Die Stadt Königsberg


Seitdem der Böhmenkönig Ottokar im Jahre 1255 das Schloß, im Jahre darauf die, wie es heißt, nach ihm benannte Gemeinde Königsberg gegründet, hatte die Stadt eine bedeutsame Entwicklung durchgemacht. Genauer gesagt: die drei Städte, die erst in Kants Geburtsjahr (1724) zu einer einzigen vereinigt und bis in den Anfang des 18. Jahrhunderts noch durch Tore voneinander abgesperrt waren, ja im Jahre 1455 einander noch bekriegt hatten: die um das Schloß entstandene Altstadt (gegründet 1264), die seit etwa 1300 östlich davon sich bildende neue Stadt oder Löbenicht, und die auf einer Insel des Pregel im Süden erbaute Stadt Kneiphof (1324). Von den Hochmeistern, um Fremde anzuziehen, mit zahlreichen Vorrechten ausgestattet, blühte Königsberg rasch auf, trat in die Hansa ein, wurde 1457 nach dem Verluste der Marienburg Sitz des Hochmeisters, seit 1525 Residenz des evangelisch gewordenen Herzogs. Durch häufige Einwanderung von Ausländern, die auch während des hierher nicht gedrungenen dreißigjährigen Kriegs nicht stockte, immer mehr angewachsen, zählte sie 1706 bereits über 40 000 Einwohner und war so, an Bevölkerungszahl wie an Bedeutung, die zweite Stadt des am 18. Januar 1701 mit gewaltigem Prunk hier gestifteten Königsreiches Preußen. Nur vorübergehend durch pestartige Seuchen geschwächt, erreichte sie — mehr durch Zuwanderung von außen als durch Geburtenüberschuß — um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Zahl 50 000, ungerechnet die starke Garnison nebst deren Familienangehörigen. Für das Jahr 1787 gibt Baczko die Einwohnerzahl auf 55 663, ohne die etwa 7—8000 Köpfe zählende Militärbevölkerung, an; die Zahl der Häuser auf mehr als 4300, dazu gegen 600 Speicher und 1000 Ställe. Um das Ganze, d. h. die drei Städte und die dazu gehörigen "Freiheiten" und Vorstädte, zog sich seit 1626 ein Wall mit 32 Rondellen und 8 Toren; übrigens für eine ernstere Verteidigung kaum geeignet, ohne Außengräben und leicht ersteigbar.

Wer damals nicht den Seeweg wählte, sondern mit der Berliner Post in Königsberg einfuhr, gelangte, ohne dass sich schon von weitem die Großstadt angekündigt hätte, durch das Brandenburger Tor — so nach dem einige Meilen südwestlich an der Heerstraße liegenden alten Städtchen genannt — in die hintere oder äußere, dann in die vordere Vorstadt, von denen wenigstens die erstere noch um 1840 fast durchweg aus sehr dürftigen, meist ein-, höchstens zweistöckigen Häusern bestand. In der noch heute in ihrer Hauptstraße den alten Namen tragenden Vorderen Vorstadt, der Geburtsstätte unseres Philosophen, die sich bis an den Pregel erstreckte und häufig unter den verheerenden Bränden der dort zahlreichen Getreidespeicher zu leiden hatte, waren schon modernere Bauten dazwischen gestreut. Hier, wo sich der Handel bereits stark bemerkbar machte, konnte der Knabe Kant, besonders in der Sommerzeit, zahlreiche schwarzbärtige Juden mit ihren langen schwarzseidenen Kaftanen, hohen Stöcken und breitkrempigen Hüten sehen, in lebhaftem Handelsgespräch über die Waren begriffen, die sie zum Teil selbst aus dem Inneren Polens den Fluß abwärts geleitet hatten. Außerdem waren wegen des starken Fuhrverkehrs aus dem "Reich" Gasthäuser niederen Rangs ("Krüge") sehr häufig. Die Vorstadt war zu Kants Zeit noch von vielen feuchten Wiesen mit ihren Gräben teils umgeben, teils durchschnitten. In einem Viertel derselben, der sogenannten "Insel Venedig", deren Hauptstraße die Klapperwiese hieß, wohnten schon einzelne Grossisten wie Toussaint, Andersch u. a. Ihren Abschluß fand die Stadt hier pregelabwärts in der einst vom Großen Kurfürst gegen die widerspenstigen Städter angelegten und mit einem Arsenal versehenen, auch als Gefängnis benutzten "Veste Friedrichsburg".

Die Grüne Brücke, die aus der "Vorstadt" zur eigentlichen Stadt führte, und die der kleine Kant zu Anfang seines langen Schulwegs täglich überschreiten mußte, bot eine fesselnde Doppelaussicht, nach Westen und nach Osten. Dort die in See stechenden großen Seeschiffe des Auslandes mit Matrosen der verschiedensten Nationen Europas. Hier pregelaufwärts die aus Polen und Rußland kommenden langen und flachen Riesenkähne (Wittinen), hochbeladen mit Getreide, Hanf, Flachs und Matten, die sie zum Teil aus weit entlegenen Gebieten hergeschafft hatten, um sie in der großen Handelsstadt gegen Kolonialwaren, Wein oder Fertigfabrikate einzutauschen: zuweilen bis zu 60 oder 70 an der Zahl, so dass sie den Fluß fast unsichtbar machten, bis sie nach 6 oder 7 Jahren ausgedient hatten und als Bau- oder Brennholz verkauft wurden. Auf ihnen, außer dem meist jüdischen Unternehmer, die sogenannten Dschimken, in Schafpelze gekleidete gutmütige Naturmenschen aus dem Inneren Polens, welche die Fahrzeuge vor Anbrach des Herbstes wieder heimgeleiteten.

Hatte Immanuel auf der Grünen Brücke den "alten" Pregel, d. i. den südlichen Pregelarm, überschritten, so befand er sich auf der Insel des Kneiphofs. Dieser Stadtteil trug ein wesentlich anderes Gepräge als die Vorstadt. Denn hier hatten die altberühmten wohlhabenden Handelsfirmen ihren Sitz. Konnte sich Alt-Königsberg auch nicht mit den reicheren Hansastädten Danzig, Lübeck oder Bremen messen, so erinnerte doch die als die schönste Straße der Stadt geltende Kneiphöfsche Langgasse wenigstens einigermaßen an ihr heute noch berühmtes Danziger Vorbild. Leider sind in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur das hübsche Langgassen-Tor mit seinem Turm, sondern, bis auf wenige unbedeutende Reste, auch die freilich die ohnehin nicht breite Straße noch mehr verengenden "Beischläge" (Vortreppen mit Eisengeländer und allerlei Verzierungen) der neuzeitlichen Entwicklung zum Opfer gefallen: in dem nüchternen Königsberg denkt man anscheinend ungeschichtlicher als in der Stadt an der Weichselmündung. Außerdem beherbergte der Kneiphof noch die schon 1324 begründete "Thum" (Dom)-Kirche, einen altertümlichen Backsteinbau, nebst den dicht dabei gelegenen Gebäuden des Kneiphöfschen Gymnasiums und der Universität (heute Stadtbibliothek): eine der wenigen Stellen Königsbergs, wo man heute noch still von vergangenen Zeiten träumen kann. Ferner das noch jetzt den Hauptsitz der städtischen Verwaltung bildende Rathaus, endlich das unmittelbar am Pregelufer auf Pfählen erbaute Börsengebäude: so dass hier Kirche, Wissenschaft und Handel in trauter Nachbarschaft zusammenstießen.

Ging man vom Kneiphof, auf der Krämerbrücke den nördlichen Pregelarm oder "neuen" Pregel überschreitend, in gerader Richtung auf das Schloß zu, so gelangte man bergansteigend — dichterische Gemüter haben Königsberg wohl mit der Siebenhügelstadt am Tiber verglichen — in die Altstadt, den Hauptwohnsitz der wohlhabenden Kleinbürgerschaft: der Tuchkaufleute, Kürschner, Schmiede und Schuhmacher. Sie dehnte sich mit ihren zahlreichen "Freiheiten" weit aus und besaß in älterer Zeit nicht weniger als acht Tore. In der Altstadt im engeren Sinn lag das Altstädtische Rathaus, zu Kants Zeit als Gerichtsgebäude verwandt, das Altstädtische Gymnasium, der Artushof oder Junker- und der Gemeindegarten, hier die Buchhandlungen und Buchdruckereien. Neben glänzenden Läden befanden sich in den engen Gassen vielfach auch düstere, dunkel angestrichene Häuser mit schwärzlich angerauchtem Gemäuer, die meisten mit Vorplätzen und -treppen versehen.

Im Zentrum und zugleich am höchsten, beherrschenden punkte der Stadt erhob sich das auch gegenwärtig fast noch unveränderte Schloß, in verschiedenen Jahrhunderten und Baustilen errichtet, mit seinen gewaltigen grauen Mauern, seinen zahlreichen, den weiten Innenhof umschließenden Gebäuden, seinem hochragenden schlanken Hauptturm, nebst den dicken Eck- und Warttürmen, in seinem Inneren den riesigen Moskowitersaal — noch immer einen der größten Säle Deutschlands —, eine besondere Kirche, eine Bibliothek u. a. bergend. In der Nähe des Schlosses begann der weit ausgedehnte Schloßteich, dessen Ufer damals noch überall bis an das Wasser herabreichende Gärten bildeten. Hier herrschte an schönen Sommerabenden, zumal wenn Konzerte oder eine italienische Nacht veranstaltet wurde, in der sonst so nüchternen Stadt bisweilen ein fast venetianisch anmutendes reges Treiben; das ärmere Volk sah dann von der seit 1753 das Wasser überquerenden Holzbrücke bewundernd dem prächtigen Schauspiel, im Winter dem Eislauf, zu. Vom Schloßplatz ostwärts schaute man auf die elegante Französische Straße mit ihren Buch- und Putzhandlungen, Konditoreien und Weinstuben, während nach Süden der Blick auf die rauchgeschwärzten tiefer liegenden Teile der Altstadt fiel.

An diese reihte sich gen Osten pregelaufwärts die dritte der einstigen Städte, der sogenannte Löbenicht, der Sitz der reichen Bierbrauer mit ihren nicht weniger als 87 Brauhäusern. Die alte Kirche brannte 1764 ab; die neue, deren zierlichen Turm der alte Kant von seinem Studierzimmer aus so gern sah, wurde bald darauf eingeweiht. Das frühere Rathaus war schon zu des Philosophen Lebzeiten ein Privathaus geworden, in dem auch er mehrere Jahre lang gewohnt hat.

An die innere Stadt schlossen sich auch nach den übrigen Seiten verschiedene, seit dem 16. Jahrhundert aus Dörfern, Vorwerken, Gärten usw. nach und nach entstandene Vorstädte an, hier "Freiheiten genannt. Im Gegensatz zu der dicht bebauten alten Stadt, waren dort erst die Hauptstraßenzüge mit Häusern, Scheunen, Speichern besetzt. Auch sie trugen einen verschiedenartigen Charakter. Der dem Stadtinneren nahe "Roßgarten" z. B. wies in seinem Beginn stattliche Häuser, Kaufläden und Geschäfte auf, während er nach außen hin in Krankenhäuser, später auch Kasernen endete. Der "Sackheim" mit seinen Kleinkramläden und Schänken diente besonders den in die Stadt kommenden Landleuten. Im Gegensatz dazu beherbergte die "Neue Sorge" die ansehnlichen Stadtwohnungen der Aristokratie. "Tragheim" wieder trug auf seiner an den Schloßteich grenzenden Seite vornehme Landhäuser, auf der gegenüberliegenden dagegen bescheidene Wohnungen kleiner Leute. Die Hauptstraße des "Steindamms" bildete den beliebtesten Spazierweg zu den Landgütern oder "Hufen" (dem heutigen Villenviertel Königsbergs) und von da auf den Wall, der sich in zwei Meilen Umfang mit zahlreichen Vorsprüngen und Buchten rings um die Stadt zog und zum Teil noch heute wechselnde Aussichten auf deren Umgebung: Wald, Fluren, Friedhöfe, den Oberteich, den Pregel und in der Ferne das frische Haff bietet.

Eine Welt für sich endlich bildete die zur Altstadt gehörige Freiheit Lastadie mit ihren den Pregel entlang sich ziehenden mächtigen, wenn auch architektonisch unschönen Speichern, Packhäusern, Wagen, Kranen, Schiffswerften und Zoll- oder Lizentgebäuden. Von den aus dem Haff einfahrenden Seeschiffen wurden am Holländer, von den aus dem Landesinnern kommenden Flußschiffen am Littauer "Baum", d. i. Schlagbaum, die Zollgebühren erhoben.


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