Irrtum (pseudos, error) ist die Verwechselung des Falschen mit dem Wahren, irriges, unrichtiges, falsches Denken, das (und insofern es) als wahr gilt. Irrtümer beruhen auf Vorurteilen, Unvollkommenheiten der Sinne und des Gedächtnisses, Mangel an Urteilskraft und Schlußvermögen, Ungenauigkeit der Beobachtung und Reflexion, allgemein auf Übereilung, auf der Schwäche der Aufmerksamkeit und der zu geringen Energie des Denkwillens im Einzelfalle.
Psychologisch erklärt den Irrtum EPIKUR: to de pseudos kai to diêmartêmenon en tô prosdoxazomenô aei esti kata tên kinêsin en hêmin autois, synêmmenên tê phantastikê epibolê, dialêpsin d' echousan, kath' hên to pseudos ginetai (Diog. L. X, 50). - Die Scholastiker führen den Irrtum zum Teil auf die Freiheit (Übereilung) des Willens zurück, so DUNS SCOTUS, SUAREZ (Met. disp. IX, 2, 6). DESCARTES leitet den Irrtum aus der Willensfreiheit in Verbindung mit der Beschränktheit des Endlichen ab. Soweit der Mensch von Gott geschaffen ist, gibt es in ihm keinen Grund zu Irrtümern, »sed quatenus etiam quodammodo de nihilo sive de non ente participo... non adeo mirum esse, quod fallar«. Der Irrtum ist nicht »quid reale quod a Deo dependeat«, sondern ein »defectus«. Ich irre, »ex eo quod facultas verum iudicandi, quam ab illo habeo, non sit in me infinita«. Der Irrtum ist nicht »pura negatio, sed privatio, sive carentia cuiusdam cognitionis, quae in me quodammodo esse deberet«. Die Irrtümer hängen ab »a duabus causis simul concurrentibus«, »nempe a facultate cognoscendi quae in me est, et a facultate eligendi sive ab arbitrii libertate, hoc est ab intellectu et simul a voluntate«. Der Irrtum entspringt »ex hoc uno quod cum latius pateat voluntas quam intellectus, illam non intra eosdem limites contineo, sed etiam ad illa quae non intelligo extendo« (Medit. IV). Wir irren, »cum, etsi aliquid non recte percipiamus, de eo nihilominus iudicamus« (Princ. philos. I, 33). »Certum autem est, nihil nos unquam falsum pro vero admissuros, si tantum iis assensum praebeamus, quae clare et distincte percipiemus« (l.c. I, 43; vgl. I, 6, 29, 31, 35, 36, 38, 42). HOBBES erklärt: »Sensu et cogitatione erratur, quando ex praesenti imaginatione aliud imaginetur« (De corp. C. 5,1). Die Negativität des Irrtums betont SPINOZA. Der Irrtum liegt nicht in der Vorstellung, sondern im Mangel des richtigen Urteils. »Atque hic, ut quid sit error, indicare incipiam, notetis velim, mentis imaginationes in se spectatas nihil erroris continere, sive mentem ex eo, quod imaginatur, non errare: sed tantum, quatenus consideratur, carere idea, quae existentiam illarum rerum, quas sibi praesentes imaginatur, secludat« (Eth. II, prop. XVII, schol.). »Nihil in ideis positivum est, propter quod falsae dicuntur« (Eth. Il, prop. XXXIII). »Falsitas consistit in cognitionis privatione, quam ideae inadaequatae sive mutilatae et confusae involvunt« (l.c. II, prop. XXXV). PASCAL betont die Irrtumsnotwendigkeit des Menschen: »L'homme n'est... qu'un sujet plein d'erreurs; rien ne lui montre la vérité; tout l'abuse. Les deux principes de vérité, la raison et le sens, outre qu'ils manquent souvent de sincérité, s'abusent réciproquement l'un l'autre. Les sens abusent la raison par de fausses apparences... Les passions de l'âme troublent les sens et leur font des impressions fâcheuses. Ils mentent, se trompent â l'envie« (Pens. IV, 8). Nach LOCKE liegt aller Irrtum nur im Urteil (Ess. II, ch. 32, § 1; vgl. ch. 33, § 9). Der Irrtum entsteht, indem unser Urteil dem zustimmt, was nicht wahr ist. Gründe dazu sind: Mangel an Beweisen; Mangel an Geschick, Beweise zu benutzen; Mangel an Willen dazu; falsches Abmessen der Wahrscheinlichkeit (l.c. IV, ch. 20, § 1). LEIBNIZ sieht im Irrtum eine Art »Beraubung« (privatio) (vgl. Theodic. I. B., § 32). Nach CHR. WOLF ist Irrtum »ein falscher Wahn von der Wahrheit und Falschheit eines Urteils« (Vern. Ged. I, § 396). »Error est assensus propositioni falsae datus« (Philos. rational. § 623). MENDELSSOHN erklärt: »Wenn Unvermögen der oberen Seelenkräfte, Mangel des Verstandes oder der Vernunft, an der Unwahrheit schuld ist, nennen wir das Falsche in der Erkenntnis Irrtum« (Morgenst. I, 3). Nach J. EBERT besteht der Irrtum in dem »Mangel der Übereinstimmung unserer Gedanken mit den Dingen, die dadurch abgebildet werden« (Vernunftlehre S. 129 f.). FEDER erklärt: »Wir irren uns, wenn wir uns eine Sache anders vorstellen, als sie ist.« »Der Irrtum besteht also in der Verbindung dessen, was nach der Wahrheit nicht miteinander verbunden werden soll, oder in der Trennung dessen, was der Wahrheit nach beisammen ist, kurz in einem falschen Urteile« (Log. u. Met. S. 158 f.). Es gibt »unmittelbare« und »gefolgerte« Irrtümer (l.c. S. 159; Ursachen der Irrtümer: S. 160 ff.). HUME leitet den Irrtum aus der Verwechselung ähnlicher Vorstellungen untereinander ab, aus leichten Assoziationsbeziehungen (Treat. IV, sct. 2; II, sct. 5).
KANT definiert: »Das Gegenteil von der Wahrheit ist die Falschheit, welche, sofern sie für Wahrheit gehalten wird, Irrtum heißt. Bin irriges Urteil - denn Irrtum sowohl als Wahrheit ist nur im Urteile - ist also ein solches, welches den Schein der Wahrheit mit der Wahrheit selbst verwechselt« (Log. S. 76). »Der Entstehungsgrund alles Irrtums wird... einzig und allein in dem unvermerkten Einflusse der Sinnlichkeit auf den Verstand oder, genauer zu reden, auf das Urteil gesucht werden müssen. Dieser Einfluß nämlich macht, daß wir im Urteilen bloß subjektive Gründe für objektive halten und folglich den bloßen Schein der Wahrheit mit der Wahrheit selbst verwechseln« (l.c. S. 77). Zum Irrtum »verleitet uns unser eigener Hang, zu urteilen und zu entscheiden, wo wir wegen unserer Begrenztheit zu urteilen und zu entscheiden nicht vermögend sind« (l.c. S. 78). In jedem irrigen Urteile muß etwas Wahres liegen (ib.). Man irrt, »weil man dasjenige Merkmal, was man in einem Dinge nicht wahrnimmt, auch von ihm verneint und urteilt, daß dasjenige nicht sei, wessen man sich in einem Dinge nicht bewußt ist«. »Irrtümer entspringen nicht allein daher, weil man gewisse Dinge nicht weiß, sondern weil man sich zu urteilen unternimmt, ob man gleich noch nicht alles weiß, was dazu erfordert wird« (Unters. üb. d. Deutl. d. Grunds. 3, § 1-2). Nach FRIES ist Irrtum »Gesetzwidrigkeit im Fürwahrhalten«. »Aller Irrtum gehört also der wiederbeobachtenden Reflexion und nicht der unmittelbaren Erkenntnis, er liegt im Urteilen.« Jeder Irrtum beruht auf den Prämissen eines Wahrscheinlichkeitsschlusses (Syst d. Log. S. 448 ff.). G. E. SCHULZE bemerkt: »Daß... der menschliche Verstand Irrtümer für Wahrheiten nimmt, rührt daraus her, daß er sich... durch Scheingründe, d. i. solche, welche nicht aus einer Erkenntnis der Sache, worüber von ihm geurteilt wird, sondern bloß aus den besonderen Zuständen der urteilenden Person herrühren, hintergehen läßt« (Gr. d. allg. Log. S. 198). DESTUTT DE TRACY betrachtet als eine Irrtumsquelle »l'imperfection de nos souvenirs« (El. d'idéol. III, ch. 3). »Toutes nos perceptions sont originairement justes et vraies; et l'erreur s'y introduit seulement à l'instant, où nous y admettons un élément, qui y est opposé, c'est-à-dire qui les dénature et les change, sans que nous nous en apercevions« (l.c. IV, P. 17). Vgl. KRUG, Handb. d. Philos. I, 215 ff.
Nach HAGEMANN ist der Irrtum »ein falsches Urteil, welches für wahr, oder ein wahres Urteil, welches für falsch gehalten wird«. Der formelle Irrtum besteht »in einem Urteil, welches durch bloß logisch unrichtiges Denken zustande gekommen ist«. Der materielle Irrtum besteht in dem Widerspruche des Urteilsinhaltes mit dem Gegenstande (Log. u. Noet.5, S. 170 f.). Am Zustandekommen des Irrtums hat der Wille seinen Anteil. Der Wille bestimmt den Denkgeist zur Setzung eines falschen Urteils aus einem doppelten Grunde: »Entweder liegt der Grund in der Beschränktheit des Erkennens unmittelbar, sofern der durch die Schwäche der Erkenntniskräfte ermöglichte Schein des Wahren zu einem falschen Urteile verleitet, oder mittelbar, sofern zunächst der Wille von Stimmungen, Neigungen, Leidenschaften beeinflußt und dadurch das Denken zum unrichtigen Urteilen bestimmt wird« (l.c. S. 172 ff). WUNDT erklärt die Irrtumsmöglichkeit aus der Freiheit der logischen Kausalität (s. d.), welche darin besteht, »daß bei ihr aus gegebenen Bedingungen eine Folge nicht notwendig gezogen werden muß, sondern daß es unserm Denken freisteht, ob es tätig sein will oder nicht«. Der Irrtum geht so aus einer »unvollständigen Anwendung unserer Denkkraft« hervor (Log. I2, S. 625 ff.). Nach SCHUBERTSOLDERN ist der Irrtum »entweder eine in Zeichen ausgedrückte Forderung für das Denken, die unvollziehbar ist, oder eine der Vergangenheit scheinbar ganz analoge Erwartung für die Zukunft, welche diese selbst nicht bestätigt« (Gr. ein. Erk. S. 156). SCHUPPE betont: »Die Definition des Irrtums kann... nicht die sein, daß er Nichtwirkliches für Wirkliches und umgekehrt ausgebe, sondern nur die, daß er in Wahrnehmungen und Urteilen bestehe, welche den individuellen Unterschieden der einzelnen Bewußtseine..., nicht dem gattungsmäßigen Wesen angehören« (Log. S. 171). Nach NIETZSCHE sind unsere »Wahrheiten« (s. d.) nichts als eingewurzelte Irrtümer, die sich als nützlich, als arterhaltend erwiesen haben (WW. V, 110; XV, 268, 272 ff.). Die »falschesten Urteile«, z.B. die synthetischen Urteile a priori, sind uns die unentbehrlichsten. »Die Falschheit eines Urteils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urteil« (WW. VII, 1, 4). Insofern der Irrtum lebenerhaltend, den Willen zur Macht fördernd ist, ist er ebenso wertvoll, ja wertvoller als die »Wahrheit« (WW. VII, 1, 1 ff.). Vgl. Wahrheit.