Angeboren

Angeboren: ererbt, in der Natur, der Organisation, der Gesetzmäßigkeit, der Funktionsweise des Ichs, des Geistes, des Anschauens, des Denkens begründet. Angeboren können nur Anlagen, Dispositionen, nicht Erkenntnisse, Begriffe als solche sein, wie der einseitige Rationalismus (s. d.) dies zuweilen behauptet hat.

In der Lehre von den »angeborenen Ideen« finden wir zwei Richtungen, deren eine das Angeborene als etwas Positives, Konkretes, Fertiges, wenn auch der Bewußtwerdung Bedürfendes aufzufassen geneigt ist, während die andere das Angeborene mehr als Potenz, Anlage, Entwicklungstendenz bestimmt.

PLATO begründet durch seinen Begriff der Anamnese (s. d.) die Lehre von den angeborenen Wahrheiten, die nur der Erweckung durch die Erfahrung bedürfen, um bewußt zu werden. Nach ARISTOTELES sind die allgemeinsten Begriffe und Grundsätze der Potenz nach (dynamei) angeboren, d.h. im Wesen der Vernunft begründet. Die Stoiker setzen an die Stelle angeborener Ideen koinai ennoiai allen gemeinsame Begriffe, die, aus der Erfahrung entstehend, zu emphytoi prolêpseis (eingepflanzten Vorannahmen) werden. Später werden daraus »notiones innatae«, deren jede »animo quasi insculptum« ist (CICERO, De nat. deor. II, 12). Zu diesen Gemeinbegriffen, »notiones communes«, gehören die Idee der Gottheit, des Guten, der Unsterblichkeit (CICERO, De leg. I, 8, 24; Tusc. disp. I, 24, § 57). So auch bei BOËTHIUS (Cons. ph.). Zu gewissen Begriffen haben wir eben schon die Dispositionen in uns (CICERO, De fin. IV, 3; SENECA, Ep. 120, 4). Nach JUSTINUS ist der Gottesbegriff emphytos tê physei tôn anthrôpôn doxa (Apol. II, 6), sperma logou emphyton (l.c. II, 8). Ähnlich ARNOBIUS (Adv. gent. I, 33). NEMESIUS spricht von physikai ennoiai (Peri phys. 13, 203 f.). JOH. SCOTUS nimmt die Existenz angeborener Begriffe an (Div. nat. IV, 7 f.). Nach AVICENNA stammen dieselben aus der »tätigen Vernunft« (vgl. SIEBECK, G. d. Psych. I 2, 437). THOMAS: »Anima cum sit quandoque cognoscens in potentia tantum ad id quod postea actu cognoscit, impossibile est eam cognoscere corporalia per species naturaliter inditas« (Sum. th. I, 84, 3). Doch »präexistieren« »in nobis quaedam semina scientiarum..., primae conceptiones« (De ver. 11, 1). Als »ewige Wahrheiten« (s. d.) sind die Begriffe Gottes u. a. angeboren, das lehren die Scholastiker allgemein.

M. Ficinus glaubt, die Grundbegriffe seien in den Tiefen der Seele verborgen (Th. Plat. XI, 3). MELANCHTHON verteidigt gleichfalls die Lehre vom Angeborenen (De an. p. 208). CHARRON erklärt: »Les germes de toutes sciences et vertus sont naturellement esparsées et insinués en nos esprits« (De la sag. I, 14, 11). Sogar der Empirist F. BACON spricht von Idolen (Vorurteilen), welche »inhaerent naturae ipsius intellectus« (N. Org. p. 6). DESCARTES erneuert die Lehre von den angeborenen Ideen. Es sind »notiones, quas ipsimet in nobis habemus« (Princ. phil. II, 75; vgl. Medit.). Sie sind nicht als bewußte Gebilde angeboren, sondern führen den Namen »innatae«, weil sie »nec ab obiectis, nec a voluntatis determinatione procedunt, sed a sola facultate cogitandi necessitate quadam naturae ipsius mentis manant« (Opp. I, p. 185), so daß sie einen apriorischen, denknotwendigen Charakter haben. Ähnlich MALEBRANCHE (Rech. I, 4) und SPINOZA (Em. int.). FÉNELON erblickt in der angeborenen Idee »le sceau de l'ouvrier tout-puissant, qu'il a imprimé sur son ouvrage« (De l'ex. de Dieu p. 132). Angeborene (sittliche u. a.) Ideen nehmen auch CUDWORTH und H. MORE an.

LEIBNIZ nimmt nur angeborene Anlagen, ursprüngliche Functionsweisen des Geistes an, die der Erfahrung und Entwicklung bedürfen. Sobald sie aber einmal zu Begriffen und Urteilen geführt haben, müssen diese als notwendig eingesehen werden. »Ainsi j'appelle innées les vérités, qui n'ont besoin que de cette considération pour estre vérifiées,... les notions innées sont imnplicitément dans l'esprit«, d.h. der Geist hat »la faculté de les connoistre..., quand il y pense comme il faut« (Nouv. Ess. I, ch. 1, § 21). Nur »virtuellement« sind die Grundwahrheiten, z.B. die ganze Arithmetik und Geometrie, angeboren: »Dans ce sens on doit dire que toute l'arithmétique et toute la géométrie sont innées et sont en nous d'une manière virtuelle, en sorte qu'on les y peut trouver en considérant attentivement et rangeant ce qu'on a déjà dans l'esprit« (l.c. préf., I, ch. 1 ff.). »C'est ainsi que les idées et les vérités nous sont innées, comme des inclinations, des indispositions, des habitudes ou des virtualités naturelles« (ib.). Der Geist ist keine »tabula rasa« (s. d.), sondern er verhält sich, »conmme la figure tracée par les veines du marbre est dans le marbre, avant qu'on les découvre en travaillant« (l.c. § 25). Gegen LOCKE (vorher schon HOBBES, Leviath. C. 1), der den Empirismus (s. d.) vertritt, bemerkt LEIBNIZ: »Nihil est in intellectu nisi ipse intellectus« (l.c. II, ch. 2, § 2). Es kann, da die Seele kein Körper und einfach ist, nichts von außen in sie hineinkommen, sie entwickelt alle ihre Anlagen aus sich selbst (ib.). So bemerkt auch CHR. WOLF: »Weil die Seele durch ihre ihr eigentümliche Kraft die Empfindungen hervorbringet, so kommen die Bilder und Begriffe der körperlichen Dinge nicht von außen hinein, sondern die Seele hat sie in der Tat schon in sich, nicht wirklich, sondern bloß dem Vermögen nach, und entwickelt sie nur gleichsam in einer mit dem Leibe zusammenstimmenden Ordnung aus ihrem Wesen heraus« (Vern. Ged. I, § 819; ähnlich PLATNER I, § 91 ff.). VOLTAIRE: »Nous apportons, en naissant, le germe de tout ce qui développe en nous« (Phil. ign. V). LOCKE stellt die von ihm angefochtene Angeboren-Theorie so dar: »It is an established opinion amongst some men, that there are in the understanding certain innate principles; some primary notions, koinai ennoiai characters, as it were stamped upon the mind of man, which the soul receives in its very first being, and brings into the world with it« (Ess. I, ch. 2, § 1). Zu vermitteln sucht HUME: »Versteht man unter ›angeboren‹ das Ursprüngliche und von keinem vorhergehenden Eindruck Abgenommene, dann kann man sagen, daß alle unsere Eindrücke angeboren und alle unsere Vorstellungen nicht angeboren sind« (Inqu. III, Anm.). Gegen die angeborenen Ideen polemisiert HOLBACH (Syst. I, ch. 10). Die schottische Schule hingegen behauptet die Ursprünglichkeit von Axiomen, »self-evident truths«, die im »common sense« (s. d.) begründet sind (vgl. D. STEWART, Phil. Ess. p. 103, REID u. a.).

KANT verwirft die Annahme angeborener Erkenntnisse oder Begriffe und setzt statt derselben ursprüngliche, in und mit dem Intellekte gegebene Funktionen der Verarbeitung des Erfahrungsstoffes durch die Einheit des Ichs. Das A priori (s. d.) hat an und für sich mit dem »Angeboren« nichts zu tun, jenes ist logisch, dieses psychophysisch. Doch setzt KANT zuweilen beide Begriffe zueinander in Beziehung. »Wir werden also die reinen Begriffe bis zu ihren ersten Anlagen und Keimen im menschlichen Verstande verfolgen, in denen sie vorbereitet liegen, bis sie endlich, bei Gelegenheit der Erfahrung entwickelt und durch eben denselben Verstand von den ihnen anhängenden empirischen Bedingungen befreiet, in ihrer Lauterkeit dargestellt werden« (Kr. d. r. V. S. 86 f.). »Die Kritik erlaubt schlechterdings keine anerschaffenen oder angeborenen Vorstellungen; alle insgesamt, sie mögen zur Anschauung oder zu Verstandesbegriffen gehören, nimmt sie als erworben an. Es gibt aber auch eine ursprüngliche Erwerbung.... Dergleichen ist, wie die Kritik behauptet, erstlich die Form der Dinge in Raum und Zeit, zweitens die synthetische Einheit des Mannigfaltigen in Begriffen; denn keine von beiden nimmt unser Erkenntnisvermögen von den Objekten, als in ihnen an sich selbst gegeben, her, sondern bringt sie aus sich selbst a priori zustande. Es muß aber doch ein Grund, dazu im Subjekte sein, der es möglich macht, daß die gedachten Vorstellungen so und nicht anders entstehen und noch dazu auf Objekte, die noch nicht gegeben sind, bezogen werden können, und dieser Grund wenigstens ist angeboren« (Üb. e. Entdeck. 1. Ab., S. 43). Nur der »erste formale Grund« z.B. der Möglichkeit einer Raumanschauung, nicht diese selbst, ist angeboren (l.c. S. 44).

Nach S. MAIMON sind die Verstandesbegriffe dem Denken angeboren, werden aber erst durch die Erfahrung bewußt (Vers. üb. d. Tr. S. 44). Angeboren = ursprünglich sind nach JACOBI die Begriffe der Einheit, Vielheit, des Tuns, Leidens, der Ausdehnung und Succession (WW. II, 262). Nach HILLEBRAND gibt es keine angeborenen Begriffe, wohl aber eine »eigentümliche Urstimmung« des Geistes (Phil. d. Geist. I, 89 ff.). SCHELLING: »Nicht Begriffe, sondern unsere eigene Natur und ihr ganzer Mechanismus ist das uns Angeborene« (Syst. d. tr. Id. S. 317). Angeborene Ideen nimmt an CHR. KRAUSE (Grundr. § 43), so auch AHRENS (»idées fondamentales«), ferner ROSMINI SERBATI (vgl. Sein) und JOUFFROY. Ursprüngliche Anlagen, Dispositionen (s. d.) gibt es nach BENEKE, VON HARTMANN u. a. P. RÉE bemerkt: »In gewissem Sinne sind alle Objekte angeborene Vorstellungen des Subjekts« (Philos. S. 125). Einige führen die »angeborenen Vorstellungen« auf Vererbung zurück. So H. SPENCER, der in ihnen Niederschläge, Spuren der »Erfahrung aller Vorfahren« erblickt (Gr. d. Psych. II, § 332), CARNERI, nach dem die Fähigkeit zur Reproduction von Ideen angeboren ist (Sittl. u. Darw. S. 229), SIMMEL, L. STEIN. Letzterer erklärt: »Nihil est in intellectu - nisi functiones, quae formant intellectum« (An d. Wende d. Jahrh. S. 30). Der Streit zwischen Empirismus und Nativismus ist durch den »evolutionistischen Kritizismus« so geschlichtet, daß »der Empirismus für den Naturmenschen, der Nativismus für den Kulturmenschen gilt«. Dieser findet bereits die Dispositionen zu Vorstellungen und ihren Verbindungen als »ererbte, abgetrennte, rasch functionierende Assoziationsbahnen« vor (ib.). Angeborene Dispositionen nimmt JERUSALEM an (Lehrb. d. Psych.3, S. 31). KROELL erklärt, vor dem Reiz sei in der Hirnrinde nur eine »Functionsmöglichkeit« angeboren (Die Seele, S. 42). WUNDT verneint die Möglichkeit angeborener Vorstellungen, da diese keine Objekte, sondern Funktionen sind, die nur als Bewußtseinsvorgänge wirklich bestehen (Grdz. d. ph. Psych. II3, 234). - Der psychologische Nativismus (s. d.) lehrt das Angeborensein der Raumanschauung (s. d.). Vgl. A priori, Disposition.


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