Wille - Knapp, Spencer, Ribot

Eine abgeleitete, sekundäre Erscheinung erblicken im Willen verschiedene Autoren, teilweise noch mit Annäherung an die autogenetische Willenstheorie. Auf Wirkungen von Vorstellungen (s. d.) führen das Wollen die meisten Herbartianer zurück (s. Streben). Nach FROHSCHAMMER ist der Wille »die Fähigkeit, sich nicht bloß durch den Trieb (als wirkende, treibende Ursache), sondern auch durch Vorstellungen (Ziele) in Bewegung und Tätigkeit bestimmen zu lassen« (Monad. u. Weltphant. S. 77 f.). Der Wille ist nicht das eigentlich Primäre, sondern etwas Abgeleitetes, Gewordenes (l. c. S. 81). Er entsteht durch »Verbindung, gleichsam Vermählung der Phantasie mit den wirkenden Kräften des Daseins« (l. c. S. 78). Nach L. KNAPP setzt sich das Begehren zusammen aus treibenden Gefühlen und getriebenen Vorstellungen. Das Begehren entspringt aus Unlust (Syst. d. Rechtsphilos. S. 114 f.). »Das Begehren ist das von Unlustgefühlen getriebene Denken der Verwirklichung einer Vorstellung« (l. c. S. 118). Die Willkür ist nur bewußte Handlung, aber nicht Ursache des Bewußtseins für das Denken (l. c. S. 72).

Aus dem Gefühl leitet den Willen HORWICZ ab. Jedes Gefühl ist schon Begehren, ist der Grund des Begehrens (Psychol. Anal. III, 4 f., 59 ff.). Der Trieb ist, als Reflex, primitiv, der Wille abgeleitet (l. c. I, 171). Alle Empfindungen lösen Bewegungen aus (l. c. I, 201 ff.). Auf ziellose Bewegungen folgt erst durch Erfahrung die zweckmäßige Willenshandlung (l. c. I, 369 f.. II, 71). Nach TH. ZIEGLER zeigt sich der Wille nur als Gefühl. Das Gefühl ist primär, das Vorstellen sekundär, das Wollen tertiär (Das Gefühl2, S. 308 f.). - Auch nach CZOLBE stammt der Wille »aus dem Reiche der Gefühle«. Von den »ruhenden oder passiven« Gefühlen (der Freude und des Schmerzes) sind »aktive Gefühle des Bedürfnisses« oder Triebe zu unterscheiden. Verbindet sich ein solcher mit der Erinnerung an eine Freude, so entsteht die Begierde und ihre Modifikationen. »Wenn die Begierde sich mit der klaren Vorstellung teils dessen verbindet, was sie befriedigt, teils auch wohl der Mittel oder Tätigkeiten (Muskelbewegungen), es zu erreichen, so ist der Wille entstanden... Der feste Glaube an das Können ist zum Wollen unerläßlich, denn der Wille schließt den Beschluß einer Handlung in sich« (Gr. u. Urspr. d. menschl. Erk. S. 235).

Auf die Vorstellung führt den Willen (das Begehren, s. d.) CHR. EHRENFELS zurück. »Ein besonderes psychisches Grundelement ›Begehren‹ (Wünschen, Streben oder Wollen) gibt es nicht. Was wir Begehren nennen, ist nichts anderes als die - eine relative Glücksförderung begründende - Vorstellung von der Ein- oder Ausschaltung irgend eines Objekts in das oder aus dem Kausalgewebe um das Zentrum der gegenwärtigen konkreten Ichvorstellung« (Werttheor. I, 248f.. vgl. I, 618). Begehrungen sind Vorstellungen, die zur Zeit fester haften als andere. Beim eigentlichen Willen kommt zum Streben ein Urteil hinzu (l. c. I, 222, 261. vgl. Arch. f. system. Philos. II). R. WAHLE erklärt: »Wollen ist gegeben durch die Vorstellung solcher Handlungen, denen eine Befriedigung, Lösung eines unruhigen Zustandes folgt, und durch den Beginn solcher Handlungen. Es ist dasselbe: etwas wollen und den Bestand von etwas lieben« (Das Ganze d. Philos. S. 372). Ein besonderer »impulsiver Akt« ist nicht gegeben (l. c. S. 373).

Auf Empfindungen, motorische Tendenzen, Bewegungsvorstellungen, Assoziation wird der Wille verschiedentlich zurückgeführt. Nach A. BAIN umfaßt »will« (»volition«) »all the actions of human beings in so far as impelled or guided by feelings« (Ment. and Mor. Sc., Introd. ch. 1, p. 2). Die Motive sind »our pleasures and pains« (l. c. IV, ch. 4, p. 346. »conflict of motives«: ch. 5, p. 354 ff.). Eine Grundlage der »voluntary power« ist die »spontaneity« (s. d.) der Muskelbewegung, der primäre, innerorganische Drang nach Bewegung (l. c. I, ch. 4, p. 79). »Spontaneity expresses the fact tbat the active organs may pass into movement, apart from the stimulus of sensation« (l. c. IV, ch. 1 ff., p. 318 ff.). Dazu kommt die Kontrolle der Aufmerksamkeit und des Denkens. Es besteht eine »association of movements with the idea of the effect to be produced« (l. c. p. 337 ff.). Der Wille enthält also 1) »the existence of a spontaneous tendency to execute movements independent of the stimulus of sensation or feelings«, 2) »the link between a present action and a present feeling, whereby the one comes unter the control of the other« (Emot. and Will3, p. 303 ff.. vgl. Ment. and Mor. Sc. ch. 5-6 über »deliberation«). Nach LEWES enthält die Willenshandlung »intention, effort, motor result« (Probl. III, 104). »Will« ist »the abstract generalised expression of the impulses which determine actions, when those impulses have an ideal origin« (l. c. p. 367 ff., 377). Nach H. SPENCER geht das Wollen aus dem Reflex hervor, es ist nur der »Übergang einer idealen in eine reale motorische Veränderung«, wobei der Übergang durch den Gegensatz anderer Bewegungs- oder Veränderungs-Vorstellungen verzögert wird (Psychol. I, § 218, S. 518 ff.). Nach MAUDSLEY ist der Wille keine Wesenheit, sondern »der Ausdruck der wohlgeordneten Koordination der Tätigkeit der höchsten Zentren des Seelenlebens« (Die Physiol. u. Pathol. d. Seele 1870, S. 163. vgl. Phys. of Mind p. 409 f.). - Ähnlich ist nach RIBOT der Wille »ein abschließender Bewußtseinszustand, welcher aus der mehr oder weniger komplizierten Koordination einer Gruppe von bewußten, halbbewußten oder unbewußten (also rein physiologischen) Zuständen hervorgeht, deren Zusammenwirken eine Handlung oder eine Hemmung herbeiführt« (Der Wille, S. 148). Hauptfaktor der Koordination ist der Charakter (ib). Einheit, Beständigkeit, Kraft sind die drei Hauptkennzeichen der vollständigen Koordination (l. c. S. 143). Doch schafft der bewußte Wille (s. Wahl) nichts, er ist nicht Ursache. »Das wahre Geheimnis des Handelns liegt in dem natürlichen Streben der Gefühle und Vorstellungen, sich in Bewegungen umzusetzen« (l. c. S. 149). Gleichwohl ist der Wille eine »individuelle Reaktion, welche das Tiefinnerlichste unseres Wesens zum Ausdruck bringt« (l. c. S. 28). Jeder Willensakt enthält zwei Elemente: 1) den Bewußtseinszustand ›ich will‹, welcher eine Sachlage konstatiert, aber wirkungelos ist, 2) einen psychophysischen Mechanismus (l. c. S. 3). Jeder Bewußtseinszustand hat die Tendenz, Bewegung herbeizuführen (l. c. S. 4). kommt Intellekt dazu, so hat man die »ideomotorische« (s. d.) Tätigkeit (l. c. S. 6). Als Bewußtseinszustand ist der Wille nichts als Bejahung oder Verneinung (l. c. S. 25). Die Wahl beruht auf Affinität, Anpassung zwischen Ich und Motiven (l. c. S. 25). Grundlage des Willens ist die automatische Tätigkeit (l. c. S. 127 ff.. vgl. CH. RICHET, Ess. de psychol. générale, 1887). Nach PAULHAN ist der Wille nur »la représentation prépondérante, presque exclusive d'un acte, représentation accompagnée d'une tendance prépondérante a accomplir cet acte« (Physiol. de l'espr. p. 105 f.). Eine besondere »volition« gibt es nicht (l. c. p. 101 ff.). - SERGI erklärt: »La volition est un mouvement qui ne vient pas immédiatement après une excitation, mais après une suspension, pendant laquelle il y a une conscience anticipée du mouvement même« (Psychol. p. 407). Der Wille ist nur eine Modifikation der »force psychique« (l. c. p. 1414). - Vgl. HERZEN, Physiol. de la volonté.

Nach L. GEIGER ist der Wille »nur der im Zentrum vorhandene, und wenn er auf dasselbe, anstatt sich auf die Bewegungsorgane fortzupflanzen, beschränkt bleibt, in irgend einer Weise rückwärts auf Empfindung wirkende Bewegungsreiz« (Urspr. u. Entwickl. d. menschl. Spr. I, 58 f.). Nach H. MÜNSTERBERG ist der (psychologisch bestimmte) Wille ein Komplex von Empfindungen (Die Willenshandl. 1888, S. 62, 96). »Der Wille selbst besteht aus nichts weiter als aus der von assoziierten Kopfmuskel- Spannungsempfindungen häufig begleiteten Wahrnehmung eines durch eigene Körperbewegung erreichten Effektes mit vorhergehender, aus der Phantasie, d.h. in letzter Linie aus der Erinnerung geschöpfter Vorstellung desselben, und diese antizipierte Vorstellung ist, wenn der Effekt eine Körperbewegung selbst ist, uns als Innervationsempfindung gegeben« (l. c. S. 96. vgl. S. 110. s. oben). - Nach EBBINGHAUS gibt es keine besonderen Willensakte oder Begehrungen, nur Kombinationen von Empfindung, Vorstellung, Gefühl (Grdz. d. Psychol. I, 168). Willensakte sind nicht Grunderscheinungen des Seelenlebens, stehen über ihnen (l. c. S. 561). »Der Wille ist der vorausschauend gewordene Trieb. Er enthält zunächst das, was den Trieb charakterisiert, eine irgend welchen Ursachen entstammende Lust oder Unlust nebst den sie begleitenden Tätigkeitsempfindungen, außerdem aber noch ein Drittes, beide Verbindendes: die geistige Vorwegnahme eines Endgliedes der empfundenen Tätigkeiten, das zugleich als lustvolle Beendigung der gegenwärtigen Unlust oder als lustvolle Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Lust vorgestellt wird« (l. c. S. 563). Willensakte sind bestimmte Verbände von Empfindungen, Vorstellungen und Gefühlen (l. c. S. 565). Nach SIMMEL ist der Wille keine spezifische Energie der Psyche, sondern »Gefühlsreflex« (Skizze einer Willenstheor., Zeitschr. f. Psychol. IX, 218 ff.. vgl. S. 211 ff., s. Trieb). Auch nach ZIEHEN gibt es kein besonderes Willensvermögen (Leitfad. d. phys. Psychol.2, S. 207). Das Wollen reduziert sich auf Vorstellungen intendierter Bewegungen, begleitet von Gefühlstönen (l. c. S. 206). Nach KÜLPE gibt es keinen besonderen Wahlakt (Gr. d. Psychol. S. 462). Der Wille geht auf bestimmte Empfindungsqualitäten als Inhalt des »Strebens« (s. d.) zurück (l. c. S. 275). Die Willenshandlung ist »diejenige äußere oder innere Tätigkeit eines Subjekts, die bedingt und getragen ist durch die bewußte Vorstellung ihres Erfolges« (l. c. S. 463). - Nach E. MACH müssen die Willenserscheinungen aus den organisch-physischen Kräften allein begriffen werden (Anal. d. Empfind.4, S. 132 ff.). »Was wir Willen nennen, ist nun nichts anderes als die Gesamtheit der teilweise bewußten und mit Voraussicht des Erfolges verbundenen Bedingungen einer Bewegung« (Populärwiss. Vorles. B. 72). Bei den Willkürhandlungen erkennt das Subjekt das Bestimmende in den eigenen Vorstellungen, welche diese Handlung antizipieren (Anal. d. Empfind.4, S. 133). Energetisch will den Willen OSTWALD erklären (Vorles. üb. Naturphilos.2, S. 413 ff.). Nach PREYER ist das Begehren die Folge der Erregbarkeitsänderungen des zentralen Protoplasmas. Aus dem Begehren, aus rein impulsiven Bewegungen, entwickelt sich durch Gefühl und Vorstellung der Wille (Seele d. Kind. S. 129 ff.). Die »Nolentia« ist ein positiver Erregungszustand (l. c. S. 126). Nach H. KROELL ist der Wille das Endprodukt zweier Funktionen der Rindenzentren: des Intellektes und des Gefühls (Die Seele, S. 21). Nach R. AVENARIUS ist der Wille eine Form des »appetitiven Verhaltens«, beruhend auf der »Einschaltung eines Hindernisses« und Setzung eines Könnens bezw. Nichtkönnens (Krit. d. rein. Erfahr. II, 266 f.). Das Wollen ist eine »affektive Reihe« von besonderer Beschaffenheit (l. c. S. 211). - Vgl. J. EDWARDS Treat. on the Will, 1754. BAUMANN, Handb. d. Moral, 1879. Philos. Monatshefte XVII. WUNDT, Philos. Stud. I, 337 ff.. VI, 373 f.. KÜLPE, Philos. Stud. V, 179, 381 f.. TÜRCKHEIM, Zur Psychol. d. Willens, 1900. LIPPS, Vom Fühlen, Wollen und Denken, 1902. MARTY, Vierteljahrsschr. f. wiss. Philos. XIII, 307, 328. EHRENFELS, Über Fühlen u. Wollen, Sitzungsber. d. Akad. d. Wiss. in Wien Bd. CXIV. SPITTA, Die Willensbestimmungen, 1884, S. 16 f., 47. BRADLEY, On pleasure, pain, desire and volition, Mind XIII, 1888, p. 370 ff.. H. CORNELIUS, Psychol. S. 78 ff.. M. WENTSCHER, Eth. I, 241 ff., u. a. Vgl. Willkür, Willensfreiheit, Wahl, Gesamtwille, Voluntarismus, Aufmerksamkeit, Streben, Trieb, Begehren, Wunsch, Nolition, Ich, Objekt, Kraft, Handlung, Motiv, Gefühl, Seelenvermögen, Überlegung, Entschluß, Glaube, Sittlichkeit, Sollen, Soziologie.


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