und eingehen? Gemacht dünken sie mich für Seiden-Puppen; oder für Naschkatzen, die auch wohl an sich naschen lassen.“


Und Zarathustra blieb stehn und dachte nach. Endlich sagte er betrübt: „Es ist Alles kleiner geworden!

Überall sehe ich niedrigere Tore: wer meiner Art ist, geht da wohl noch hindurch, aber — er muß sich bücken!

O wann komme ich wieder in meine Heimat, wo ich mich nicht mehr bücken muß — nicht mehr bücken muß vor den Kleinen!“ — Und Zarathustra seufzte und blickte in die Ferne. —

Desselbigen Tages aber redete er seine Rede über die verkleinernde Tugend.


2

Ich gehe durch dies Volk und halte meine Augen offen: sie vergeben mir es nicht, daß ich auf ihre Tugenden nicht neidisch bin.

Sie beißen nach mir, weil ich zu ihnen sage: für kleine Leute sind kleine Tugenden nötig — und weil es mir hart eingeht, daß kleine Leute nötig sind!

Noch gleiche ich dem Hahn hier auf fremdem Gehöfte, nach dem auch die Hennen beißen; doch darob bin ich diesen Hennen nicht ungut.

Ich bin höflich gegen sie, wie gegen alles kleine Ärgernis; gegen das Kleine stachlicht zu sein, dünkt mich eine Weisheit für Igel.

Sie reden alle von mir, wenn sie abends ums Feuer sitzen — sie reden von mir, aber niemand denkt — an mich!

Dies ist die neue Stille, die ich lernte: ihr Lärm um mich breitet einen Mantel über meine Gedanken.

Sie lärmen untereinander: „was will uns diese düstere Wolke? sehen wir zu, daß sie uns nicht eine Seuche bringe!“

Und jüngst riß ein Weib sein Kind an sich, das zu mir wollte: „Nehmt die Kinder weg!“ schrie es; „solche Augen versengen Kinder-Seelen.“

Sie husten, wenn ich rede: sie meinen, Husten sei ein Einwand gegen starke Winde — sie erraten nichts vom Brausen meines Glückes!

„Wir haben noch keine Zeit für Zarathustra“ — so wenden sie ein; aber was liegt an einer Zeit, die für Zarathustra „keine Zeit hat“?

Und wenn sie gar mich rühmen: wie könnte ich wohl auf ihrem Ruhme einschlafen? Ein Stachel-Gürtel ist mir ihr Lob: es kratzt mich noch, wenn ich es von mir tue.

Und auch das lernte ich unter ihnen: der Lobende stellt sich, als gebe er zurück, in Wahrheit aber will er mehr beschenkt sein!

Fragt meinen Fuß, ob ihm ihre Lob- und Lock-Weise gefällt! Wahrlich, nach solchem Takt und Ticktack mag er weder tanzen, noch stille stehn.

Zur kleinen Tugend möchten sie mich locken und loben; zum Ticktack des kleinen Glücks möchten sie meinen Fuß überreden.

Ich gehe durch dies Volk und halte die Augen offen: sie sind kleiner geworden und werden immer kleiner — das aber macht ihre Lehre von Glück und Tugend.

Sie sind nämlich auch in der Tugend bescheiden — denn sie wollen Behagen. Mit Behagen aber verträgt sich nur die bescheidene Tugend.

Wohl lernen auch sie auf ihre Art Schreiten und Vorwärts-Schreiten: das heiße ich ihr Humpeln —. Damit werden sie jedem zum Anstoß, der Eile hat.

Und mancher von ihnen geht vorwärts und blickt dabei zurück, mit versteiftem Nacken: Dem renne ich gern wider den Leib.

Fuß und Augen sollen nicht lügen, noch sich einander Lügen strafen. Aber es ist viel Lügnerei bei den kleinen Leuten.

Einige von ihnen wollen, aber die meisten werden nur gewollt.

Einige von ihnen sind echt, aber die meisten sind schlechte Schauspieler.

Es gibt Schauspieler wider Wissen unter ihnen und Schauspieler wider Willen —, die Echten sind immer selten, sonderlich die echten Schauspieler.

Des Mannes ist hier wenig: darum vermännlichen sich ihre Weiber. Denn nur wer Mannes genug ist, wird im Weibe das Weib — erlösen.

Und diese Heuchelei fand ich unter ihnen am schlimmsten: daß auch die, welche befehlen, die Tugenden derer heucheln, welche dienen.

„Ich diene, du dienst, wir dienen“ — so betet hier auch die Heuchelei der Herrschenden — und wehe, wenn der erste Herr nur der erste Diener ist!

Ach, auch in ihre Heucheleien verflog sich wohl meines Auges Neugier; und gut erriet ich all ihr Fliegen-Glück und ihr Summen um besonnte Fensterscheiben.

Soviel Güte, soviel Schwäche sehe ich. Soviel Gerechtigkeit und Mitleiden, soviel Schwäche.

Rund, rechtlich und gütig sind sie miteinander, wie Sandkörnchen rund, rechtlich und gütig mit Sandkörnchen sind.

Bescheiden ein kleines Glück umarmen — das heißen sie „Ergebung“! und dabei schielen sie bescheiden schon nach einem neuen kleinen Glücke aus.

Sie wollen im Grunde einfältiglich eins am meisten: daß ihnen niemand wehe tue. So kommen sie jedermann zuvor und tun ihm wohl.

Dies aber ist Feigheit: ob es schon „Tugend“ heißt. —

Und wenn sie einmal rauh reden, diese kleinen Leute: ich höre darin nur ihre Heiserkeit — jeder Windzug nämlich macht sie heiser.

Klug sind sie, ihre Tugenden haben kluge Finger. Aber ihnen fehlen die Fäuste, ihre Finger wissen nicht, sich hinter Fäuste zu verkriechen.

Tugend ist ihnen das, was bescheiden und zahm macht: damit machten sie den Wolf zum Hunde und den Menschen selber zu des Menschen bestem Haustiere.

„Wir setzten unsern Stuhl in die Mitte“ — das sagt mir ihr Schmunzeln — „und ebenso weit weg von sterbenden Fechtern wie von vergnügten Säuen.“

Dies aber ist — Mittelmäßigkeit: ob es schon Mäßigkeit heißt. —


3

Ich gehe durch dies Volk und lasse manches Wort fallen: aber sie wissen weder zu nehmen noch zu behalten.

Sie wundern sich, daß ich nicht kam, auf Lüste und Laster zu lästern; und wahrlich, ich kam auch nicht, daß ich vor Taschendieben warnte!

Sie wundern sich, daß ich nicht bereit bin, ihre Klugheit noch zu witzigen und zu spitzigen: als ob sie noch nicht genug der Klüglinge hätten, deren Stimme mir gleich Schieferstiften kritzelt!

Und wenn ich rufe: „Flucht allen feigen Teufeln in euch, die gerne winseln und Hände falten und anbeten möchten“: so rufen sie: „Zarathustra ist gottlos.“

Und sonderlich rufen es ihre Lehrer der Ergebung —; aber gerade ihnen liebe ich’s, in das Ohr zu schrein: Ja! Ich bin Zarathustra, der Gottlose!

Diese Lehrer der Ergebung! Überallhin, wo es klein und krank und grindig ist, kriechen sie, gleich Läusen; und nur mein Ekel hindert mich, sie zu knacken.

Wohlan! Dies ist meine Predigt für ihre Ohren: ich bin Zarathustra, der Gottlose, der da spricht „wer ist gottloser denn ich, daß ich mich seiner Unterweisung freue?“

Ich bin Zarathustra, der Gottlose: wo finde ich meinesgleichen? Und alle die sind meinesgleichen, die sich selber ihren Willen geben und alle Ergebung von sich abtun.

Ich bin Zarathustra, der Gottlose: ich koche mir noch jeden Zufall in meinem Topfe. Und erst, wenn er da gargekocht ist, heiße ich ihn willkommen, als meine Speise.

Und wahrlich, mancher Zufall kam herrisch zu mir: aber herrischer noch sprach zu ihm mein Wille, — da lag er schon bittend auf den Knien —

— bittend, daß er Herberge finde und Herz bei mir, und schmeichlerisch zuredend: „sieh doch, o Zarathustra, wie nur Freund zum Freunde kommt!“ —

Doch was rede ich, wo niemand meine Ohren hat! Und so will ich es hinaus in alle Winde rufen:

Ihr werdet immer kleiner, ihr kleinen Leute! Ihr bröckelt ab, ihr Behaglichen! Ihr geht mir noch zugrunde —

— an euren vielen kleinen Tugenden, an eurem vielen kleinen Unterlassen, an eurer vielen kleinen Ergebung!

Zu viel schonend, zu viel nachgebend: so ist euer Erdreich! Aber daß ein Baum groß werde, dazu will er um harte Felsen harte Wurzeln schlagen!

Auch was ihr unterlaßt, webt am Gewebe aller Menschen-Zukunft; auch euer Nichts ist ein Spinnennetz und eine Spinne, die von der Zukunft Blute lebt.

Und wenn ihr nehmt, so ist es wie stehlen, ihr kleinen Tugendhaften; aber noch unter Schelmen spricht die Ehre: „man soll nur stehlen, wo man nicht rauben kann.“

„Es gibt sich“ — das ist auch eine Lehre der Ergebung. Aber ich sage euch, ihr Behaglichen: es nimmt sich und wird immer mehr noch von euch nehmen!

Ach, daß ihr alles halbe Wollen von euch abtätet und entschlossen würdet zur Trägheit wie zur Tat!

Ach, daß ihr mein Wort verstündet: „Tut immerhin, was ihr wollt — aber seid erst solche, die wollen können!“

„Liebt immerhin euren Nächsten gleich euch, — aber seid mir erst solche, die sich selber lieben —

— mit der großen Liebe lieben, mit der großen Verachtung lieben!“ Also spricht Zarathustra, der Gottlose. —

Doch was rede ich, wo niemand meine Ohren hat! Es ist hier noch eine Stunde zu früh für mich.

Mein eigner Vorläufer bin ich unter diesem Volke, mein eigner Hahnen-Ruf durch dunkle Gassen.

Aber ihre Stunde kommt! Und es kommt auch die meine! Stündlich werden sie kleiner, ärmer, unfruchtbarer — armes Kraut! armes Erdreich!

Und bald sollen sie mir dastehn wie dürres Gras und Steppe, und wahrlich! ihrer selber müde — und mehr, als nach Wasser, nach Feuer lechzend!

O gesegnete Stunde des Blitzes! O Geheimnis vor Mittag! — Laufende Feuer will ich einst noch aus ihnen machen und Verkünder mit Flammen-Zungen: —

— verkünden sollen sie einst noch mit Flammen-Zungen: Er kommt, er ist nahe, der große Mittag!


Also sprach Zarathustra.