Erwartung

Erwartung ist ein (durch Spannungsempfindungen und Gefühle charakterisierter) Akt der Aufmerksamkeit, der auf einen nicht actuell präsenten, in Aussieht gestellten Inhalt gerichtet ist. Im Zustande der Erwartung ist das Bewußtsein für einen (mehr oder weniger bestimmten) Reiz gleichsam eingestellt, disponiert, parat, indem die Vorstellung des Erwarteten den Aufmerksamkeitswillen beständig zur Intention motiviert. Ein Faktor der Erwartung ist die Gewohnheit (s. d.). Nach LEIBNIZ ist die Erwartung ein Erkenntnisfactor, bei den Tieren vertritt er die Vernunft (Erdm. p. 296). HUME führt auf die Erwartung des Gleichen den Begriff der Kausalität (s. d.) zurück. VOLKMANN erklärt die Erwartung als »den Zustand des Emporgetriebenwerdens einer als künftig gedachten Vorstellung gegen die sie abweisende Gegenwart« (Lehrb. d. Psychol. II4, 21). Nach NAHLOWSKY ist die Erwartung ein »formelles Gefühl« (Das Gefühlsleb. S. 95). Sie ist »die Vorwegnahme (Antizipation) eines zukünftigen Erfolges durch die demselben voraneilenden Reproduktionen« (l.c. S. 96). Man könnte sie auch als »einen dunklen, sozusagen instinctiven Analogieschluß erklären; denn es findet sich immer dabei eine gewisse, wenn auch nur halbbewußte Folgerung« (ib.). Die Hauptstadien der Erwartung sind die »Spannung« und die »Auflösung« (l.c. S. 97 ff.). Nach LAZARUS ist Erwarten » Bereitschaft zur Apperzeption« (Leb. d. Seele II2, 51). WUNDT zählt das Gefühl der Erwartung zur Richtung der spannenden, meist auch zu der der erregenden Gefühle, es pflegt mit ziemlich intensiven Spannungsempfindungen verbunden zu sein. Im Moment des Eintritts wird das Erwartungsgefühl durch das meist nur sehr kurzdauernde »Gefühl der Erfüllung«, das den Charakter eines lösenden Gefühls hat, abgelöst (Gr. d. Psychol.5, S. 260). Bei der Bildung der zeitlichen Vorstellungen (s. d.) spielt das Erwartungsgefühl eine Rolle. KÜLPE bestimmt: »Einen Reizunterschied oder einen Reiz erwarten heißt die innere Wahrnehmung eines solchen oder das ihr entsprechende Urteil vorbereiten. Diese Vorbereitung kann in sehr mannigfaltiger Weise geschehen, etwa durch eine günstige Stellung und Spannung des Sinnesapparates... oder durch zentral erregte Empfindungen, die das Erwartete anticipieren (Vorstellung des Reizes oder Reizunterschiedes), oder durch eine besondere Bereitschaft für die Anwendung des entsprechenden Urteils (inneres Vorsprechen der betreffenden Laute) u. a. Es ist klar, daß die Erwartung, wenn sie auf die der Aussage des Beobachters unterliegenden Vorgänge gerichtet ist, die E. (s. d) und U. E. (s. d) vergrößern muß. Denn sie ist eigentlich nichts anderes, als eine vorbereitende Aufmerksamkeit« (Gr. d. Psychol. S. 41). H. CORNELIUS erklärt, wir können »keinen Inhalt ohne jede Beziehung zu folgenden Erlebnissen denken; die Einordnung jedes neuen Inhaltes unter den allgemeinsten Begriff eines Erlebnisses, den wir auf Grund unserer bisherigen Erfahrungen besitzen, schließt vielmehr stets den Gedanken an noch nicht gegebene, erst zu erwartende weitere Erlebnisse mit ein« (Einl. in d. Philos. S. 251 ff.; Psychol. S. 87 ff.). Nach W. JERUSALEM ist Erwartung ein Urteil. Zugrunde liegt ihr »eine durch die gegenwärtige Constellation veranlaßte Phantasievorstellung, und diese veranlaßt uns zu dem Urteile: ›Das oder das wird jetzt geschehen‹«. Ein solches Urteil ist ein »Erwartungsurteil« (Urteilsfunkt. S. 134). Durch dasselbe wird »die durch die gegenwärtigen Wahrnehmungen geweckte Phantasievorstellung dahin gedeutet, daß wir dem wahrgenommenen Objekte eine bestimmte Tendenz, eine Willensrichtung zuschreiben«. »Jede Aussage über ein zukünftiges Geschehen ist ein Urteil über eine den gegenwärtigen Objekten innewohnende Willensrichtung. Die Zukunft wird als ein in seiner Richtung erkennbarer, aber noch nicht ausgeführter Willensimpuls der Gegenwart aufgefaßt« (l.c. S. 136). Später treten an die Stelle von Willensimpulsen Kraftrichtungen und Tendenzen (l.c. S. 137). Vgl. Objekt, Kausalität.

 


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