Zweites Kapitel.
[Unwissenheit]
Was aus Unwissenheit geschieht, ist zwar alles nicht freiwillig getan, aber für unfreiwillig können doch nur diejenigen Handlungen gelten, denen Schmerz und Reue folgt. Wer etwas aus Unwissenheit getan hat, aber über die Handlung kein Mißfallen empfindet, hat zwar nicht freiwillig in dem gehandelt, was er ja nicht wußte, aber auch nicht unfreiwillig, da er keine Betrübnis darüber fühlt. Wer also das aus Unwissenheit Getane bereut, erscheint als jemand, der unfreiwillig gehandelt hat, wer es aber nicht bereut – dies soll nämlich ein Anderes sein –, als jemand, der nicht freiwillig gehandelt hat. Denn da er sich von jenem unterscheidet, so erhält er besser eine besondere Bezeichnung.
Es ist auch gewiß nicht das nämliche, ob man etwas aus Unwissenheit tut oder ohne es zu wissen. Wer betrunken oder zornig aufgeregt ist, handelt sicher nicht aus Unwissenheit, sondern aus einer dieser beiden Ursachen, aber nicht mit Wissen, sondern ohne Wissen. Aber nun weiß auch jeder Bösewicht nicht, was er tun und was er meiden soll, und eben dieser Mangel ist es, durch den der Mensch ungerecht und überhaupt schlecht wird.
Endlich darf da von unfreiwillig keine Rede sein, wo man nicht weiß, was einem frommt. Freigewollte Unwissenheit ist keine Ursache des Unfreiwilligen, sondern der Schlechtigkeit; auch nicht die Unkenntnis der allgemeinen sittlichen Vorschriften – denn gerade ihretwegen erfährt man Tadel –, sondern die Unkenntnis des Einzelnen, in dem und um das sich das Handeln bewegt. (1111a) Hier findet ja auch Mitleid und Verzeihung statt. Denn wer ein Einzelnes nicht weiß, handelt unfreiwillig.
Es ist nun wohl nicht unpassend, anzugeben, welche und wie viele Einzelheiten überhaupt bei einer Handlung in Betracht kommen können. Es fragt sich da also, wer etwas tut, und was er tut und in bezug auf was oder an wem, oft auch, womit, ob z. B. mit einem Werkzeug, und weshalb, ob z. B. der Rettung halber, und wie, z. B. ob gelinde oder intensiv. Über alles dieses zusammen kann nun niemand, der kein Narr ist, sich in Unwissenheit befinden, selbstverständlich auch nicht über die Person des Handelnden; denn wer kännte sich nicht selbst? dagegen wohl über das, was man tut, wie man z. B. sagt, es sei einem in der Rede ein Wort versehentlich entfallen, oder man habe nicht gewußt, dass es ein Geheimnis war, wie es dem Äschylus mit den Mysterien ging, oder man habe etwas zeigen wollen, eine Wurfmaschine z. B., und sie sei losgegangen. Man kann auch seinen Sohn für einen Feind halten wie die Merope, oder meinen, eine Lanze, die in Wirklichkeit spitz ist, sei vorn abgerundet, oder ein Stein sei ein Bimsstein. Es kann auch vorkommen, dass man zu seiner Verteidigung einen Schlag führt und damit den Gegner tödtet, oder dass man einem einen Hieb, wie ihn die Faustkämpfer führen, weisen will und ihn dabei niederstreckt.
Da es also in bezug auf alle diese Umstände der Handlung eine Unwissenheit geben kann, so scheint derjenige, der einen dieser Umstände nicht gekannt hat, unfreiwillig gehandelt zu haben, und dies um so mehr, je wichtiger die betreffenden Umstände sind. Als die wichtigsten erscheinen aber der Gegenstand und der Zweck der Handlung. Soll man indessen von jemanden wegen solcher Unwissenheit sagen können, dass er unfreiwillig gehandelt hat, so muß er auch über die Handlung Schmerz und Reue empfinden.