Psychologismus (Ausdruck schon bei J. E. ERDMANN u. a.) bedeutet allgemein die Berücksichtigung der Psychologie (s. d.) als Hilfemittel und als eine Basis für die Geisteswissenschaften und Philosophie. Im engeren Sinne ist der Psychologismus die Anschauung, nach welcher alle Wirklichkeit ans Daten der Psychologie, der innern Erfahrung besteht, aufgebaut ist, zugleich der Standpunkt, daß die Geisteswissenschaften (s. d.) nebst der Philosophie (s. d.): Logik (s. d.), Ethik, Ästhetik nichts als Psychologie seien. Der (extreme) Psychologismus vergißt, daß: 1) Psychologie wohl eine Grundlage der Geisteswissenschaften und Philosophie, nicht aber schon die diesen Disziplinen wesentliche Kritik, Normatik, Wertung, Stellungnahme enthält, daß 2) das Psychologische, h. die durch psychologische Analyse und Abstraktion gewonnene geistige Realität nicht die ganze, volle, absolute, einheitlich-zusammenhängende, lebendigschöpferische geistige Wirklichkeit ist, wie sie sich erst vom philosophischen Standpunkte ergibt (ohne deshalb mit MÜNSTERBERG u. a. einen Dualismus zwischen Psychologie und Geisteswissenschaft statuieren zu müssen). Im einzelnen gibt es: metaphysischen (ontologischen), erkenntnistheoretischen, logischen, ethischen, ästhetischen, soziologischen, religionsphilosophischen Psychologismus.
Einen Psychologismus im weiteren oder doch gemäßigten Sinne vertreten (s. Philosophie): FRIES, CHR. WEISS, BENEKE, V. COUSIN (Du vrai p. 3), JOUFFROY, FOUILLÉE, LACHELIER, HÖFFDING (Psychologie als Grundlage der Geisteswissenschaften: Psychol.2, S. 35), WUNDT (s. Psychologie), JODL u. a., mit noch stärkerer Betonung LIPPS (vgl. Psycholog. Wissensch. u. Leb. 1901), F. BRENTANO und seine Schule (HÖFLER, MARTY, MEINONG u. a.). Besonders aber (auch im ontologischen Sinne) BERKELEY, HUME, J. ST. MILL (S. Objekt), H. CORNELIUS, nach welchem die Psychologie »das einzig mögliche Fundament aller Philosophie« ist (Psychol. S. 71), E. MACH (s. Empfindung) u. a. In der Logik (s. d.) sind psychologistisch J. ST. MILL, FOWLER (Logic, 1895, I, 1), SCHUPPE (Arch. f. system. Philos. VII, 1901, S. 1 ff.), ELSENHANS (Zeitschr. f. Philos. 109. Bd., 1896, S. 195 ff.). Dagegen REHMKE (l. c. 1894, S. 118 ff.), UPHUES, PALÁGYI u. a. (s. Logik).
Gegner des erkenntnistheoretischen Psychologismus ist KANT. Nicht die psychologische Analyse, sondern die Kritik, die Beurteilung des Erkennens hinsichtlich der Erkenntnismöglichkeit stellt er sich zur Aufgabe (s. Kritik). Die psychologische Erklärung eines Urteils ist etwas anderes als die »Rechtfertigung« desselben (Üb. Philos. überh. S. 167). Ähnlich die Kantianer (s. d. u. A priori. vgl. aber dort F. A. LANGE u. a.). - G. E. SCHULZE bemerkt: »Die Überzeugung von den obersten Grundsätzen in den Wissenschaften und den Urwahrheiten für die gesamte menschliche Erkenntnis erfordert... keine Einsicht vom Ursprunge dieser in unserem Geiste« (Üb. d. menschl. Erk. S. 214). Gegen den Psychologismus wendet sich u. a. G. W. GERLACH. Nach ihm ist die Psychologie nicht die Grundwissenschaft der Philosophie. »Die empirische Psychologie hat... einen wesentlich weitern Umfang als diejenige Lehre, der es lediglich um die begriffsmäßige Fassung der Quelle des Allgemeingültigen zu tun ist. sie würde mithin auch für den eigentlichen Zweck der Philosophie eine viel zu breite und unsichere Unterlage abgeben« (Die Hauptmom. d. Philos. S. 51 f.). - Gegen den idealistischen »Psychologismus« von ROSMINI, nach welchem der Philosoph zuerst sein eigenes denkendes Selbst zum Objekte machen muß (Nuovo saggio § 1465 ff.) richtet sich der »Ontologismus« (s. d.) GIOBERTIS. - Nach HARMS hat die alte, objektive Philosophie »einen nicht geringen Vorzug vor der modernen Philosophie, welche von einer blos subiectiven oder psychologischen Auffassung des Problems der Wissenschaften ausgeht, indem sie das Phänomen des bloßen Vorstellens, welches ein Residuum eines kritiklosen Skepticismus ist, der sich selber in leeren Abstraktionen nicht genug tun kann, zum Problem aller Wissenschaft macht« (Psychol. S. 66). WINDELBAND betont: »Für die Psychologie mag es von Interesse sein, festzustellen, ob eine Vorstellung auf dem einen oder dem anderen Wege zustande gekommen ist: für die Erkenntnistheorie handelt es sich nur darum, ob die Vorstellung gelten, d.h. Ob sie als wahr anerkannt werden soll« (Prälud. S. 23). Nach H. COHEN setzt die Psychologie schon die Erkenntnistheorie voraus (Princ. d. Infinit. S. 4 f.). Die Erkenntniskritik untersucht nicht die Bewußtseinstätigkeit beim Erkennen, sondern die Voraussetzungen wissenschaftlicher Erkenntnis. So auch NATORP. Gegen die Basierung der Geisteswissenschaften auf Psychologie (s. d.) sind besonders H. RICKERT (s. Naturwissenschaft) und MÜNSTERBERG. Er ist gegen den Psychologismus, der keine andere Wirklichkeit anerkennt als physische und psychische Objekte (Grdz. d. Psychol. I, 13). Die Wirklichkeit ist mehr als ein System von physischen und psychischen Vorgängen, »sie ist zugleich ein System von Absichten und Zwecken, deren psychologische Erfahrbarkeit für die Feststellungen der Geschichts- und Normwissenschaften nicht das Wesentliche ist« (l. c. s. 14). Die Geisteswissenschaften sind scharf von der Psychologie (s. d.) zu trennen, denn diese betrachtet das objektivierte Subjekt, jene aber gehen auf das stellungnehmende, wertende, ganze Subjekt (l. c. S. 15 ff.). Die Psychologie ist nicht Basis, nur Hülfsdisciplin der Geisteswissenschaften (l. c. S. 19. Psychol. and Life). L. W. STERN anerkennt zwar nicht den schroffen Dualismus zwischen Psychologie und Geisteswissenschaften (Beitr. zur Psychol. d. Auss. 1. H., S. 11), erklärt sich aber doch gegen den Psychologismus im extremeren Sinne (ib.). »Dem Psychologismus liegt die unzutreffende Voraussetzung zugrunde, daß Psychologie nichts anderes zu tun habe, als die geistige Wirklichkeit zu nehmen und zu beschreiben, wie sie ist. Jede Wissenschaft, und so auch diese, ist Bearbeitung der Wirklichkeit unter bestimmten Gesichtspunkte und unter bewußter Abstraktion von anderen Gesichtspunkten. Die Gesichtspunkte aber, unter denen die Psychologie die Seele erfaßt, sind die der indifferenten sachlichen Objektivation, der Analyse und der Allgemeingültigkeit. und die Gesichtspunkte, von denen sie abstrahiert, sind die des persönlichen Wertes und Wertens, der persönlichen Einheit und der persönlichen Individualität. Und darum kann Psychologie nicht die zureichende Grundlage für diejenigen Sphären der Kultur sein, in denen geistiges Dasein nicht als Sache unter Sachen, sondern als Person unter Personen von Bedeutung ist« (l. c. S. 11 ff.). Gegen den Psychologismus, welcher verkennt, daß in dem scheinbar »Gegebenen«, auch wenn es psychischer Art ist, schon ein Erzeugnis des Bewußtseins vorliegt, erklärt sich P. STERN (Grundprobl. d. Philos. I, S. 66 ff., 71 ff.). Gegen den logischen und ontologischen Psychologismus (s. Logik, Impressionismus) ist M. PALÁGYI (Log. auf d. Scheidewege S. 72 ff.). - DILTHEY hält die atomistische (s. d.) Psychologie nicht als Grundlage der Geisteswissenschaften geeignet, wohl aber eine descriptive Psychologie (s. d.), »welche Tatsachen und Gleichförmigkeiten an Tatsachen feststellt« (Einleit. in d. Geisteswissensch. S. 40 f.). Eine solche Psychologie ist die erste und elementarste unter den Geisteswissenschaften (l. c. S. 41). »Aber ihre Wahrheiten enthalten nur einen aus dieser Wirklichkeit ausgelösten Teilinhalt« (ib., vgl. Ideen üb. eine beschreib. u. zerglied. Psychol.). Vgl. K. HEIM, Psychologismus oder Antipsychologismus? - Vgl. Logik, Psychologie, Erkenntnistheorie. Psychometrie s. Psychophysik.