Ästhetik - Spencer, Dumont, Nietzsche, Burckhard


Biologisch wird das Ästhetische auch von H. SPENCER gedeutet. Er leitet die Kunst aus dem Spiele (s. d.) ab. Eine Vorbedingung des Ästhetischen ist die Ablösung eines Gefühls von der (bewußten) Aufgabe, dem Leben unmittelbar zu dienen (Psych. § 535, S. 172), die bewußte Zwecklosigkeit liegt im Schönen (l.c. S. 715). Doch macht sich in den ästhetischen Gefühlen eine möglichst wirksame und ungehinderte Tätigkeit der Sinne und der Assoziation geltend (l.c. §. 536, S. 716 ff.). Auf den Zusammenhang der Kunst mit dem Spiele weist auch SULLY hin (Unt. üb. d. Kindh. S. 306). Die ästhetischen Genüsse bilden einen »Überschuß aber die täglichen Befriedigungen« (Handb. d. Psychol. S. 366 ff.). Nach L. DUMONT ist schön, »was in der Einheit einer und derselben Vorstellung ein Vielfältiges darstellt, so daß es einen beträchtlichen Kraftaufwand erfordert, um diese Vorstellung im Geiste zu verwirklichen« (Vergn. u. Schm. S. 205 ff.). A. LEHMANN betont, die ästhetischen Gefühle seien nicht ganz trieblos (Gefühlsleb. S. 348). »Alles, was bei der Betrachtung Lust erregt, heißt ›schön‹« (ib.). Nach R. HAMERLING hängt der ästhetische Trieb mit dem Lebenswillen und der Lebensfreude, der Freude an dem, was ist, zusammen (At. d. Will. II, 231). Ähnlich NIETZSCHE, der die Kunst als »Stimulans zum Leben« betrachtet (WW. VIII, 135). Sie lehrt »Lust am Dasein zu haben« (II, 207; vgl. ZEITLER, Nietzsches Ästhetik 1900) Ästhetik ist »eine angewandte Physiologie«. CH. DARWIN bringt das Ästhetische zum Sexuellen in Beziehung (Urspr. d. Mensch.), so auch NIETZSCHE und G. NAUMANN (Geschlecht u. Kunst 1899, S. 159), ferner W. BÖLSCHE (Liebesl. in d. Nat. 2. Folge, l901). Physiologisch begründen die Ästhetik GRANT ALLEN (Physiol. Aesthetics 1877) und G. HIRTH. - Nach W. JERUSALEM sind die ästhetischen Gefühle »eine Wirkung befriedigter oder gehemmter Funktionsbedürfnisse« (Lehrb. d. Psych.3, S. 174). Das ästhetische Genießen ist eine Art Spiel (l.c. S. 176). »Die Kunstwerke regen alle unsere seelischen Tätigkeiten an« (l.c. S. 176). Die ästhetischen Gefühle haben infolge ihres functionellen Ursprungs, wegen ihrer Begierdelosigkeit, »etwas Zartes und dabei zugleich etwas Reinigendes und Läuterndes an sich« (l.c. S. 177). Die Kunst beruht auf »Liebeswerbung« des Künstlers für das von ihm Dargestellte (Einf. in d. Philos.)

Kulturgeschichtlich-ethnologisch wird die Kunst betrachtet von GROSSE (Anfänge d. Kunst), der auch die soziale Bedeutung der Kunst betont (l.c. S.299 ff.; der tiefste Grund und Wert der Kunst besteht in der Betätigung und in dem Genusse der Freiheit Kunstwiss. Studien 1900, S. 15), sowie von YRJÖ HIRN (Origins of art 1900) und K. BÜCHNER (Arb. u. Rhythmus), der die gesellige Arbeit als Auslöserin rhythmischer, ästhetischer Funktionen betrachtet.

Die soziale Bedingtheit der Kunst betont (vorher schon u. a. DUBOS, PROUDHON, Du principe de l'art.., 1865) H. TAINE durch seine Theorie vom »Milieu«. »L'oeuvre d'art est déterminée par un ensemble qui est l'état général de l'esprit et des moeurs environnantes« (Phil. de l'art 1865, p. 17, 22, 98). Der Zweck des Kunstwerkes ist, einen wesentlichen Charakter, eine Idee deutlicher und vollständiger darzutun, als es die wirklichen Objekte tun (vgl. ZEITLER, Die Kunstphilos. von Hipp. Ad. Taine 1901). Die sociale Function der Kunst betonen u. a. besonders GUYAU (L'art au point de vue sociologique, 1888), er ist gegen »l'art pour l'art«. Durch die Kunst wird die sociale Solidarität und Sympathie erweckt und gesteigert (l.c. p. 15 u. ff.). »Le but le plus haut de l'art est de produire une émotion esthétique d'un caractère social« (l.c. p. 21). Ähnlich TARDE, G. SÉAILLES (Ess. sur le genre dans l'art2, 1897). Gegner dieser Auffassung ist u. a. RENOVIER (La théorie esthétique du jeu, Critique philos. 1885). Er vertritt die Kantsche Theorie (Nouv. Monadol. p. 312 ff.). M. BURCKHARD: »Einmal beeinflussen die sozialen Bestrebungen den gegenständlichen Inhalt der Kunst, und diese wirkt dann durch die künstlerische Gestaltung der durch sie propagierten Ideen fordernd auf die sociale Bewegung selbst zurück; dann aber hat die Kunst durch das ihr innewohnende formale Moment... einen mächtigen Einfluß auf die gesellschaftliche Entwicklung« (Ästh. u. Sozialwiss. 1895, S. 4 f.). Der Schönheitssinn »entsprang aus den Eindrücken, welche einerseits gewisse für die Entwicklung der Gattung förderliche Körpereigenschaften auf die Individuen dieser Gattung, anderseits die Erscheinungen der umgebenden Natur auf die inneren Stimmungen, insbesondere auf das ganze Liebesleben üben« (l.c. S. 11). Erst war das im Kampf ums Dasein Nützliche angenehm, schön, später gefiel das Schöne um seiner selbst willen (l.c. S. 70 f.). Eine reiche historische Zusammenstellung der Lehren von der Beziehung zwischen Kunst und Moral gibt E. REICH (Kunst u. Moral 1901), der die sociale Bedingtheit und Wirksamkeit der Kunst scharf betont. Zur Geschichte der Ästhetik vgl. R. ZIMMERMANN, Gesch. d. Ästh. 1858. M. SCHASLER, Krit. Gesch. d. Ästh. 1871. LOTZE, Gesch. d. Ästh. in Deutschl. 1868. V. STEIN, Die Entsteh. d. neuern Ästh. 1886. Vgl. Erhaben, Komisch, Tragisch, Form.


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