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Die Argonauten, verfolgt, entkommen mit Medea

Inzwischen hatten Aietes und alle Kolcher Medeas Liebe, Taten und Flucht erfahren. Sie traten bewaffnet auf dem Markte zusammen, und bald sah man sie mit lautem Schalle das Ufer des Flusses hinabziehen: Aietes fuhr auf einem festgezimmerten Wagen, mit den Pferden, die ihm der Sonnengott verliehen; in der Linken trug er einen runden Schild, in der Rechten eine lange Pechfackel; an seiner Seite lehnte die gewaltige Lanze. Die Zügel der Rosse handhabte sein Sohn Absyrtos. Als sie aber an der Mündung des Flusses angekommen waren, da fuhr das Schiff, von den unermüdlichen Ruderern getrieben, schon weit auf der hohen See. Fackel und Schild entsank dem König; er hub die Hände gen Himmel, rief Zeus und den Sonnengott zu Zeugen der Übeltaten und erklärte grimmig seinen Untertanen: wenn sie ihm die Tochter nicht, zu Wasser oder zu Land ergriffen, herbeiführen würden, so daß er, seines Herzens Gelüste folgend, Rache üben könnte, so sollten sie es alle mit ihren Häuptern büßen. Die erschrockenen Kolcher zogen noch an demselben Tage ihre Schiffe in die See, spannten die Segel aus und fuhren hinaus ins Meer; ihre Flotte, welche des Königes Sohn Absyrtos befehligte, glich einer unabsehbaren Vogelschar, welche die Luft verdunkelnd über die See dahinschwirrt.

In die Segel der Argonauten blies der günstigste Wind; schon mit der dritten Morgenröte banden sie das Schiff beim Flusse Halys am Ufer der Paphlagonen an. Hier brachten sie auf Medeas Geheiß der Göttin Hekate, die sie gerettet hatte, ein Opfer. Da fiel ihrem Führer und auch andern Helden bei, daß der alte Wahrsager Phineus ihnen zur Rückfahrt auf einem neuen Wege geraten hatte; der Gegenden aber war keiner kundig. Nun belehrte sie Argos, der Sohn des Phrixos, der es aus Priesterschriften wußte, daß sie nach dem Isterflusse steuern sollten, dessen Quellen fern in den Rhipäischen Bergen murmeln und der das Füllhorn seiner Wasser zur Hälfte ins Ionische, zur andern Hälfte ins Sizilische Meer ergießt. Als Argos dies geraten, erschien die breite Himmelsfurche eines Regenbogens in der Richtung, in welcher sie fahren sollten, und der günstige Wind ließ nicht ab zu wehen und das Himmelszeichen hörte nicht auf zu leuchten, bis sie glücklich an die ionische Mündung des Flusses Ister gelangt waren.

Die Kolcher ließen aber mit ihrer Verfolgung nicht nach und kamen, schneller segelnd, mit ihren leichten Schiffen noch vor den Helden an der Mündung des Isters an. Hier legten sie sich, an verschiedenen Buchten und Inseln des Ausflusses verteilt, in den Hinterhalt und verstellten den Helden, als diese sich in der Mündung des Stromes vor Anker gelegt, den Ausweg. Die Argonauten, die Menge der Kolcher fürchtend, landeten und warfen sich auf eine Insel des Flusses; die Kolcher folgten, und ein Treffen bereitete sich vor. Da traten die bedrängten Griechen in Unterhandlung, und von beiden Teilen wurde verabredet, daß jedenfalls die Griechen das Goldne Vlies, das der König dem Helden Iason für seine Arbeit versprochen hatte, davontragen sollten; die Königstochter Medea aber sollten sie auf einer zweiten Insel, im Tempel der Artemis, aussetzen, bis ein gerechter Nachbarkönig als Schiedsrichter entschieden hätte, ob sie zu ihrem Vater zurückkehren oder ob sie den Helden nach Griechenland folgen sollte. Bittere Sorgen bemächtigten sich der Jungfrau, als sie solches hörte; sie führte sogleich ihren Geliebten seitwärts an einen Ort, wo keiner seiner Genossen sie hören konnte; dann sprach sie unter Tränen: „Iason, was habt ihr über mich beschlossen? Hat das Glück alles bei dir in Vergessenheit gesenkt, was du mir mit heiligem Eide in der Not versprochen? In dieser Hoffnung habe ich Leichtsinnige, Ehrvergessene Vaterland, Haus und Eltern verlassen, was mein Höchstes war. Für deine Rettung treibe ich auf dem Meere mit dir um; meine Vermessenheit hat dir das Goldne Vlies verschafft; für dich habe ich Schmach auf den Frauennamen geladen, deswegen folge ich dir als dein Mädchen, als dein Weib, als deine Schwester ins griechische Land. Und darum beschirme mich auch, laß mich nicht allein hier, überlaß mich nicht den Königen zum Urteil. Wenn mich jener Richter meinem Vater zuspricht, so bin ich verloren; wie wäre dir dann deine Rückkehr angenehm? Wie könnte des Zeus Gemahlin, Hera, dieses billigen, sie, deren du dich rühmest? Ja, wenn du mich verlässest, so wirst du einst, in Elend versunken, mein gedenken. Wie ein Traum soll dir das Goldne Vlies in den Hades entschwinden! Aus dem Vaterlande sollen dich meine Rachegeister treiben, wie ich durch deine Verkehrtheit aus meinem Vaterlande getrieben worden bin!“ So sprach sie in wilder Leidenschaft und gedachte Feuer in das Schiff zu legen, alles zu verbrennen und sich selbst hineinzustürzen. Bei ihrem Anblicke ward Iason scheu, das Gewissen schlug ihm, und er sprach mit begütigenden Worten: „Fasse dich, Gute! Mir selbst ist jener Vertrag nicht Ernst! Suchen wir ja nur einen Aufschub der Schlacht, weil eine ganze Wolke von Feinden uns umringt, um deinetwillen. Denn alles, was hier wohnt, ist den Kolchern befreundet und will deinem Bruder Absyrtos helfen, daß er dich als Gefangene dem Vater zurückbringe. Wir alle aber, wenn wir jetzt den Kampf beginnen, werden elendiglich umkommen, und deine Lage wird noch hoffnungsloser, wenn wir gestorben sind und dich den Feinden als Beute zurücklassen. Vielmehr soll jener Vertrag nur ein Hinterhalt sein, der den Absyrtos ins Verderben stürzt; denn wenn ihr Führer tot ist, so werden den Kolchern die Nachbarn keine Hilfe mehr leisten wollen.“ So sprach er schmeichelnd, und Medea gab ihm den gräßlichen Rat: „Höre mich. Ich habe einmal gesündigt und, vom Verhängnis verblendet, Übles getan. Rückwärts kann ich nicht mehr, so muß ich vorwärtsschreiten im Frevel. Wehre du im Treffen die Lanzen der Kolcher ab; ich will den Bruder betören, daß er sich in deine Hände gibt. Du empfange ihn mit einem glänzenden Mahle; kann ich dann die Herolde überreden, daß sie ihn zum Zwiegespräch allein mit mir lassen: alsdann - ich kann nicht widerstehen - magst du ihn töten und die Schlacht den Kolchern liefern.“ Auf diese Weise legten die beiden dem Absyrtos einen schweren Hinterhalt. Sie sandten ihm viele Gastgeschenke, darunter ein herrliches Purpurkleid, das die Königin von Lemnos dem Iason gegeben hatte, welches einst die Huldgöttinnen selbst dem Gotte Dionysos gefertiget und das mit himmlischem Dufte getränkt war, seit der nektartrunkene Gott darauf geschlummert hatte. Den Herolden redete die schlaue Jungfrau zu, Absyrtos sollte im Dunkel der Nacht auf die andere Insel zum Artemistempel kommen; dort wollten sie eine List ausdenken, wie er das Goldne Vlies wiederbekäme und es dem Könige, ihrem Vater, zurückbringen könnte; denn sie selbst, so heuchelte sie, sei von den Söhnen des Phrixos mit Gewalt den Fremdlingen überliefert worden. Nachdem sie so die Friedensboten betört hatte, spritzte sie von ihren Zauberölen in den Wind, so viel, daß ihr Duft auch das wildeste Tier vom höchsten Berge herabzulocken kräftig gewesen wäre. Es geschah, wie sie gewünscht hatte. Absyrtos, durch die feierlichsten Versprechungen betrogen, schiffte in dunkler Nacht nach der heiligen Insel hinüber. Dort allein mit der Schwester zusammengekommen, versuchte er das Gemüt der Verschlagenen, ob sie wirklich eine List gegen die Fremdlinge hegte; aber es war, als wenn ein schwacher Knabe durch einen angeschwollenen Bergstrom waten wollte, über den kein kräftiger Mann ungestraft setzen kann. Denn als sie mitten im Gespräch waren und die Schwester ihm alles zusagte, da stürzte plötzlich Iason aus dem verborgenen Hinterhalt hervor, das bloße Schwert in der Hand. Die Jungfrau aber wandte ihre Augen ab und bedeckte sich mit dem Schleier, um den Mord ihres Bruders nicht mit ansehen zu müssen. Wie ein Opfertier stürzte der Königssohn unter den Streichen Iasons und bespritzte Gewand und Schleier der abgekehrten Medea mit seinem Bruderblut. Aber die Rachegöttin, die nichts übersieht, schaute aus ihrem Versteck mit finsterem Auge die gräßliche Tat, die hier begangen ward.

Nachdem Iason sich von dem Morde gereinigt und den Leichnam begraben hatte, gab Medea den Argonauten mit einer Fackel das verabredete Zeichen. Diese legten ihr Fahrzeug neben das Schiff, auf dem Absyrtos zur Artemisinsel gekommen war, und fielen, wie Habichte über Taubenscharen oder Löwen über Schafherden, über die ihres Führers beraubten Begleiter des Absyrtos her. Keiner entging dem Tode. Iason, der den Seinigen zu Hilfe kommen wollte, erschien zu spät, denn schon war der Sieg entschieden.