XIX. Warum Amor einige Göttinnen ungeneckt lässt


Venus und Amor.

 

VENUS. Wie kommt es, Amor, daß du, der du über alle übrigen Götter, über Jupitern, Neptun, Apollo, über die Rhea und mich, deine Mutter selbst, Meister geworden bist, Minerven allein unangefochten lässest und daß nur bei ihr deine Fackel ohne Feuer und dein Köcher ohne Pfeile ist?

AMOR. Ich fürchte mich vor ihr, liebe Mutter; sie hat etwas so Schreckendes und Trotziges in ihrem Blicke und sieht mir überhaupt gar zu mannhaft aus. Wenn ich mich ihr auch einmal mit gespanntem Bogen nähere und sie schüttelt nur ihren Helmbusch, so kommt mich gleich ein solches Grauen an, daß ich am ganzen Leibe zittre und Bogen und Pfeile mir aus den Händen schlüpfen.

VENUS. Ist denn Mars nicht noch fürchterlicher? Und gleichwohl hast du ihn entwaffnet und überwunden.

AMOR. Oh! der läßt mich gutwillig herankommen und ruft mir wohl selbst: Minerva hingegen beobachtet mich immer mit mißtrauischen Augen. Einsmals, da ich bei ihr vorbeiflog und ihr von ungefähr mit der Fackel zu nahe kam, stellte sie sich sogleich in Positur, und: »Wenn du mir näher kommst«, rief sie, »so jage ich dir, bei meinem Vater! die Lanze durch den Leib oder nehme dich beim Beine und schleudre dich in den Tartarus hinab oder zerreiße dich mit meinen eignen Händen in Stücken.« Dergleichen Drohungen stieß sie noch eine Menge aus; und dann macht sie immer eine so grimmige Miene und hat überdies noch einen gräßlichen Kopf mit Schlangenhaaren auf der Brust, vor dem ich mich ganz entsetzlich fürchte; denn er macht mir ein so abscheuliches Fratzengesicht, daß ich gleich davonlaufen muß, sobald ich es ansichtig werde.

VENUS. Du fürchtest dich also, wie du sagst, vor der Minerva und ihrem Medusenkopfe, du, dem Jupiter selbst mit seinem Donnerkeil nicht bange macht? Aber warum sind dir auch die Musen unverwundbar und schußfrei? Schütteln sie etwan auch ihre Helmbüsche gegen dich und halten dir Gorgonenköpfe vor die Nase?

AMOR. Vor denen habe ich Respekt, Mutter; denn sie sehen so ehrwürdig aus und haben immer was zu denken oder zu singen; ich bleibe oft bei ihnen stehen, als ob ich nicht wieder fort könnte, so sehr bezaubert mich ihr Gesang.

VENUS. Nun, so lassen wir auch diese Musen in Ruhe, weil sie doch so ehrwürdig sind; aber was ist denn die Ursache, daß du Dianen nicht verwundest?

AMOR. O der kann ich nicht einmal nachkommen, da sie beständig in den Bergen herumjagt; und dann hat sie auch schon ihre eigene Liebhaberei.

VENUS. Was für eine wäre das, mein Kind?

AMOR. Die Liebe zur Jagd, zu den Hirschen und Hirschkälbern, die sie den ganzen Tag mit solcher Hitze verfolgt, daß sie keiner andern Leidenschaft fähig ist. Denn was ihren Bruder betrifft, wiewohl er auch ein tüchtiger Bogenschütze ist –

VENUS. Ich weiß, was du sagen willst, mein Kind; den hast du ziemlich oft angeschossen!


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