Menökeus
Inzwischen hielten Kreon und Eteokles Kriegsrat und besetzten infolge der gefaßten Beschlüsse jedes der sieben Tore Thebens mit einem Führer, indem sie der Feinde Zahl die gleiche Zahl gegenüberstellten. Doch wollten sie, bevor der Kampf um die Stadt ausbrach, auch vorher die Zeichen erforschen, welche die Vogelschau ihnen über den Ausgang des Kampfes gewähren könnte. Nun lebte unter den Thebanern, wie die Sage von Ödipus schon erzählt hat, der Seher Tiresias, der Sohn des Eueres und der Nymphe Chariklo; dieser hatte als Jüngling die Göttin Athene bei seiner Mutter überrascht und geschaut, was er nicht schauen sollte. Dafür war er von der Göttin mit Blindheit geschlagen worden. Seine Mutter Chariklo hatte ihre Freundin zwar flehentlich gebeten, ihm das Gesicht wiederzugeben, aber Athene vermochte dieses nicht mehr; doch erbarmte sie sich seiner und weihte ihm dafür sein Gehör, daß er alle Stimmen der Vögel verstand. Und so war er von Stund an der Vogelschauer der Stadt.
Zu diesem jetzt greisen Seher schickte Kreon seinen jungen Sohn Menökeus, daß er ihn in den Königspalast geleite. Mit wankendem Knie, von seiner Tochter Manto und dem Knaben geführt, erschien auch bald darauf der Alte vor Kreon. Dieser drang in ihn, zu melden, was der Vögel Flug ihm vom Schicksale der Stadt verkündige. Tiresias schwieg lange; endlich sprach er die traurigen Worte: „Die Söhne des Ödipus haben sich an ihrem Vater schwer versündigt; sie bringen ins Thebanerland bittere Trübsal. Argiver und Kadmeer werden sich morden, die Söhne einer von des andern Hand fallen. Nur eine Rettung weiß ich für die Stadt; aber sie ist für die Geretteten selbst zu bitter, als daß mein Mund sie offenbaren sollte. Lebet wohl!“ Er wandte sich und wollte gehen, aber Kreon flehte so lange, bis er blieb. „Du willst es dennoch hören?“ sprach der Seher in strengem Tone; „so vernimm es! Aber sage mir zuvor, wo weilt dein Sohn Menökeus, der mich hergeleitete?“ „Er steht neben dir!“ erwiderte Kreon. „Nun, so fliehe er, so weit er kann, hinweg von meinem Götterspruch!“ sagte der Greis. „Warum das?“ fragte Kreon; „Menökeus ist seines Vaters Kind; er kann schweigen, wenn er soll, und wird sich freuen, wenn er das Mittel erfährt, das uns retten soll!“ „So vernehmet denn, was ich aus dem Fluge der Vögel gelesen habe“, sprach Tiresias. „Es kommt das Heil, aber über harte Schwelle. Der jüngste von der Drachenzähnesaat muß fallen; nur unter dieser Bedingung wird euch der Sieg!“ „Weh mir!“ rief Kreon; „was bedeutet dieses Wort, o Greis?“ „Daß der jüngste Enkel des Kadmos sterben soll, wenn die Stadt gerettet sein will!“ „Du verlangst den Tod meines geliebten Kindes, meines Sohnes Menökeus?“ fuhr der Fürst entrüstet auf. „Packe dich fort in die Stadt! Ich bedarf deines Seherspruches nicht!“ „Ist die Wahrheit ungültig, weil sie dir Leid bringt?“ fragte Tiresias ernst. Jetzt warf sich Kreon ihm zu Füßen, umfaßte seine Knie, flehte den blinden Propheten bei seinem grauen Haare an, den Spruch zurückzunehmen. Aber der Seher blieb unerbittlich: „Die Forderung ist unabwendbar“, sprach er. „Am Dirkequell, wo einst der Lindwurm gelagert war, muß er sein Blut im Opfertode vergießen; dann werdet ihr die Erde zur Freundin haben, wenn sie für das Menschenblut, das sie einst dem Kadmos aus den Drachenzähnen emporsandte, wieder Menschenblut, und zwar verwandtes, empfangen hat. Wenn dieser Jüngling hier sich für seine Stadt aufopfert, so wird er im Tode ihr Erretter sein, und für Adrastos und sein Heer wird die Heimkehr grauenvoll werden! Wähle dir nun, Kreon, welches Los von zweien du willst.“
Also sprach der Wahrsager und entfernte sich an der Hand seiner Tochter. Kreon stand in Schweigen versunken. Endlich rief er angstvoll: „Wie gern wollte ich selbst für mein Vaterland sterben! Aber dich, Kind, soll ich opfern? Flieh, mein Sohn, fliehe, so weit dich deine Füße tragen, aus diesem verfluchten Lande, das zu schlimm ist für deine Unschuld. Geh über Delphi, Ätolien, Thesprotia zum Heiligtume Dodonas; dort birg dich in des Orakels Schutz!“ „Gerne“, sprach Menökeus mit leuchtendem Blicke; „versieh mich mit den nötigen Reisebedürfnissen, Vater, und glaube mir, ich werde den rechten Weg gewiß nicht verfehlen.“ Als sich Kreon bei der Willigkeit des Knaben beruhigte und auf seinen Posten geeilt war, warf sich dieser, sobald er allein war, auf die Erde nieder und betete mit Inbrunst zu den Göttern: „Verzeihet mir, ihr himmlisch Reinen, wenn ich gelogen habe, wenn ich meinem alten Vater durch falsche Worte die unwürdige Furcht benommen! Zwar daß er, der Greis, sich fürchtet, ist verzeihlich: aber welch ein Feiger wäre ich, wenn ich das Vaterland verriete, dem ich das Leben verdanke! Höret darum meinen Schwur, ihr Götter, und nehmt ihn gnädig auf! Ich gehe, mein Vaterland durch meinen Tod zu erretten. Flucht würde mich schänden. Auf den Mauerkranz will ich treten, mich selbst in die tiefe, dunkle Kluft des Drachen stürzen und so, wie der Seher angezeigt hat, das Land erlösen.“
Freudig sprang der Knabe auf, eilte nach der Zinne und tat, wie er gesagt hatte. Er stellte sich auf die höchste Höhe der Burgmauer, überschaute mit einem Blicke die Schlachtordnung der Feinde und verwünschte sie in kurzem, feierlichem Fluche; dann zog er einen Dolch hervor, den er unter dem Gewande verborgen gehalten, durchbohrte sich den Hals auf einen einzigen Stoß und stürzte von der Höhe herab zerschmettert am Ufer des Dirkequells zusammen.