Vernunft und Verstand
Die Philosophieprofessoren haben geraten gefunden, jenem den Menschen vom Tier unterscheidenden Vermögen des Denkens und Überlegens, mittelst der Reflexion und der Begriffe, welches der Sprache bedarf und zu ihr befähigt, an dem die menschliche Besonnenheit hängt und mit ihr alle menschlichen Leistungen, welches daher in solcher Weise und in solchem Sinn von allen Völkern und auch von allen Philosophen stets aufgefaßt worden ist, seinen bisherigen Namen zu entziehn und es nicht mehr Vernunft, sondern, wider allen Sprachgebrauch und allen gesunden Takt, Verstand, und eben so alles aus demselben Fließende verständig, statt vernünftig zu nennen; welches dann allemal queer und ungeschickt, ja wie ein falscher Ton herauskommen mußte. Denn jederzeit und überall hat man als Verstand, intellectus, acumen, perspicacia, sagacitas u.s.w. das im vorigen Kapitel dargestellte, unmittelbare und mehr intuitive Vermögen bezeichnet und die aus ihm entspringenden, von den hier in Rede stehenden, vernünftigen spezifisch verschiedenen Leistungen verständig, klug, fein u.s.w. genannt, demnach verständig und vernünftig stets vollkommen unterschieden, als Äußerungen zweier gänzlich und weitverschiedener Geistesfähigkeiten. Allein die Philosophieprofessoren durften sich hieran nicht kehren: denn ihre Politik verlangte dieses Opfer, und in solchen Fällen heißt es: »Platz da, Wahrheit! wir haben höhere, wohlverstandene Zwecke: Platz, Wahrheit! in majorem Dei gloriam, wie du es längst gewohnt bist! Bezahlst du etwan Honorar und Gehalt? Platz, Wahrheit, Platz! geh zum Verdienst, und kauere in der Ecke.« Sie hatten nämlich die Stelle und den Namen der Vernunft nötig für ein erfundenes und erdichtetes, richtiger und aufrichtiger ein völlig erlogenes Vermögen, das ihnen in den Nöten, darin Kant sie versetzt hatte, aushelfen sollte, ein Vermögen unmittelbarer, metaphysischer, d.h. über alle Möglichkeit der Erfahrung hinausgehender, die Welt der Dinge an sich und ihre Verhältnisse erfassender Erkenntnisse, welches demnach vor Allem ein »Gottesbewußtsein« ist, d.h. Gott den Herrn unmittelbar erkennt, auch die Art und Weise a priori konstruiert, wie er die Welt geschaffen, oder, wenn das zu trivial sein sollte, wie er sie, durch einen mehr oder minder notwendigen Lebensprozeß, aus sich herausgetrieben und gewissermaßen erzeugt, oder auch, was das Bequemste, wenn gleich hochkomisch ist, sie, nach Sitte und Brauch vornehmer Herren am Ende der Audienz, bloß »entlassen« habe, da sie dann selbst sich auf die Beine machen und marschiren möge, wohin es ihr gefällt. Zu diesem Letzteren war freilich nur die Stirn eines frechen Unsinnschmierers, wie Hegel, dreist genug. Dergleichen Narrenspossen also sind es, welche seit fünfzig Jahren, unter dem Namen von Vernunfterkenntnissen, breit ausgesponnen, Hunderte sich philosophisch nennender Bücher füllen und, man sollte meinen ironischer Weise, Wissenschaft und wissenschaftlich genannt werden, sogar mit bis zum Ekel getriebener Wiederholung dieses Ausdrucks. Die Vernunft, der man so frech alle solche Weisheit anlügt, wird erklärt als ein »Vermögen des Übersinnlichen«, auch wohl »der Ideen«, kurz, als ein in uns liegendes, unmittelbar auf Metaphysik angelegtes, orakelartiges Vermögen. Über die Art ihrer Perzeption aller jener Herrlichkeiten und übersinnlicher Wahrnehmungen herrscht jedoch, seit 50 Jahren, große Verschiedenheit der Ansichten unter den Adepten. Nach den Dreistesten hat sie eine unmittelbare Vernunftanschauung des Absolutums, oder auch ad libitum des Unendlichen, und seiner Evolutionen zum Endlichen. Nach Anderen, etwas bescheideneren, verhält sie sich nicht sowohl sehend, als hörend, indem sie nicht gerade anschaut, sondern bloß vernimmt was in solchem Wolkenkukuksheim (nephelokokkygia) vorgeht, und dann dieses dem sogenannten Verstande treulich wiedererzählt, der danach philosophische Kompendien schreibt. Und von diesem angeblichen Vernehmen soll nun gar, nach einem Jacobischen Witz, die Vernunft ihren Namen haben; — als ob es nicht am Tage läge, dass er von der durch sie bedingten Sprache und dem Vernehmen der Worte, im Gegensatz des bloßen Hörens, welches auch den Tieren zukommt, genommen ist. Aber jener armsälige Witz floriert seit einem halben Jahrhundert, gilt für einen ernsthaften Gedanken, ja einen Beweis, und ist tausend Mal wiederholt worden. Nach den Bescheidensten endlich kann die Vernunft weder sehn, noch hören, empfängt also von allen besagten Herrlichkeiten weder den Anblick, noch den Bericht, sondern hat davon nichts weiter, als eine bloße Ahndung, aus welchem Worte nun aber das d ausgemerzt wird, wodurch dasselbe einen ganz eigenen Anstrich von Niaiserie erhält, welcher, durch die Schaafsphysiognomie des jedesmaligen Apostels solcher Weisheit unterstützt, ihr notwendig Eingang verschaffen muß.