Wahrnehmung, innere

 

Wahrnehmung, innere oder unmittelbare, ist das psychische Erleben in seiner (konkreten) Bewußtheit als solches, als Bewußtseinsvorgang (s. d.), Während durch die »äußere« Wahrnehmung Erlebnisse auf Objekte (s. d.) außer uns bezogen werden, besteht die innere Wahrnehmung, im weitesten Sinne, in dem Bemerken psychischer Vorgänge oder in dem mehr oder weniger aufmerksamen psychischen (s. d.) Erleben selbst. In einem engeren Sinne ist die psychische Wahrnehmung die »Reflexion« (s. d.), d.h. die Zurücklenkung der Aufmerksamkeit von der Außenwelt weg auf die Tatsache des Erlebens (Empfindens, Vorstellens u.s.w.) selbst, das konkrete Wissen um ein solches Erleben als eines Zustandes oder Aktes des Subjekts, durch unmittelbare (nicht begriffliche) Beziehung auf dieses, durch Selbstbesinnung, deren Ausdruck ein Urteil über das eigene Erleben ist. Da die innere Wahrnehmung nichts ist als das sich selbst zur Bewußtheit steigernde Bewußtsein selbst, geht sie nirgends über das Erleben hinaus, und ihr Gegenstand hat demnach unmittelbare Realität, d.h. er wird als das genommen, beurteilt, was er ist, nicht als Zeichensystem für ein Transzendentes. Gleichwohl ist er auch einer Verarbeitung durch das Denken unterworfen, und sind auch auf dem Gebiete der innern Wahrnehmung Irrtümer im einzelnen (betreffs der Art der Koordinationen u.s.w.) möglich. Zwar wird durch die Anschauungsform der Zeit (s. d.) das Wesen der Ichheit (s. d.) gleichsam auseinandergezogen, es kommt nicht als reines An-sich, nicht adäquat zur Erkenntnis, aber qualitativ wird die Ichheit durch die innere Wahrnehmung doch nicht verändert, nicht zur Erscheinung einer ontologisch ganz anders gearteten Realität, etwa eines Ungeistigen, gemacht. Daß der Gegenstand der »inneren« Wahrnehmung etwa absolute Realität hat, das Für-sich-sein, An-sich (s. d.) des Menschen u.s.w. sei, das steht nicht schon durch die innere Wahrnehmung fest, sondern kann erst durch kritische Besinnung plausibel gemacht werden. Den Standpunkt der innern Wahrnehmung nimmt die Psychologie (s. d.) ein, während die Naturwissenschaft das Erlebte zu einem begrifflichen Zeichensysten transzendenter Faktoren verarbeitet. die Metaphysik kann noch den äußeren durch den inneren Standpunkt universell ergänzen. Aus wiederholten inneren Wahrnehmungen geht die innere Erfahrung (s. d.) hervor.

Die Lehre von der inneren Wahrnehmung bildet in älterer Zeit meist einen Bestandteil der Lehre vom inneren Sinn (»sensus interior«), der sowohl als Gemeinsinn (s. d.), wie als Fähigkeit inneren Erlebens, Reflektierens, Vorstellens u.s.w. gilt.

Dem Gemeinsinn (s. d.), koinê aisthêsis, schreibt ARISTOTELES auch die Wahrnehmung des Empfindens zu (De memor. 1. De somn. 2). Er lehrt eine noêsis noêseôs (Eth. Nic. IX, 9). CICERO spricht von »tactus interior« (Acad. II, 7, 20). PLOTIN hat den Begriff der synaisthêsis (s. Bewußtsein).

Nach AUGUSTINUS nimmt der innere Sinn das eigene Empfinden wahr (De lib. arb. II, 4. De anim. IV, 20). »Nos arbitror ratione comprehendere esse interiorem quendam sensum, ad quem ab istis quinque notissimis sensibus cuncta feruntur« (De lib. arb. II, 23). Nach SCOTUS ERIUGENA geht der innere Sinn auf die Verhältnisse der Begriffe (De div. nat. II, 23). Eine Erkenntnisfunktion hat der innere Sinn nach HUGO VON ST. VICTOR (De an. II, 4). AVICENNA unterscheidet fünf innere Sinne: »phantasiae, quae est sensus communis« (Gemeinsinn), »imaginatio«, »vis imaginativa« (»cogitativa«), »vis aestimativa«, ,»vis memorialis et reminiscibilis« (De an. IV, 1. vgl. M. Winter, Üb. Avic. Op. egreg. S. 28 ff.). Nach THOMAS heißt der innere Sinn »communis« als »communis radix et principium exteriorum sensuum« (Sum. th. I, 78, 4 ad 1). »Sensus communis apprehendit sensata omnium sensuum propriorum« (Contr. gent. II, 74. vgl. De pot. anim. 4). Es gibt vier »vires interiores sensitivae partis«: »sensus communis«, »imaginatio« »aestimativa«, »memoria« (Sum. th. I, 78, 4). WILHELM VON OCCAM betrachtet den »sensus interior« als eine Quelle anschaulicher Erkenntnis (In l. sent. I, 3, 5).

MELANCHTHON bestimmt den inneren Sinn als »potentia organica intra cranicum ad cognitionem destinata excellentem actiones sensuum exteriorum«. Er hat die Funktion der »diiudicatio« und »compositio«, besteht aus »sensus communis«, »cogitatio seu compositio«, »memoria« (De an. p. 174 ff.). Ähnlich lehrt CASMANN (Psychol. anthropol. p. 359), welcher vom »actus reflexus« spricht (l. c. p. 11, 89). Nach ZABARELLA gibt es »sensus communis«, »phantasia« (und »memoria«) (De reb. nat. p. 720). BOVILLUS erklärt: »Est enim sensus ut quaedam extertoris memoria et ut penitior locus, in quo sensibilia spectra et colliguntur et reservantur« (De sensib. 1, 1. De intell. 6. vgl. SUAREZ, De anim. I, 3, 30 CAESAR CREMONINUS, L. VIVES, De anim. I, 31 ff.. CARDANUS, De variet. VIII, p. 154. CAMPANELLA, G. BRUNO u. a.). - DESCARTES erklärt: »Nempe nervi, qui ad ventriculum, oesophagum, fauces, aliasque interiores partes, explendis naturalibus desideriis destinatas, protenduntur, faciunt unum ex sensibus internis, qui appetitus naturalis vocatur. nervuli vero, qui ad cor et praecordia, quamvis perexigui sint, faciunt alium sensum internum, in quo consistunt omnes animi commotiones« (Princ. philos. IV, 190. Medit. IV. De hom. 4).

Die engere Bedeutung der inneren Wahrnehmung erhält der »innere Sinn« bei LOCKE. Der innere Sinn (»internal sense«) ist eins mit der »Reflexion« (s. d.). Er ist »the notice which the mind takes of its own operations« (Ess. II, ch. l, § 4), das Bewußtsein der eigenen seelischen Prozesse, als eine Quelle der Erkenntnis (s. d.). »Diese Quelle von Vorstellungen hat jeder ganz in sich selbst, und obgleich hier von keinem Sinn gesprochen werden kann, da sie mit äußerlichen Gegenständen nichts zu tun hat, so ist sie doch den Sinnen sehr ähnlich und könnte ganz richtig innerer Sinn genannt werden« (ib.). HERBERT VON CHERBURY bestimmt als Objekt des inneren Sinnes das Gute. das Gewissen ist der innere Sinn, der »sensus communis« Nach LEIBNIZ ist der innere Sinn (»sens interne«) der Einheitspunkt der verschiedenen Sinne (»sens interne, où les perceptions de ces différents sens externes se trouvent réunies« (Gerh. VI, 501. vgl. Apperzeption). CHR. WOLF erklärt: »Mens etiam sibi conscia est eorum, quae in ipsa contingunt... se ipsam percipit sensu quodam interno« (Philos. rational. § 31). ähnlich BAUMGARTEN (Met. § 396, 534), BILFINGER u. a. Nach FEDER rührt ein großer Teil unserer Begriffe »aus den Empfindungen her, die wir vermöge des innern Sinnes haben: daher hat die Seele den Begriff von ihr selbst und von ihren Eigenschaften« (Log. u. Met. S. 52). Die Fähigkeiten des innern Sinnes sind: das Selbstgefühl, das Gefühl des Wahren, des Schönen, des Moralisch- Guten (l. c. S. 28. vgl. MENDELSSOHN, Phädon S. 109 f.). TETENS schreibt dem inneren Sinne Gefühle, Wollen und Denken als Objekte zu (Philos. Vers.). Nach REID u. a. ist der »common sense« (s. d.) die Quelle eines evidenten, sicheren Wissens. Eine neue Wendung nimmt die Geschichte des Begriffs des innern Sinnes bei KANT. Er versteht unter Sinn (s. d.) die Rezeptivität (s. d.) überhaupt, die Fähigkeit, Vorstellungen durch Affektion (s. d.), also nicht durch Spontaneität (s. d.) zu erhalten. Daher gibt es außer dem äußern auch einen innern Sinn, bei welchem der Mensch »durchs Gemüt affiziert wird« (Anthropol. 1, §13). Der Geist, das Bewußtsein produziert die Vorstellungen von sich selbst nicht spontan, sondern muß erst durch sich selbst affiziert, erregt werden, um sich anzuschauen. Da die Form des innern Sinnes, die Zeit (s. d.), subjektiv ist, so erkennt sich das Ich nicht wie es an sich ist, sondern nur als Erscheinung (s. d.). »Der innere Sinn, vermittelst dessen das Gemüt sich selbst oder seinen innern Zustand anschauet, gibt zwar keine Anschauung von der Seele selbst, als einem Objekt, allein es ist doch eine bestimmte Form, unter der die Anschauung ihres innern Zustandes allein möglich ist, so daß alles, was zu den inneren Bestimmungen gehört, in Verhältnissen der Zeit vorgestellt wird« (Krit. d. rein. Vern. S. 50 f.). Die Zeit ist »die Form des innern Sinnes, d. i. des Anschauens unserer selbst und unseres innern Zustandes«. - »Alles, was durch einen Sinn vorgestellt wird, ist sofern jederzeit Erscheinung, und ein innerer Sinn würde also entweder gar nicht eingeräumt werden müssen, oder das Subjekt, welches der Gegenstand desselben ist, würde durch denselben nur als Erscheinung vorgestellt werden können« (l. c. S. 72). »Wenn das Vermögen, sich bewußt zu werden, das, was im Gemüte liegt, aufsuchen (apprehendieren) soll, so muß es dasselbe afficieren und kann allein auf solche Art eine Anschauung seiner selbst hervorbringen..., da es denn sich anschauet, nicht wie es sich unmittelbar selbsttätig vorstellen würde, sondern nach der Art, wie es von innen affiziert wird, folglich wie es sich erscheint, nicht wie es ist« (l. c. S. 73). »Das Bewußtsein seiner selbst, nach den Bestimmungen unseres Zustandes, bei der inneren Wahrnehmung ist bloß empirisch, jederzeit wandelbar, es kann kein stehendes oder bleibendes Selbst in diesem Flusse innerer Erscheinungen geben, und wird gewöhnlich der innere Sinn genannt oder die empirische Apperzeption« (l. c. S. 120 f.. vgl. Apperzeption, Selbstbewußtsein). Vgl. REININGER, Kants Lehre vom inn. Sinn.

 


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