Anschauung

Anschauung (Intuition) ist die unmittelbare (nicht durch Begriffe und Schlüsse vermittelte) Erfassung eines konkret gegebenen Objektes in dessen (räumlich-zeitlicher) Bestimmtheit. Das »Anschauen« besteht in der ruhigen Betrachtung des Objekts, in der Umspannung der Merkmale des Objekts durch die Einheit der Apperzeption. Von der »sinnlichen« unterscheidet man oft die »geistige« Anschauung (»Schauung«) als eine auf Erinnerungsbilder, Phantasiegestalten oder aber auf das eigene psychische Erleben gerichtete Bewußtseinsfunktion (»innere« Anschauung).

Daß das Denken (s. d.) der Anschauung (phantasma) bedarf, betont ARISTOTELES und mit ihm THOMAS VON AQUINO (Sum. th. I, 85, 5); nach diesem Denker ist »intuitus« die »praesentia intelligibilis ad intellectum quocumque modo« (1 sent. 3, 4, 5 c). Als Gegenstand der Anschauung im Sinne des Einzelbegriffs (»conceptus singularis«) bestimmt BAUMGARTEN das Einzelding (Acroas. Log. § 51).

KANT stellt die Anschauung dem Denken einerseits, dem bloßen Empfinden anderseits gegenüber. Die Anschauung ist ein Zustand der Rezeptivität (s. d.) des Bewußtseins (»intuitus nempe mentis nostrae semper est passivus«, De mund. sens. sct. I, § 10). Sie ist »eine Vorstellung, so wie sie unmittelbar von der Gegenwart des Gegenstandes abhängen würde« (Proleg. § 8), »diejenige Vorstellung, die vor allem Denken gegeben sein kann« (Kr. d. r. V. S. 659). Sie enthält nur die Art, »wie wir von Gegenständen affiziert werden« (l.c. S. 77), beruht auf »Affektion« (l.c. S. 88). Anschauung und Begriff sind »ganz verschiedene Vorstellungsarten«, und erstere ist nicht eine »verworrene« Erkenntnis (Fortschr. d. Met. S. 120; gegen die Leibnizianer). »Der Verstand vermag nichts anzuschauen und die Sinne vermögen nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen.« »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind« (Kr. d. r. V. S. 77). Die Anschauung muß, um Erkenntnis zu verschaffen, erst kategorial (s. d.) verarbeitet werden. Empirisch ist sie, wenn »Empfindung darin enthalten ist« (l.c. S. 76) oder wenn sie sich »auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht« (l.c. S. 48). Die reine Anschauung enthält »lediglich die Form, unter welcher etwas vorgestellt wird« (l.c. S. 76), sie ist eins mit der Anschauungsform (s. d.), die »a priori, auch ohne einen wirklichen Gegenstand der Sinne oder Empfindung als eine bloße Form der Sinnlichkeit im Gemüte stattfindet« (l.c. S. 49). Die Summe der äußeren Anschauungen bildet den äußeren, die der inneren den inneren Sinn (s. d.) (l.c. S. 50).

Nach BECK heißt anschauen »sich der Dinge selbst bewußt sein« (Lehrb. d. Log. § 1). KRUG versteht unter Anschauung im weiteren Sinne jede » sinnliche Vorstellung«, im engeren die auf das Objective gerichtete Vorstellung (Fundam. S. 166) Nach G. E. SCHULZE ist Anschauung der Zustand der Erkenntniskraft, in dem »der erkannte Gegenstand dem Bewußtsein selbst gegenwärtig ist« (Gr. d. allg. Log.3, S. 1). FRIES definiert Anschauung als »unmittelbar für sieh klare Vorstellung« (Syst. d. Log. S. 36); die reine (mathematische) Anschauung ist die, welche »ursprünglich der Selbsttätigkeit unserer Erkenntniskraft gehört« (l.c. S. 75).

J. G. FICHTE bestimmt die Anschauung als »absolutes Zusammenfassen und Übersehen eines Mannigfaltigen vom Vorstellen, welches Mannigfaltige denn auch wohl überall zugleich ein Unendliches sein dürfte« (WW. I 2, S. 7). Sie ist »stumme, bewußtlose Kontemplation, die sich im Gegenstande verliert« (Gr. d. g. W. S. 364) und erfolgt durch einen »Anstoß« auf die ins Unendliche gehende Ich-Tätigkeit, die nach innen getrieben wird und dann zurückwirkt, so daß das Angeschaute ein (unbewußt gesetztes) Product des Ich ist (l.c. S. 194). Nach SCHELLING ist die Anschauung »jene Handlung des Geistes, in welcher er aus Tätigkeit und Leiden - aus unbeschränkter und beschränkter Tätigkeit in sich selbst - ein gemeinschaftliches Produkt schafft« (Naturph. S. 311). Nach HEGEL bestimmt die Intelligenz »den Inhalt der Empfindung als außer sich Seiendes, wirft ihn in Raum und Zeit hinaus, welches die Formen sind, worin sie anschauend ist« (Encykl. § 448 f.). J. E. ERDMANN erklärt das Anschauen als Abtrennen desselben Inhalts, der als mein Zustand Gefühl war, und Hineinversetzen desselben in Raum und Zeit (Psych. Br. S. 272). Die Intelligenz ist anschauend, insofern sie sich »auf die in Zeit und Raum hinausgeworfene Totalität ihrer Bestimmtheiten bezieht« (Gr. d. Psych. § 71). Nach K. ROSENKRANZ ist der Geist anschauend als »der den Inhalt des Gefühls in seinem bestimmten Unterschied von allem andern Inhalte setzende Geist« (Syst. d. Wiss. S. 419). Von der Intellektualität der Anschauung spricht (im Gegensatz zu KANT) SCHOPENHAUER, für den sie schon ein unbewußtes Denken enthält. Sie ist »Erkenntnis der Ursache aus der Wirkung«, daher ist »alle Anschauung intellektual« (W. a. W. u. V. I. Bd., § 4). Die anschauend-denkend gesetzte Ursache wird zum Objekt (s. d.) der Anschauung. Diese ist »primäre Vorstellung«, während der Begriff »secundär« ist (l.c. Bd. II, C. 7). Die Intellektualität der Anschauung behaupten im Sinne Schopenhauers HELMHOLTZ, (Tatsach. d. Wahrn. S. 27), A. FICK (D. W. a. V. S. 5 ff.), O. LIEBMANN (Üb. d. obj. Anbl. S. 1 ff.). Nach PREYER ist die Anschauung »eine Wahrnehmung mit ihrer Ursache« (Seele d. Kind. S. 227) Nach HERBART heißt Anschauen »ein Objekt, indem es gegeben wird, als ein solches und kein anderes auffassen« (Lehrb. z. Psych. S. 204). BOLZANO nennt eine Einzelvorstellung erst dann Anschauung, »wenn für den Gegenstand derselben kein reiner, ihn allein auffassender Begriff angeblich ist« (Wiss. I, 341). Er nimmt auch »Anschauungen an sich« (die unabhängig vom erkennenden Subjekte gelten) an. Nach VlSCHER ist Anschauung »der Act der Ergreifung durch die Aufmerksamkeit, wodurch das Angeschaute in verschärften Umrissen von seiner Umgebung wie von einem Hintergrund abgehoben und dem Anschauenden zugleich Eigentum und zugleich gegenständlich klar gegenübergestellt wird« (Ästh. II, 2, 316 f.). O. CASPARI hält eine völlig »reine« Anschauung für unmöglich (Grund- u. Lebensfrag. S. 91; vgl. R. ZIMMERNANN, Anthropos. S. 23). ÜBERWEG versteht unter Anschauung »das psychische Bild der objectiven (oder doch mindestens als objektiv fingierten) Einzelexistenz.« (Log.4, § 45). VOLKMANN nennt Anschauung »jene komplexe von Empfindungen, deren Glieder die Zeit- oder Raumform angenommen haben« (Lehrb. d. Psych. II4, 115). SIMMEL: bestimmt »Anschauen« (eines Gegenstandes) als »Empfindungen in einer Art ordnen, die wir räumlich nennen« (Einl. in d. Mor. I, 5). Nach H. SPENCER ist Anschauung »jede durch einen unzerlegbaren geistigen Akt erreichte Erkenntnis« sowohl in der Wahrnehmung als auch in der Erinnerung (Psych. II, § 278, S. 11; HAMILTON beschränkt die Anschauung auf das wahrnehmende Erfassen). Nach LAZARUS ist Anschauung die »Sammlung und Einigung der. verschiedenen Empfindungen gemäß der in den Dingen verbundenen Eigenschaften« (Leb. d. Seele II2, 92). Sie ist ein psychischer Act, »die ideelle Vereinigung der inhaltlich gesonderten Empfindungen« (l.c. S. 93). Die Anschauung enthält auch reproduzierte Elemente (ib.). STEINTHAL sieht in der Anschauung nur einen »Begriff geringer Subsumtionsfähigkeit« (Einl. in d. Psych. S. 110). Nach VON HARTMANN ist Anschauung alles Positive in unseren Bewußtseinsinhalten (Kr. Grundleg. S. 149), im engeren Sinne ist sie »nur ein Begriff von niedrigerer Abstraktions- und Kombinationsstufe« (l.c. S. 151). - WUNDT nennt Anschauungen »Vorstellungen, welche sich auf einen wirklichen Gegenstand beziehen, mag dieser nun außer uns existieren oder zu unserm eigenen Körper gehören« (Gdz. d. ph. Psych. II4, 1). Die reine Anschauung ist Anschauung, sofern wir uns »einen beliebigen, übrigens völlig homogenen Inhalt vorstellen«, ein Begriff ist sie aber, »sobald sich mit dieser Vorstellung der Gedanke verbindet, daß der zur Vergegenwärtigung der Form gewählte Inhalt ein gleichgültiger sei, und daß daher statt seiner jeder andere gewählt werden könne« (Log. I2, S. 480; Syst. d. Phil.2, S. 105 ff.). Anschaulich ist »alles konkret Wirkliche, im Gegenteil zum abstrakt und begrifflich Gedachten« (Gr. d. Psych.5, S. 6). Anschaulich oder unmittelbar ist die Erkenntnisweise der Psychologie (s. d.) RIEHL: »Impressionen für sich genommen sind nicht einmal Anschauungen. Zu Anschauungen werden sie erst dadurch, daß sie Raum und Zeit bestimmen, als Teile von Raum und Zeit erscheinen« (Z. Einf. in d. Phil. S. 103). JERUSALEM erklärt: anschaulich ist, »was ich jetzt in meiner Umgebung wahrnehme, die Dinge und Vorgänge, die sich von bestimmten eigenen Erlebnissen her in der Erinnerung habe, was ich mir mit meiner Einbildungskraft jetzt so und nicht anders vorstelle« (Viertelj. f. w. Ph. Bd. 21, S. 164). »Physische Phänomene können nur diskursiv, psychische nur intuitiv erkannt werden« (Urteilsf. S. 260). Vgl. Intuition, Kontemplation.


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