Wahrscheinlichkeit

Wahrscheinlichkeit (eikasia, probabilitas, verisimile) ist ein Grad von »Gewißheit« (s. d.), beruhend auf starken, überwiegenden Motiven zu Urteilen, so aber, daß diesen Motiven immerhin noch andere gegenüberstehen, die berücksichtigt werden wollen oder sollen. was, auf eine Reihe von Gründen gestützt, das Denken als wahr, wirklich anzunehmen, zu erwarten sich berechtigt weiß, ohne, wegen der Lücken in der Erfahrung und im Schließen, absolut stichhaltige Gründe, stringente Beweise zu haben. Je nach der Art und Menge der Gründe oder der Instanzen, auf die sich das Wahrscheinlichkeitsurteil und der Wahrscheinlichkeitsschluß stützt, gibt es verschiedene Grade der Wahrscheinlichkeit (s. Induktion).

Nach PLATO gibt die bloße Wahrnehmung nicht Wahrheit, nur Wahrscheinlichkeit (Tim. 78 squ.). Nach ARISTOTELES ist endoxon, was allen oder den meisten, Angesehensten als wahr erscheint (Top. I, 1 squ.. s. Dialektik). - ARKESILAUS gibt (gegenüber dem extremen Skeptizismus) die Möglichkeit der Erkenntnis des Wahrscheinlichen (eulogon) zu, welches besonders für das Handeln maßgebend sein muß (Sext. Empir. adv. Math. VII, 158 squ.). Eine Wahrscheinlichkeitstheorie gibt KARNEADES. Nach ihm gibt es drei Grade der Wahrscheinlichkeit (pithanotês, emphasis): Die Vorstellung (phantasia) ist entweder schlechthin pithanê, oder sie ist im Zusammenhange mit anderen Vorstellungen, Meinungen wahrscheinlich, widerspruchslos (pithanê kai aperistastos) oder sie ist zugleich durchaus erhärtet (pithanê kai aperistastos kai periôdeumenê) (Sext. Empir. adv. Math. VII, 166).

MICRAELIUS bestimmt: »Verisimile est quod raro fit, sed tamen persuasum est ut plurimum fieri. Vel est quod caret quidem sufficiente demonstratione, putatur tamen verum esse, licet non certo sciatur esse verum« (Lex. philos. p. 1093). - LÖCKE erklärt: »Der Beweis ist ein Darlegen der Übereinstimmung oder des Gegensatzes zweier Vorstellungen verinittelst eines oder mehrerer Gründe, die eine gleichmäßige, unveränderliche und sichtbare Verbindung miteinander haben. die Wahrscheinlichkeit ist dagegen bloß der Schein einer solchen Übereinstimmung oder Nicht - Übereinstimmung vermittelst Gründen, deren Verbindung nicht fest und unveränderlich ist oder wo dies wenigstens nicht eingesehen wird, sondern nur in den meisten Fällen so zu sein scheint, um die Seele zu bestimmen, daß sie einen Satz eher für wahr als für falsch oder umgekehrt hält« (Ess. IV, ch. 15, §1). »Die Wahrscheinlichkeit ist der Schein der Wahrheit. das Wort bezeichnet einen solchen Satz, für den Gründe vorliegen, um ihn für wahr zu halten. Die Beistimmung, die man diesen Sätzen gibt, heißt Glaube, Zustimmung oder Meinung« (l. c. § 3. vgl. LEIBNIZ, Nouv. Ess. IV, ch. 15f). HUME versteht unter »probability« »jenen Grad der Gewißheit, dem noch Ungewißheit anhaftet« (Treat. III, sct. 11, 53. 172). Die Wahrscheinlichkeit gliedert sich in »die Wahrscheinlichkeitserkenntnis, die sich auf die Betrachtung des Zufalls gründet, und die Wahrscheinlichkeitserkenntnis aus Ursachen« (ib.). »In allen demonstrativen Wissenschaften sind die Regeln sicher und untrüglich. wenn wir sie aber anwenden, so läßt uns die geringe Sicherheit und Zuverlässigkeit in der Funktion unserer geistigen Vermögen leicht von ihnen abweichen und damit in Irrtümer verfallen. Wir müssen deshalb bei jeder Schlußfolgerung dafür Sorge tragen, daß wir unser erstes Urteil oder unsern ersten Akt der Zustimmung durch neue Urteile prüfen oder kontrollieren. Wir müssen schließlich eine allgemeine Betrachtung anstellen und eine Art Statistik aller der Fälle aufnehmen, in denen unser Verstand uns getäuscht hat, um sie mit denen zu vergleichen, in welchen sein Zeugnis sich als zutreffend erwies. Unsere Vernunft muß als eine Art Ursache angesehen werden, deren natürliche Wirkung die Wahrheit ist. zugleich aber müssen wir annehmen, diese Wirkung könne vermöge der Dazwischenkunft anderer Ursachen und der Unbeständigkeit in der Funktion unserer geistigen Kräfte gelegentlich vereitelt werden. Damit schlägt alles Wissen in bloße Wahrscheinlichkeit um« (l. c. IV, sct. 1, S. 241). - J. BERNOUILLI unterscheidet mathematische und empirische Wahrscheinlichkeit (Ars coniect. IV, 4 ff.).

CHR. WOLF definiert: »Si praedicatum subiecti tribuitur ob rationem insufficientem, dicitur probabilis« (Log. § 578). »Wenn wir von einem Satze einigen Grund, jedoch keinen zureichenden haben, so nennen wir ihn wahrscheinlich, weil es nämlich den Schein hat, als wenn er mit anderen Wahrheiten zusammenhinge« (Vern. Ged. I, § 309. vgl. CRUSIUS, Weg zur Gewißh. § 369. LAMBERT, Neues Organ. II. B., 5. RÜDIGER, De sensu veri et falsi III. s'GRAVESANDE, Introd. ad philos. 17 ff.). Nach H. S. REIMARUS heißt wahrscheinlich »die Einsicht, wovon das Gegenteil nicht gänzlich widersprechend oder unmöglich ist« (Vernunftlehre, § 23. vgl. § 345 ff.). MENDELSSOHN erklärt: »Man nennt die Bestimmung des Subjekts, aus welchem das Prädikat folget, die Wahrheitsgründe, weil sie den Grund enthalten, warum ein Satz wahr sei.« »Sind uns nun alle diese Wahrheitsgründe bekannt, und wir begreifen die Art und Weise, wie aus ihnen das Prädikat notwendig erfolge, so sind wir von der Wahrheit überzeugt, und unsere Überzeugung erlangt den Namen einer mathematischen Evidenz.« »Wenn uns aber nur einige von diesen Wahrheitsgründen gegeben sind und wir schließen daraus auf eine Folge, die durch dieselbe nicht völlig bestimmt ist, so gehört der Satz zu den wahrscheinlichen Erkenntnissen, und wir sind von seiner Richtigkeit nicht völlig überzeugt.« »Aus dem Verhältnisse der gegebenen Wahrheitsgründe zu denjenigen, die zur völligen Gewißheit gehören, wird der Grad der Wahrscheinlichkeit bestimmt, und man eignet einem Satze nur einen geringen Grad der Wahrscheinlichkeit zu, wenn die wenigsten Wahrheitsgründe bekannt sind« (Philos. Schrift. II, 217 ff.). FEDER definiert: »Dasjenige, wovon man nicht völlig gewiß ist, das man aber doch für wahr zu halten geneigt ist, ist einem wahrscheinlich« (Log. u. Met. S. 123 f.). Die Geneigtheit zur Wahrscheinlichkeitsannahme entsteht aus einer »unvollständigen Evidenz« (l. c. S. 124 ff.. vgl. K. H. FRÖMMICHEN, Über die Lehre des Wahrscheinlichen, 1773). PLATNER erklärt: »Der Grund eines Urteils ist entweder völlig zureichend oder nur größerenteils. Im ersten Fall entsteht die Gewißheit, im andern Falle Wahrscheinlichkeit« (Philos. Aphor. I, § 701). »Die Denkart der Wahrscheinlichkeit beruhet auf der Erwartung einer gewissen Ähnlichkeit, teils in der Form, teils in der Folge der wirklichen Dinge, und diese Erwartung auf der Voraussetzung einer gewissen Einheit der Natur in ihren Gesetzen« (l. c. § 703). Es gibt »analogische« und »philosophische« Wahrscheinlichkeit (l. c. § 704, vgl. GARVE, De logica probabilium).

Nach KANT ist wahrscheinlich (probabile), »was einen Grund des Fürwahrhaltens für sich hat, der größer ist als die Hälfte des zureichenden Grundes, also eine mathematische Bestimmung der Modalität des Fürwahrhaltens, wo Momente derselben als gleichartig angenommen werden müssen, und so eine Annäherung zur Gewißheit möglich ist, dagegen der Grund des mehr oder weniger Scheinbaren (verisimile) auch aus ungleichartigen Gründen bestehen, eben darum aber sein Verhältnis zum zureichenden Grunde gar nicht erkannt werden kann« (Üb. d. Fortschr. d. Met. S. 144). Objektive und subjektive Wahrscheinlichkeit unterscheidet HOFFBAUER (Log. § 419), reale und logische Wahrscheinlichkeit KIESEWETTER (Log. I, § 297) u. a. Den Unterschied zwischen mathematischer und philosophischer Wahrscheinlichkeit betont FRIES. Erstere ist eine unbestimmte Durchschnittsrechnung aus gleich möglichen Fällen, letztere geht von allgemeinen Grundsätzen aus, die schon aus einem einzigen Fall einen Induktionsschluß ziehen lassen (Vers. ein. Krit. d. Prinzipien d. Wahrscheinlichkeitsrechn., Einl. § IV f., § 26. Syst. d. Log. S. 425). Alle Wahrscheinlichkeit beruht auf Schlüssen und besteht darin, »daß wir eine Behauptung mit ihren Gründen vergleichen und, ohne diese vollständig erhalten zu können, doch überwiegende Gründe dafür haben« (Syst. d. Log. S. 418). »Wahrscheinlich ist, was im Verhältnis gegen einen möglichen Fall, daß es anders sei, in vielen gleich möglichen Fällen so beschaffen ist, wie das Urteil aussagt« (l. c. S. 426). Nach BACHMANN ist die Wahrscheinlichkeit das der Gewißheit sich annähernde Moment in unserer Überzeugung (Syst. d. Log. S. 329 ff.). - VOLKMANN bestimmt: »Wir halten für wahr, wovon wir vollkommen überzeugt sind. Kommt kein Prädikat zu diesem absoluten Vorzug, nimmt aber gleichwohl eines von ihnen den übrigen gegenüber den relativ höchsten Klarheitsgrad dauernd ein, dann nennen wir das Urteil, das dieses Prädikat dem Subjekte beilegt, wahrscheinlich« (Lehrb. d. Psychol. II4, 297. vgl. BENEKE, Lehrb. d. Psychol.3, § 156).

Nach J. ST. MILL ist die Wahrscheinlichkeit »nicht eine Eigenschaft des Ereignisses selbst, sondern ein bloßer Name für die Stärke des Grundes, wonach wir dasselbe erwarten« (Log. II, 67). Nach WINDELBAND ist die wissenschaftliche Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses »das Verhältnis der für dasselbe günstigen zu der Anzahl der überhaupt möglichen Fälle«. Alle Bestimmungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung gelten nur für die Möglichkeit, nicht für die Wirklichkeit. es sind nicht Gesetze der Tatsachen, sondern nur Gesetze für unsere Erwartung. »Daher hat die Wahrscheinlichkeitsrechnung für den einzelnen Fall ihrem Begriffe nach ganz, und gar keine Bedeutung. Zähler und Nenner des die Wahrscheinlichkeit ausdrückenden Bruches bedeuten Summen von Möglichkeiten, die in Rücksicht auf den einzelnen Fall nur Denkmöglichkeiten sind und nirgends anders als in unserer Erwartung existieren« (Die Lehren vom Zufall, S. 32 f.). WUNDT bestimmt: »Ein Satz gilt uns dann als wahrscheinlich, wenn ein entgegenstehender wenigstens als möglich zugelassen werden muß« (Log. I, 384). Die subjektive (moralische) Wahrscheinlichkeit ist ein rein psychologisches Phänomen. Die wissenschaftliche Wahrscheinlichkeit ist »der objektiv begründete Grad der Erwartung für die verschiedenen Ereignisse, die aus gegebenen Bedingungen möglicherweise hervorgehen können« (l. c. S. 392). Der Unterschied apriorischer und empirischer Wahrscheinlichkeit liegt nur darin, »daß sich bei dieser unsere Erfahrung auf die Tatsachen selbst, bei jener auf die Bedingungen bezieht, aus denen die Tatsachen hervorgehen« (l. c. S. 397). Der Wahrscheinlichkeitsschluß »folgert aus der Möglichkeit verschiedener Fälle, die bei einem zu erwartenden und in bezug auf seine Beschaffenheit unbestimmten Ereignisse stattfinden können, auf die Wahrscheinlichkeit eines einzelnen dieser Fälle« (l. c. S. 303). »Zu einem Schluß auf die größere Wahrscheinlichkeit bestimmter Fälle vor andern werden wir aber dann getrieben, wenn sie entweder vermöge der uns bekannten Bedingungen eines Ereignisses leichter möglich, oder wenn sie nach vorausgegangenen Erfahrungen häufiger eingetreten sind. Dort entsteht ein apriorischer, hier empirischer Wahrscheinlichkeitsschluß« (l. c. S. 304 ff.). - Vgl. GARVE, De logica probabilium. LAPLACE, Ess. philos. sur la probabil.. PAGANO, Logica dei probabili, 1806. BOLZANO, Wissenschaftslehre III, § 317 ff., S. 263 ff.. A. COURNOT, Exposit. de la théor. des chances et des probabil., 1843. ROSMINI, Log. § 1073 ff.. QUÉTELET, Lettres sur la probabil.. G. HELM, Die Wahrscheinlichkeitslehre als Theorie der Kollektivbegriffe, Annal. d. Naturphilos. I, 1902. SIGWART, Log. II2, 305 ff., u. a. - Vgl. Induktion, Skeptizismus.


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