Dreizehntes Kapitel.
[Praktische Bedeutung der Klugheit und Weisheit]
Man könnte aber betreffs ihrer fragen, zu was sie nütze sind. Denn die Weisheit betrachtet nichts, wodurch der Mensch glücklich werden kann – sie hat es ja mit keinem Werden zu tun –, die Klugheit aber tut das zwar, aber wozu bedarf es ihrer? Sie lehrt uns zwar das Gerechte, sittlich Gute und dem Menschen Ersprießliche – das heißt eben das, was der tugendhafte Mann zu tun hat –, aber wegen des Wissens, das wir davon haben, sind wir um nichts tätiger, wenn anders die Tugenden Fertigkeiten sind, wie auch nicht wegen des Wissens von der Gesundheit und Kraft, so lange es sich nämlich um Dinge fragt, die kein bloßes Tun bedeuten, sondern die Äußerung eines Habitus. Wir sind ja darum, weil wir die Heilkunde und die gymnastische Methode inne haben, noch um nichts tätiger.
Wollte man aber sagen, die Klugheit sei nicht dafür da, um die Tugenden besser zu äußern, sondern um tugendhaft zu werden, so wäre sie dem, der tugendhaft ist, zu nichts nütze; aber auch dem nicht, der die Tugend nicht hat. Denn ob einer die Klugheit selbst besitzt oder Anderen, die sie besitzen, Folge leistet, möchte nichts austragen. Das letztere könnte uns genügen, wie es ja auch bezüglich der Gesundheit der Fall ist. Wir wollen alle gesund sein und studieren darum doch nicht alle Medizin.
Zudem scheint es ungereimt, wenn sie (die Klugheit), die doch geringer ist als die Weisheit, wichtiger und maßgebender sein soll als sie. Denn die hervorbringende Tugend herrscht und befiehlt in allen Dingen.
Hierüber also müssen wir uns erklären. Denn bis jetzt haben wir nur Fragen und Bedenken aufgeworfen.
(1144a) Wir sagen also zuerst, dass diese beiden Tugenden, selbst wenn keine von ihnen etwas hervorbrächte, doch notwendig an und für sich begehrenswert wären, insofern jede von ihnen die Tugend und Vollkommenheit eines anderen Seelenteils ist.
Sodann bringen sie aber auch wirklich etwas hervor; aber nicht wie die Medizin, sondern wie die Gesundheit die Gesundheit hervorbringt, so die Weisheit die Glückseligkeit. Denn als Teil der ganzen Tugend macht sie durch ihren Besitz und ihre Tätigkeit glücklich.
Ferner kommen die menschlichen Handlungen unter dem maßgebenden Einflusse der Klugheit und der sittlichen Tugend zu stande. Die Tugend macht, dass man sich das rechte Ziel setzt, die Klugheit, dass man die rechten Mittel dazu wählt. Der vierte Seelenteil, der vegetative, hat keine solche Tugend, weil es nicht bei ihm steht, zu handeln oder nicht zu handeln.
Was aber den Einwand angeht, dass niemand wegen der Klugheit in höherem Grade sittliche und gerechte Handlungen verrichte, so müssen wir zu seiner Entkräftung etwas weiter zurückgreifen und von folgendem ausgehen. Manche Personen, die gerechte Handlungen vollbringen, nennen wir darum noch nicht gerecht, solche z. B. nicht, die die gesetzlichen Vorschriften unfreiwillig oder unwissentlich oder aus sonst einem Grunde, nicht aber wegen der Vorschriften selbst beobachten, ob sie gleich das tun, was sie sollen und dem Tugendhaften die Pflicht auferlegt. Ebenso nun, scheints, gibt es auch eine bestimmte Verfassung, die erst jegliches so zur Ausführung gelangen läßt, dass es wahrhaft gut ist, ich meine ein Handeln aus freier Willenswahl und um der tugendhaften Handlung selbst willen. Dass nun die Willenswahl die rechte sei, ist das Werk der Tugend, dass aber alles das geschehe, was von Natur zur Erreichung des von der Tugend gewählten Zieles dient, ist nicht das Werk der Tugend, sondern eines anderen Vermögens. Wir müssen uns das noch deutlicher zum Verständnis bringen und noch etwas ausführlicher davon reden.
Es gibt ein Vermögen, das man als Geschicklichkeit bezeichnet. Der Geschicklichkeit ist es eigen, dass sie das, was zum vorgesetzten Ziele führt, zu tun versteht und zu treffen weiß. Ist nun das Ziel gut, so ist sie löblich; ist es schlecht, so ist sie Schlauheit und Durchtriebenheit. Daher nennen wir die Klugen wie die Schlauen geschickt. Die Klugheit ist nicht die Geschicklichkeit, aber sie ist nicht ohne dieses Vermögen. Die Entfaltung zum Habitus aber wird diesem Auge der Seele nicht ohne Tugend zuteil, wie wir gesagt haben und auch leicht einzusehen ist. Denn die Schlüsse, die dem Handeln als Prinzip vorangehen, lauten: »Weil das und das das Ziel und das Beste ist – was es ist, ist gleichgültig; als Beispiel diene das erste Beste –, so...« Dieses Ziel aber offenbart sich nur dem Tugendhaften. Denn die Schlechtigkeit verkehrt das Urteil der Vernunft und führt hinsichtlich der Prinzipien des Handelns in die Irre, und so ist es offenbar unmöglich klug zu sein, ohne tugendhaft zu sein.
(1144b) Wenden wir nun wieder der Tugend unser Augenmerk zu. Auch sie verhält sich zur Geschicklichkeit ähnlich wie die Klugheit: ohne mit ihr eins zu sein, ist sie ihr doch ähnlich. Ebenso verhält sich die natürliche Tugend zu der Tugend im eigentlichen Sinne. Denn jedermann scheint die einzelnen Charaktereigenschaften, die er hat, gewissermaßen von Natur zu besitzen. Die Eigenschaften der Gerechtigkeit, der Mäßigkeit, des Mutes und so weiter haben wir gleich von Geburt an, und dennoch fordern wir, dass das eigentliche Gute noch etwas anderes sei, und dass der Mensch solche Eigenschaften noch auf eine andere Weise besitze. Denn die natürlichen Dispositionen sind auch Kindern und Tieren eigen; da sie aber bei ihnen ohne das Geleite des Verstandes erscheinen, so richten sie leicht auch Schaden an. Jedenfalls ist, scheints, soviel ersichtlich, dass wie es einem starken Körper, der sich ohne Sehkraft bewegt, begegnen kann, dass er stark anstößt, weil ihm das Gesicht fehlt, es sich ebenso auch hier verhält. Wenn aber zu einem solchen Körper der Verstand hinzutritt, so leistet er Ausgezeichnetes. Der Habitus aber wird dann eigentliche Tugend, da er bis dahin ihr nur ähnlich war. Wie es also in dem meinenden und theoretisch urteilenden Seelenteil zwei Arten von Prinzipien des Handelns gibt, die Geschicklichkeit und die Klugheit, so gibt es auch im appetitiven und ethischen Teil ihrer zwei, die eine ist natürliche, die andere die eigentliche Tugend, und von diesen entwickelt die eigentliche sich nicht ohne Klugheit.
Daher begegnet man hier und da der Behauptung, alle Tugenden seine ebensoviele Arten der Klugheit, und die sokratische Forschung hatte mit dieser Ansicht teils Recht, teils war sie im Irrtum. Darin dass Sokrates die Tugenden insgesamt für besondere Arten der Klugheit ansah, irrte er; dass er sie aber als untrennbar von der Klugheit dachte, darin urteilte er durchaus zutreffend. Ein Zeichen dafür liegt darin: heutzutage unterläßt niemand, der die Tugend definieren will, bei dem Moment des Habitus, das er einsetzt, dessen Richtung anzugeben, dass dieselbe nämlich der rechten Vernunft entspricht; die rechte Vernunft aber ist die der Klugheit gemäße. Jedermann scheint also gleichsam zu ahnen, dass die Tugend ein solcher Habitus ist, der der Klugheit gemäß ist. Man muß aber noch einen kleinen Schritt weiter gehen. Nicht der Habitus, der bloß der rechten Vernunft gemäß ist, ist Tugend, sondern der mit der rechten Vernunft verbundene Habitus ist es. Rechte Vernunft aber ist eben die Klugheit in diesen Dingen. Sokrates meinte also, die Tugenden seien je besondere Äußerungen der Vernunft – sie sollten ja insgesamt Wissenschaften sein –, wir dagegen sagen, sie seien mit der Vernunft verbunden. So erhellt denn aus dem Gesagten, dass man nicht im eigentlichen Sinne tugendhaft sein kann ohne Klugheit, noch klug ohne die sittliche Tugend.
Hiermit ist auch der Grund widerlegt, auf den hin man die Tugenden für getrennt von einander erklären könnte, da nicht eine und dieselbe Person von Natur zu allen Tugenden die gleichen glücklichen Anlagen hat und sie so schon im Besitze der einen sein kann, ohne auch die andere erlangt zu haben. Dies ist nämlich zwar in Ansehung der natürlichen Tugenden möglich, aber nicht in Ansehung derjenigen Tugenden, auf grund deren man schlechthin tugendhaft heißt: (1145a) diese werden mit der einen Klugheit sämtlich vorhanden sein.
Aber auch wenn die Klugheit zum Handeln nichts beitrüge, bedürfte man ihrer offenbar doch, weil sie die Vollkommenheit eines Seelenvermögens ist, und weil die Willenswahl ohne Klugheit und ohne Tugend nicht recht geraten kann. Diese läßt uns das Ziel bestimmen, jene die Mittel dazu gebrauchen.
Dennoch steht die Klugheit nicht über der Weisheit, noch ist sie Eigenschaft eines höheren Vermögens. Die Heilkunde steht ja auch nicht über der Gesundheit. Denn sie bedient sich derselben nicht, sondern ist darauf bedacht sie herzustellen. Sie gibt also ihre Vorschriften nicht ihr, sondern ihretwegen. Auch könnte man ebensogut sagen, die Staatskunst herrsche über die Götter, weil sie für alles im Staate (mit Einschluß des Kultus) ihre Anordnungen trifft.