Mythus

Mythus (mythos Rede, Erzählung) heißt die primitive, die bildlich-phantasievolle Naturauffassung als Bestandteil der Religion (s. d.). Der Mythus ist ein sozial-geistiges Gebilde, ein Produkt des Gesamtgeistes, aber modifiziert durch Persönlichkeit (Dichter, Priester u.s.w.). Im Mythus ist zugleich die primitive Metaphysik gegeben, aus dem Mythus differenzieren sich später Religion, Philosophie, Wissenschaft. Der Mythus faßt alles das, was die Philosophie abstrakt-begrifflich bestimmt, persönlich, anthropomorph, konkret-sinnlich auf. Formal ist der Mythus das Werk der »mythenbildenden Phantasie«. Die Lehre von den Mythen der Völker heißt (vergleichende) Mythologie (vgl. besonders die Werke von AD. BASTIAN, TAYLOR, LUBBOCK, H. SPENCERs Soziologie u. a.). Das Wesen des Mythus ist Objekt der Völkerpsychologie (s. d.), Soziologie (s. d.), der Kulturgeschichte und Ethnologie. Mythische Elemente finden sich noch bei Philosophen (z.B. PLATO, Neuplatoniker, Gnostiker, SCHELLING u.a.). - W. BENDER versteht unter Mythus »die Lehre von den Göttern als den Begründern, Leitern und Schutzherren der Welt«. Mythische Welterklärung ist »die geschichtlich vorliegende Form der Erkenntnis, in welcher der Mensch ursprünglich die gesamte ihn umgebende Wirklichkeit nach seinem Bild und nach seinen Bedürfnissen und Wünschen sich zurechtgelegt hat« (Mythol. u. Metaphys. I, 20). WUNDT betrachtet als Grundsfunktion, welche den mythischen Vorstellungen zugrunde liegt, die personifizierende Apperzeption (s. d.). Beim primitiven Kulturmenschen führt die Umgebung dem Einzelbewußtsein eine Fülle mythischer Vorstellungen zu, »die, auf übereinstimmende Weise ursprünglich individuell entstanden, allmählich sich in einer bestimmten Gemeinschaft befestigt haben und mittelst der Sprache von Generation zu Generation übertragen werden, wobei sie sich allmählich mit den Veränderungen der Natur- und Kulturbedingungen selber verändern«. »Für die Richtung, in der diese Veränderungen erfolgen, ist im allgemeinen die Tatsache bestimmend, daß der jeweilige Gemütszustand die besondere Art der mythologischen Apperzeption wesentlich beeinflußt« (Gr. d. Psychol.5, S. 367 f.). Die frühesten mythischen Gedankenbildungen beziehen sich auf das eigene Schicksal in der nächsten Zukunft. Erst später entsteht der Naturmythus mit persönlichen Göttervorstellungen (l.c. S. 370). Der Mythus ist das Produkt des Gesamtgeistes, der gemeinsamen Vorstellungen der sozialen Gruppe (l.c. S. 361; vgl. Eth. I2, C. 2). Vgl. L. GEORGE, Mythus u. Sage 1836; SCHELLING, Philos. d. Mythologie, WW. II, 1-2; STEINTHAL, Myth. u. Relig. 1870; FR. SCHULTZE, Psychol. d. Naturvölk. 1900. Vgl. Wissenschaft, Religion.

 

 


Vergleiche ferner:

- Mythus (Kirchner, Wörterb. d. phil. Grundbegr.)

- Mythus (Sulzer, Th. d. schönen Künste)

- Ursprung der griechischen Philosophie (Vorländer, Gesch. d. Phil.)


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Seite zuletzt aktualisiert: 14.11.2004 
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