Als bewußte Anschauung (s. d.) definiert die Wahrnehmung KANT. »Das erste, was uns gegeben ist, ist Erscheinung, welche, wenn sie mit Bewußtsein verbunden ist, Wahrnehmung heißt« (Krit. d. rein. Vern. S. 130). »Das Bewußtsein einer empirischen Anschauung heißt Wahrnehmung« (Üb. eine Entdeck. 1. Abschn. S. 37. vgl. Anschauung, Perzeption). Nach BECK besteht die Wahrnehmung in der ursprünglichen Synthesis (Erl. Ausz. III, 155). Nach KRUG ist die Wahrnehmung ein »Wahr-nehmen, weil wir uns dadurch von der Wirklichkeit eines Objekts unmittelbar überzeugen« (Fundamentalphilos. S. 130). Nach SAL. MAIMON ist das Wahrnehmen die Erkenntnis der allgemeinen Formen in besonderen Objekten (Vers. üb. d. Transzend. S. 14 ff.). Nach JACOBI offenbart alle Wahrnehmung ein Dasein. Ein Denken ist in aller Wahrnehmung (WW. I, 285). FRIES bestimmt: »Wahrnehmung nennen wir die einzelnen historischen Erkenntnisse, so wie wir uns ihrer in der isolierten Sinnesanschauung bewußt werden« (Syst. d. Log. S. 321). Die Perzeption ist eine »klare Vorstellung« (Neue Krit. I, 130). Nach LICHTENFELS ist das Empfinden »das Innewerden eines unmittelbar gegenwärtigen sinnlichen Zustandes« (Gr. d. Psychol. S. 42). CALKER definiert: »Die Tätigkeit der Seele, in welcher dieselbe ohne Absicht und Willen das augenblicklich durch die Anregung sich gegenwärtig zeigende leibliche und geistige Dasein erkennt, ist... die sinnliche Vernehmung oder Sinnesvernehmung« (Denklehre, S. 212 f.). Nach G. E. SCHULZE ist die Anschauung (6. d.), insofern das Erkannte etwas ausmacht, dem ein Sein außer uns zukommt, Wahrnehmung. »Zum Anschauen und Wahrnehmen ist schon viel Mitwirksamkeit des Verstandes erforderlich« (Psych. Anthropol. S. 110). Die äußere Wahrnehmung besteht aus dem Bewußtsein der objektiven Wirklichkeit des Gegenstandes (üb. d. menschl. Erk. S. 159. vgl. damit LIPPS, Grundt. d. Seelenleb. S. 398. Wahrnehmung ist »die Empfindung, an die sich das Wirklichkeitsbewußtsein heftet«). Ein Denken enthält alle Wahrnehmung auch nach J. G. FICHTE. Dieses Denken gibt ihr die »Form des objektiven Daseins« (WW. I 2, 547). »Das Anschauende kann nicht anschauen sein unendliches Vermögen, ohne daß es zugleich seinen äußeren Sinn auf eine gewisse Weise bestimmt fühle: unmittelbar aber zu diesem Bewußtsein des eigenen Zustandes tritt das Denken, mit jenem zu eigen Lebensmomente innig verschmolzen, und so wird das, was für die Anschauung in uns war, zu einem außer uns im Raume befindlichen und mit einer gewissen empfindbaren Qualität ausgestatteten Körper«` (l. c. S. 549). ESCHENMAYER bemerkt: »Die Empfindung ist mehr leidend, Anschauung mehr tätig. Empfindung unterrichtet uns mehr von qualitativen Verhältnissen der Natur, Anschauung mehr von Größenverhältnissen« (Psychol. S. 39). SUABEDISSEN definiert: »Das Wahrnehmen überhaupt ist eine Art des Vernehmens, nämlich ein Vernehmen, welches Beziehung auf Wahrheit, also auf Erkenntnis hat. Das sinnliche Wahrnehmen ist das Wahrnehmen des Äußern vermittelst des Empfindens, also das Vernehmen empfangener Bestimmungen mit Beziehung derselben auf äußere Gegenstände« (Grdz. d. Lehre von d. Mensch. S. 83). - Nach K. ROSENKRANZ erfaßt das wahrnehmende Bewußtsein »den Gegenstand, der für sich ein einzelner ist, in seinem An-sich, d.h. in seiner Allgemeinheit« (Psychol.3, S. 278 ff.. vgl. DAUB, Anthropol. S. 64. MICHELET, Anthropol. S. 273 ff.. G. BIEDERMANN, Philos. als Begriffswiss. I, 5 ff.). - Nach MAMIANI ist die Wahrnehmung ein unmittelbares geistiges Erfassen (Confess. I, 150 ff.).
Nach BOLZANO enthält die Wahrnehmung ein Urteil (Wissenschaftslehre I, S. 161). Nach JESSEN ist die Wahrnehmung »ein Akt eines unbewußten Denkens« (Phys. d. menschl. Denk. S. 217. über SCHOPENHAUER s.Anschauung). Nach II. RITTER ist die Wahrnehmung ein mit der Empfindung verknüpfter Gedanke, »daß etwas ist, von welchem die Empfindung ausgeht«. Es wird aber nicht das Nicht-Ich wahrgenommen, sondern nur, »daß durch eine Tätigkeit des Nicht-Ich eine Empfindung ist«. »In der Wahrnehmung wissen wir daher nur von der Erscheinung des zum Grunde Liegenden« (Abr. d. Log.2, S. 26 ff.. vgl. SCHLEIERMACHER, Psychol. S. 71). Nach E. REINHOLD ist die objektive Wahrnehmungsweise dadurch charakterisiert, »daß die Affektion des Sinnesorganes für die Wahrnehmung unmerklich bleibt und daß eine durch die Beschaffenheit des Organes modifizierte Erscheinung des Körpers und eines Zustandes des Körperlichen als etwas objektiv Vorhandenes, außerhalb des angeregten Sinnes Befindliches dem wahrnehmenden Individuum sich darstellt« (Lehrb. d. philos. propäd. Psychol.2, S. 99). Nach CHR. KRAUSE nimmt unmittelbar der Geist »lediglich bestimmte Beschaffenheiten bestimmter Teile des Nervensystems« wahr (Vorles. S. 194 ff.). BENEKE betont: »Jede sinnliche Wahrnehmung, wie einfach sie auch erscheinen möge, ist... in der Tat schon unendlich zusammengesetzt« (Lehrb. d. Psychol. § 54. vgl. Psychol. Skizz. II, 41 ff., 64 ff.. Neue Psychol. S. 132 ff.. Pragmat. Psychol. I, 157 ff.). Die Wahrnehmung enthält die Spuren (6. d.), »welche von früheren gleichartigen Empfindungen hinzu und mit ihr zusammengeflossen sind« (Neue Psychol. S. 133). Im Unterschiede von den bloßen Empfindungen sind e eigentlichen Wahrnehmungen (der höheren Sinne) von höherer Klarheit (Lehrb. d. Psychol. § 75).
Nach WAITZ ist die sinnliche Wahrnehmung »die Auffassung eines Mannigfaltigen unter der Form der Einheit« (Lehrb. d. Psychol. S. 50). Nach VOLKMANN ist die Wahrnehmung »die höchste Ausbildungsform, welche die Anschauung durch ihre Projektion erfährt« (Lehrb. d. Psychol, II4, 142). LINDNER bestimmt: »Die Wahrnehmung ist... nichts anderes, als eine von allen übrigen isolierte, nach außen projizierte Empfindung.« Im Unterschiede von der Subjekten Empfindung bezieht sich die Wahrnehmung auf ein äußeres Objekt (Lehrb. d. empir. Psychol. S. 58). - L. KNAPP erklärt: »Das Empfinden drückt... ein In-sich-finden, das Vorstellen aber ein Sich-gegenüberstellen aus« (Syst. d. Rechtsphilos. S. 45). W. ROSENKRANTZ erklärt: »Soferne wir in der Anschauung bei dem Hinzukommen des bewußten und freien (idealen) Vorganges zum bewußtlosen und unfreien (realen) das Objekt von uns selbst und andern Objekten unterscheiden, wird unsere Empfindung schon einigermaßen zur Erkenntnis erhoben und heißt dann › Wahrnehmung‹« (Wissensch. d. Wiss. Il, 75). Nach ULRICI wird die Empfindung erst zur Wahrnehmung, »indem das Objektive von dem subjektiven der Affektion unterschieden wird« (Log. S. 67). Die Perzeption ist »die Kunde und Kundgebung des Gegenstandes in der Sinnesempfindung« (Leib u. Seele, S. 363). Die objektivierende Funktion der Wahrnehmung lehrt LOTZE (s. Objekt). Nach J. H. FICHTE wird in der Wahrnehmung der Empfindungsinhalt in objektive Eigenschaften eines Realen umgesetzt (Psychol. I, 374). Die Wahrnehmung ist »Einheit von Empfinden, Anschauen und Anerkennen« (l. c. S. 382 ff). Sie ist ein Produkt des vorbewußten Denkens (l. c. I, 380), enthält ein Urteil (l. c. I, 383), ein Schließen auf die Existenz des Außendinges (l. c. I, 377 f.. II, 91 f.). Die Empfindung hingegen besteht in den »einfachen, vom Bewußtsein noch unverbundenen und unverarbeiteten Sinnenaffektionen« (l. c. I, 319). Nach HELMHOLTZ nehmen wir die Gegenstände der Außenwelt nicht unmittelbar wahr, sondern nur Wirkungen dieser auf unseren Nervenapparat und schließen unbewußt von der Empfindung auf die Gegenwart von Objekten als Ursachen unserer Nervenerregungen (Vortr. u. Red. I4, 115 f.. vgl. S. 100, 112). Die Wahrnehmung enthält also ein Denken (Tats. d. Wahrn. S. 36). O. SCHNEIDER sieht in der Empfindung den rein subjektiven »Zustand des durch Sinnesreize erregten Innewerdens«. »Tritt diese Empfindung nicht mehr als ein rein in sich beschlossener Zustand, sondern als das Innewerden eines äußern, von dem empfindenden Subjekte getrennten auf, so nenne ich sie Wahrnehmung, und die die Empfindung und die Wahrnehmung erregende äußere Ursache.. nenne ich den Wahrnehmungsgegenstand oder das Objekt« (Transzendentalpsychol. S. 39 f.). Nach M. BENEDICT ist Wahrnehmung »Bewußtwerden des Reizes in Beziehung zum Reize« (Seelenkunde d. Mensch. S. 26). Nach F. KRAUSE sind Wahrnehmungen hinausprojizierte, vergegenständlichte Empfindungen. Die Sinne nehmen eigentlich nicht den Gegenstand, sondern nur dessen Einfluß auf die Empfindungsnerven wahr (Leb. d. menschl. Seele I, 9 ff., 32 f.).