Zehntes Kapitel.
[Zahl der Freunde]
Soll man sich also möglichst viele Freunde machen, oder hat das, was für das Gastverhältnis wohl mit Recht empfohlen wird: »weder bei vielen Gast noch bei niemanden«, auch bei der Freundschaft seine Richtigkeit, so dass man also weder gar keine Freunde noch übermäßig viele haben soll? Bei den Freunden, die man des Nutzens wegen hat, dürfte das Gesagte nur zu sehr angebracht sein. Denn vielen Freunden Gegendienste zu leisten ist beschwerlich, und es zu vollbringen, ist das Leben nicht lang genug. Daher sind mehr Freunde, als für das eigene Leben genügen, überflüssig und der Ausübung der Tugend hinderlich, und so bedarf man ihrer nicht. Auch der Freunde, die man um der Lust willen hat, braucht man nur wenige, wie auch bei der Speise wenig Gewürz hinreicht.
Was aber die Tugendhaften betrifft, so kann man wirklich im Zweifel sein, ob man sich deren eine möglichst große Menge zu Freunden machen soll, oder ob es auch für die Zahl der Freunde eine Grenze gibt, so gut wie für die der Bürger einer Stadt. Es können ja so wenig zehn Bürger schon eine Stadtgemeinde bilden, als hunderttausend noch als Stadtgemeinde gelten. Die Anzahl kann hier vielleicht durch keine festen Ziffern ausgedrückt werden, sondern jede Zahl möchte zulässig sein, die zwischen zwei bestimmte Grenzen fällt. (1171a) So ist auch die Zahl der Freunde begrenzt, und ihr Maximum wird sich wohl danach bestimmen, mit wie vielen man zusammenleben kann. Hierin schien uns ja die Freundschaft recht eigentlich zum Ausdruck zu kommen; es ist aber offenbar ein Ding der Unmöglichkeit, mit vielen zusammen zu leben und sich unter sie zu teilen.
Ferner müßten die vielen Freunde wieder untereinander Freunde sein, wenn alle miteinander leben sollen, was sich schwerlich bei vielen findet.
Endlich ist es schwer, mit vielen Freud und Leid persönlich zu teilen; denn es könnte sich leicht gleichzeitig treffen, dass man mit dem einen froh und mit dem anderen traurig sein müßte.
Es dürfte sich also empfehlen, dass man nicht darauf aus ist, möglichst viele Freunde zu erwerben, sondern nur so viele, als zum gemeinsamen Leben genügen. Es ist ja auch allem Anscheine nach nicht möglich, mit vielen innig befreundet zu sein. Eben darum kann man auch nicht in mehrere verliebt sein. Denn eine solche Verliebtheit will ein Übermaß der Freundschaft sein, das nur gegen einen möglich ist, und so ist auch eine innige Freundschaft nur mit wenigen möglich.
So scheint es sich denn auch im wirklichen Leben zu verhalten. Freunde im Sinne jener hetärischen Freundschaft, die gleichsam ein Bund fürs Leben ist, kommen nicht viele vor, und die Freundschaften, von denen die Dichter singen, haben immer nur zwischen zweien bestanden. Die viele Freunde haben und mit allen vertraut tun, sind eigentlich niemandes Freunde, sofern es nicht bloß ein Verhältnis wie zwischen Mitbürgern sein soll, und man bezeichnet ihr Verhalten als Liebedienerei. Nur im Sinne der Freundschaft unter Mitbürgern kann man ohne Liebedienerei und sogar im besten Einklang mit den Forderungen der Ehrenhaftigkeit vielen Freund sein. Dagegen ist eine Freundschaft, die den sittlichen Vorzügen und der Person selber gilt, gegen viele nicht möglich, und man muß sich schon glücklich schätzen, wenn man auch nur wenige solche Freunde findet.