Apperzeption

Apperzeption (apperceptio von ad-percipere) heißt jetzt die Klarwerdung bezw. Klarmachung eines Vorstellungsinhalts durch aufmerksames Erleben desselben. Die Wirkung des Appercipierens besteht in der größeren Bestimmtheit, Bewußtheit des Vorstellungsinhalts und in der Einreihung desselben in den Zusammenhang des Ichbewußtseins. Die passive Apperzeption ist eine Triebhandlung, geht von einer gefühlsbetonten Vorstellung als Motiv der Aufmerksamkeitseinstellung aus; die aktive Apperzeption ist eine Willkür- oder eine Wahlhandlung, in ihr bekundet sich die Einheit, Totalität und Aktivität des Ich. Die aktive Apperzeption liegt allem Denken, aller produktiven Phantasietätigkeit und allen äußeren Willenshandlungen zugrunde; sie selbst ist schon eine (innere) Willenshandlung, die den Verlauf der Vorstellung hemmt, dirigiert, ordnet.

Bevor noch der Begriff der Apperzeption gebildet ist, betont man verschiedenerseits die Funktion der Aufmerksamkeit (s. d.) für das Bemerken, bewußte Erfassen, Bevorzugen eines Inhaltes. So schon AUGUSTINUS (De trin. XI, 19, De mus. VI, 8, 21), DUNS SCOTUS (OP. Ox. II, 25, 22, 24 f. Opp. XI, 13, 16, 412 f.). DESCARTES spricht direct von dem Vermögen der Seele, »d'appercevoir ce qu'elle veut« (Pass. de l'âme I, 19).

Begründet wird die Lehre von der Apperzeption von LEIBNIZ. Unter Apperzeption versteht er zunächst die bewußte im Unterschied von der unbewußten (unterbewußten) Vorstellung (der »petite perception«), die durch Zuwachs oder Addition zu einer bewußten werden kann: »La perception devient apperceptible par une petite addition ou augmentation« (Nouv. Ess. II, ch. 9, § 4). Die Apperzeption ist eine »perceptio melior, cum attentione et memoria coniuncta«. Apperzeptionen haben nur die höheren, geistigen Monaden (s. d.). Zugleich ist die Apperzeption Erfassung des inneren, seelischen Zustandes im Subjekte (»la conscience ou la connaissance réflexive de cet état intérieur, laquelle n'est point donné à toutes les âmes ni toujours à la même âme«, Gerh. VI, 600). Da aber die Reflexion auf das Ichbewußtsein zurückführt (»les actes réflexifs nous font penser à ce qui s'appelle moi,« Monad. 30), so bedeutet Apperzeption die Erhebung einer Vorstellung ins Selbstbewußtsein, ist sie das Bewußtsein eines Inhaltes zugleich mit dem Bewußtsein, daß dieser Inhalt in meinem Bewußtsein ist. Die Apperzeption unterscheidet sich von der »verworrenen« Vorstellung durch ihre Klarheit. Sofern wir apperzipieren, sind wir aktiv (s. d.). CHR. WOLF bringt gleichfalls die Apperzeption zum Selbstbewußtsein in Beziehung. »Dum... attentionem nostram in hoc convertimus, quod rerum perceptarum nobis conscii sumus, nostri enim conscii sumus. Sed tum apperceptionem, actionem quandam animae, percipimus et nos per eam tanquam subiectum percipiens ab obiectis, quae percipiuntur, distinguimus agnoscentes utique percipiens subiectum esse quid diversum a re percepta« (Psych. rat. § 13; Psych. emp. § 25). TETENS stellt das Apperzipieren als aktive Bewußtseinstätigkeit als »neue hinzukommende Aktion der Seele« der Perzeption gegenüber (Phil. Vers. I, 290).

KANT gebraucht den Ausdruck »empirische Apperzeption« gleichbedeutend mit dem des »inneren Sinnes« (s. d.). Sie ist »das Bewußtsein seiner selbst, nach den Bestimmungen unseres Zustandes bei der inneren Wahrnehmung«. Von diesem »wandelbaren« Ichbewußtsein (Kr. d. r. V. S. 121) unterscheidet er die »transzendentale Apperzeption« (s. d.) als reine, konstante, synthetische, active Ichheit. JACOB versteht unter Apperzeption die Auffassung und Zusammenfassung von Vorstellungsinhalten zu einem Ganzen (Gr. d. Erfahr.3, S. 201 ff.). M. DE BIRAN versteht ebenfalls unter »Apperzeption interne immédiate« das Bewußtsein des Ichs von sich selber (Oeuvr. III, 5). »J'appellerai apperception toute impression où le moi peut se reconnaître comme cause productrice en se distinguant de l'effet sensible que son action détermine« (Oeuvr. inéd. I, 9, III, 346).

Einen neuen Begriff der Apperzeption führt HERBART ein. Apperzeption ist nach ihm die Aufnahme und Bearbeitung von Vorstellungen durch eine Reihe anderer, neuer durch alte, manchmal auch alter durch neue Vorstellungen. Die stärkeren Vorstellungen sind die apperzipierenden, die schwächeren die apperzipierten; diese verschmelzen mit jenen. Neue Vorstellungen werden apperzipiert, an- oder zugeeignet, indem »ältere gleichartige Vorstellungen erwachen, mit jenen verschmelzen und sie in ihre Verbindungen einführen« (Psych. a. Wiss. II, § 126). »Anstatt daß die apperzipierten Vorstellungen sich nach ihren eigenen Gesetzen zu heben und zu senken im Begriff sind, werden sie in ihren Bewegungen durch die mächtigeren Massen unterbrochen, welche das ihnen Entgegengesetzte zurücktreiben, obschon es steigen mochte, und das ihnen Gleichartige, wenngleich es sinken sollte, anhalten und mit sieh verschmelzen« (Lehrb. z. Psych. S. 32 f.). Durch die Aufnahme neuer Vorstellungen seitens eines gefestigten Bestandes alter Vorstellungen, sog. »Vorstellungsmassen«, geschieht die Bereicherung unseres Seelenlebens, die Deutung und Erkennung des Unbekannten. VOLKMANN definiert ebenfalls die Apperzeption als »Verschmelzung einer neuen isolierten Vorstellungsmasse mit einer älteren, ihr an Umfang und innerer Ausgeglichenheit überlegenen« (Lehrb. d. Psych. II4, 190). STEINTHAL nennt die apperzipierenden Vorstellungen apriorische, die apperzipierten aposteriorische; er unterscheidet eine identificierende, subsumierende, harmonisierende, disharmonisierende Apperzeption. (Einl. in d. Psych.) Nach LAZARUS ist die Apperzeption die Reaktion der »vom Inhalt bereits erfüllten, durch die früheren Prozesse seiner Erzeugung ausgebildeten Seele« (Leb. d. Seele II2, 42). Jede wirkliche Perzeption ist schon Apperzeption (ib.). Nach LIPPS wird ein Inhalt apperzipiert, »wenn er solche in der Seele vorhandenen Assoziationen wachruft, die ihn mit einem vorher vorhandenen Inhalte in gesetzmäßige Beziehung setzen« (Gr. d. Seel. S. 407). Wir apperzipieren, indem wir »Inhalte uns aneignen, d.h. sie zu unserem Selbstgefühl in Beziehung bringen oder in das System unseres Selbstbewußtseins einordnen« (l.c. S. 409). Es gibt eine logische, ästhetische, praktische Apperzeption (s. d.). STOUT definiert die Apperzeption als den Prozess, vermittelst dessen ein vorhandener geistiger Vorrat um ein neues Element vermehrt wird (Anal. Psych. II). Ähnlich JODL (Lehrb. d. Psych. S. 443). W. JERUSALEM versteht unter Apperzeption »die Formung und Aneignung einer Vorstellung infolge der durch die Aufmerksamkeit aktuell gewordenen Vorstellungsdispositionen« (Lehrb. d. Psych.3, S. 87). Die Apperzeption gibt dem Vorstellungsverlauf »die Richtung und einen gewissen Abschluß« (ib.). Die am leichtesten erregbaren apperzipierenden Vorstellungsgruppen sind die »herrschende Apperzeptionsmasse« (ib.). »Fundamentale« Apperzeption ist die »Apperzeptionsweise..., durch welche alle Vorgänge der Umgebung als Willensäußerungen selbständiger Objekte gedeutet werden« (l.c. S. 90). Sie liegt der Urteilsfunktion (s. d.) und den Kategorien (s. d.) zugrunde. MÜNSTERBERG: »Wir fassen ein Objekt auf, heißt, daß wir zu einem bestimmten Handlungstypus übergehen.« In den motorischen Zentren bestehen moleculare Dispositionen, vermöge deren der Reiz eine komplexere Wirkung auslösen kann, als seiner isolierten Einwirkung entsprechen würde (Princ. d. Psych. S. 551). Nach HUSSERL ist Apperzeption »der Überschuß, der im Erlebnis selbst, in seinem descriptiven Inhalt gegenüber dem rohen Dasein der Empfindung besteht« (Log. Unt. II, 363).

Als Willensvorgang wird die Apperzeption von WUNDT bestimmt, zugleich als bewußtseinssteigernder, hemmender, ordnender Act. Apperzeption nennt Wundt »den einzelnen Vorgang, durch den irgend ein psychischer Inhalt zu klarer Auffassung gebracht wird«, im Unterschiede von der bloßen Perzeption (Gr. d. Psych.5, S. 249). »Die Inhalte, denen die Aufmerksamkeit zugewandt ist, bezeichnen wir, nach Analogie des äußeren optischen Blickpunktes, als den Blickpunkt des Bewußtseins oder den inneren Blickpunkt, die Gesamtheit der in einem gegebenen Moment vorhandenen Inhalte dagegen als das Blickfeld des Bewußtseins oder das innere Blickfeld« (ib.). Nur ein sehr kleiner Teil unserer Vorstellungen wird jederzeit, mit verschiedener Klarheit, apperzipiert. In zwei Formen tritt die Apperzeption auf. »Erstens: Der neue Inhalt drängt sieh plötzlich und ohne vorbereitende Gefühlswirkung der Aufmerksamkeit auf; wir bezeichnen diesen Verlaufstypus als den der unvorbereiteten oder der passiven Apperzeption.« Sie ist durch ein Gefühl des Erleidens charakterisiert, das aber rasch in ein Tätigkeitsgefühl übergeht (l.c. S. 259). »Zweitens: Der neue Inhalt wird durch Gefühlswirkungen... vorbereitet, und es ist infolgedessen schon vor seinem Eintritt die Aufmerksamkeit auf ihn gespannt; wir bezeichnen diesen Verlaufstypus als den der vorbereiteten oder der aktiven Apperzeption«. Ein Gefühl der Erwartung geht hier, verbunden mit Spannungsempfindungen, der Auffassung des Inhalts voran, das durch ein Gefühl der Erfüllung und dann durch ein Tätigkeitsgefühl abgelöst wird (l.c. S. 260). Alle Apperzeption ist ein Willensvorgang, bei dem »nicht der Gegenstand selbst, sondern seine Wahrnehmung gewollt wird« (Völkerpsych. I 2, 241). Die passive Apperzeption ist, Subjektiv, eine Triebhandlung, denn hier ist »der unvorbereitet sich aufdrängende psychische Inhalt offenbar das allein vorhandene Motiv der Apperzeption«. Die aktive Apperzeption ist eine Willkürhandlung, die aus einer Mehrheit von Motiven, oft nach einem »Kampf« derselben, hervorgeht (l.c. S. 261). Die Ausdrücke »aktiv« und »passiv« beziehen sich »nicht unmittelbar auf den Vorgang der Apperzeption selbst, der im wesentlichen überall der nämliche ist, sondern auf den gesamten Bewußtseinszustand« (l.c. S. 261). Apperzeption und Aufmerksamkeit (s. d.) sind die objektive und die subjektive Seite eines Vorgangs. Die Apperzeption ist schon eine Bedingung der Assoziation (s. d.); die active Apperzeption liegt aller geistigen Tätigkeit zugrunde. Die Funktionen der Apperzeption sind das Beziehen-Vergleichen, Analyse-Synthese (l.c. S. 303 ff., Vorles.2, S. 267, 263, 274; Grdz. d. ph. Psych. II4, S. 266 ff., 278 f., 437; Phil. Stud. II, 33 f., X, 95; Syst. d. Phil.2, S. 576 f.; Ess. 6, S. 174; Log. I2, 30, II2, 265 f.). Die Apperzeption ist keine Tätigkeit, die außer dem Zusammenhange von Gefühlen und Empfindungen bei der Auffassung eines Inhalts existiert, kein »Seelenvermögen«. Physiologisch ist sie ein Hemmungsprozess, durch den das Klarwerden anderer Eindrücke als der apperzipierten verhindert wird; nach WUNDT gibt es ein (vielleicht im Stirnhirn lokalisiertes) Apperzeptionszentrum, von dem senso-motorische Wirkungen ausgehen. Aber »nur insoweit jeder Apperzeptionsvorgang mit Veränderungen am Empfindungsinhalte verbunden ist, sind für ihn physiologische Parallelvorgänge anzunehmen« (Grdz. d. ph. Psych. II4, 274, 276, 283 f. Phil. Stud. II, 33 f., X, 95). Apperzeption und Assoziation (s. d.) sind nicht voneinander unabhängige Vorgänge oder gar Äußerungen von »Seelenvermögen«, sondern »zusammengehörige Faktoren des psychischen Geschehens« (Völkerpsych. I 2, 575). Unter Einheit der Apperzeption versteht WUNDT »die Tatsache, daß jeder in einem gegebenen Augenblick apperzipierte Inhalt des Bewußtseins ein einheitlicher ist, so daß er als eine einzige mehr oder minder zusammengesetzte Vorstellung aufgefaßt wird« (l.c. I, 2, 466). Anhänger der WUNDTschen oder doch einer ähnlichen Apperzeptionslehre sind O. KÜLPE (Gr. d. Psych. S. 441), E. MEUMANN, HÖFFDING, JAMES, VILLA, KARL LANGE, (Üb. Apperzeption 1899), HELLPACH (Grenzwiss. d. Psych. S. 6) u. a. Eine physiologische Deutung des Apperzeptionsvorganges gibt OPPENHEIMER (Physiol. d. Gef. S. 103 ff., 115 f.), auch KROELL, der aber keine Spontaneität des Bewußtseins anerkennt, sondern eine »Reflextheorie« aufstellt (Die menschliche Seele S. 58 ff.), ferner OSTWALD (Vorles. üb. Naturphilos.2). Gegner sind VOLKMANN (Lehrb. d. Psych. II4, 193 ff.), JODL (Lehrb. d. Psych. S. 443), ZIEHEN (Leitf. d. ph. Psych.2, S. 148) und die Assoziationspsychologen überhaupt. Sie führen, wofern sie die Veränderung des Vorstellungsverlaufs durch die Aufmerksamkeit berücksichtigen, diese auf Assoziation zurück, wie z.B. JODL Zweckvorstellungen als »Assoziationszentrum« die Reproduktion leiten läßt (Lehrb. d. Psych. S. 492, 499, 505, 508, 511 f.). ZIEHEN erklärt die Erscheinungen, die man sonst der Apperzeption zuschreibt, durch die Deutlichkeit, den Gefühlston, die Energie der Assoziation, die konstellation der Vorstellungen (Leitf. d. ph. Psych. S. 174 ff., 198, 200 f.). - ZIEGLER nimmt an, das Gefühl (Interesse) sei das Agens der Apperzeption, diese sei keine Willenstätigkeit (D. Gef.2, S. 47 ff., 307). E. VON HARTMANN bestimmt die Apperzeption als absolut unbewußte psychische Funktion ohne materielle Grundlage (Mod. Psych. S. 140). Vgl. Apperzeptionspsychologie, Aufmerksamkeit.

 

 

Nachtrag: Apperzeption. BONNET erklärt: »Une perception n'étant que l'âme elle-même modifiée, elle ne peut éprouver cette perception qu'elle ne sente que c'est elle qui l'réprouve. Ce sentiment est ce que les métaphysiciens nomment conscience ou apperception« (ESS. anal. XIV, 200. vgl. MEINERS, Verm. philos. Schr. II, 34). - Nach B. ERDMANN wirkt die Apperzeptionsmasse unbewußt als »erregte Disposition« (Zur Theor. d. Appercept., Viertelj. f. w. Ph. X, 307 ff., 310 ff., 391 ff.. vgl. Wiedererkennen). Nach LIPPS ist die Apperzeption »Heraushebung des apperzipierten Gegenstandes aus dem allgemeinen psychischen Lebenszusammenhang« (Leitf. d. Psychol. S. 63 ff. Das Apperzipierte ist das Beachtete (l. c. S. 53 ff.). Nach FR. MAUTHNER heißt Apperzipieren, »unter den möglichen Eindrücken der Wirklichkeitswelt nach seinem Interesse, das heißt nach dem bisherigen Bewußtseinsinhalt einen bestimmten Eindruck für die Richtung seiner Aufmerksamkeit auswählen« (Sprachkrit. I, 512). Apperzeption ist »Bereicherung des Bewußtseinsinhalts um, einen neuen Eindruck« (l. c. S. 519). Nach STOUT ist die Apperzeption »the process by which a mental system appropriates a new element, or otherwise receives a fresh determination« (Anal. Psychol. II, 112). Nach BALDWIN ist die Apperzeption »that activity of synthesis by which mental data of any kind... are constructed into higher forms of relation and the perception of things which are related becomes the perception of relation of things« (Handb. of Psychol. I, ch. 4, p. 05). Durch die Apperzeption wird die Aufmerksamkeit auf ein Bild konzentriert. Nach FOUILLÉE ist die intellektuelle Apperzeption »la reconnaissance et la classification instantanée, avec rapport plus ou moins implicite au moi« (Psychol. d. id.-forc. I, 262 ff.. vgl. II, 215). Vgl. G. SCHILLING, Lehrb. d. Psychol. S. 95 ff.. Lindner, Psychol. d. Gesellsch.. HUSSERL, Log. Unt. II, 363. LAZARUS. Leb. d. Seele II2, 42 (s. Perzeption). DEWEY, Psychol. p. 85 ff.


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