Soziologische und ökonomische Wirkungen der Rechtsordnung für den Einzelnen.
Staatliches und außerstaatliches Recht
Durch das empirische »Gelten« einer Ordnung als eines »Rechtssatzes« werden die Interessen der Einzelnen in mannigfachem Sinn berührt. Insbesondere können Einzelpersonen daraus berechenbare Chancen erwachsen, ökonomische Güter in ihrer Verfügung zu behalten oder künftig, unter bestimmten Voraussetzungen, die Verfügung über solche zu erwerben. Solche Chancen zu eröffnen oder zu sichern, ist bei gesatztem Recht naturgemäß normalerweise der Zweck, den die, eine Rechtsnorm Vereinbarenden oder Oktroyierenden damit verbinden. Die Art der Zuwendung der Chance aber kann doppelten Charakter haben. Entweder sie ist bloße »Reflexwirkung« der empirischen Geltung der Norm: der einverständnismäßig geltende Sinn dieser geht nicht dahin, dem Einzelnen die tatsächlich ihm zufallenden Chancen zu garantieren. Oder umgekehrt, der einverständnismäßig geltende Sinn der Norm geht gerade dahin, dem Einzelnen eine solche Garantie: ein »subjektives« Recht, zu geben. Daß jemand kraft staatlicher Rechtsordnung ein (subjektives) »Recht« hat, bedeutet also im Normalfall, den wir hier zunächst zugrunde legen, für die soziologische Betrachtung: er hat die durch den einverständnismäßig geltenden Sinn einer Rechtsnorm faktisch garantierte Chance, für bestimmte (ideelle oder materielle) Interessen die Hilfe eines dafür bereitstehenden »Zwangsapparates« zu erlangen. Die Hilfe besteht, im Normalfall wenigstens, darin, daß bestimmte Personen sich dafür bereit halten, falls jemand sich in den dafür üblichen Formen an sie wendet und geltend macht, daß ein »Rechtssatz« ihm jene »Hilfeleistung« garantiere, sie zu leisten. Und zwar rein infolge jener »Geltung«, ohne Rücksicht darauf, ob bloße Zweckmäßigkeitsgründe dafür sprechen, und auch nicht nach freiem Belieben, aus Gnade oder Willkür. Rechtsgeltung besteht, wo die Rechtshilfe in diesem Sinn des Wortes in einem relevanten Maße funktioniert, sei es auch ohne alle physischen oder anderen drastischen Zwangsmittel. Oder (ungarantiertes Recht) wenn ihre Mißachtung (z.B. die Nichtachtung von Wahlrechten bei Wahlen) kraft einer empirisch geltenden Norm Rechtsfolgen (z.B. Ungültigkeit einer Wahl) hat, für deren Durchführung eine entsprechende Instanz mit Rechtszwang besteht. Wir lassen die nur in Form von »Reflexwirkungen« gewährten Chancen hier der Einfachheit halber zunächst ganz beiseite. Ein subjektives Recht im »staatlichen« Sinn des Worts steht unter der Garantie der Machtmittel der politischen Gewalt. Wo andere Zwangsmittel einer anderen als der politischen Gewalt in Aussicht stehen – z.B. die einer hierokratischen Gewalt – und die Garantie eines »Rechtes« bilden, soll von »außerstaatlichem« Recht gesprochen werden, dessen verschiedene Kategorien zu erörtern hier nicht die Aufgabe ist. Hier ist zunächst nur daran zu erinnern, daß es auch nicht gewaltsame Zwangsmittel gibt, welche mit der gleichen oder unter Umständen mit stärkerer Gewalt wirken wie jene. Die Androhung eines Ausschlusses aus einem Verband, eines Boykotts oder ähnlicher Mittel, und ebenso das Inaussichtstellen diesseitiger magisch bedingter Vorteile oder Unannehmlichkeiten oder jenseitiger Belohnungen oder Strafen für den Fall eines bestimmten Verhaltens wirken unter gegebenen Kulturbedingungen häufig – für ziemlich große Gebiete: regelmäßig – sehr viel sicherer als der in seinen Funktionen nicht immer berechenbare politische Zwangsapparat. Der gewaltsame Rechtszwang durch die Zwangsapparate der politischen Gemeinschaft hat sehr häufig gegenüber den Zwangsmitteln anderer, z.B. religiöser Mächte den Kürzeren gezogen, und überhaupt ist es durchaus Frage des Einzelfalles, wie weit sich ihre faktische Tragweite erstreckt. Sie bleiben als »Rechtszwang« in ihrer soziologischen Realität trotzdem bestehen, solange ihre Machtmittel eine sozial relevante Wirkung ausüben. Davon, daß ein »Staat« nur dann und da »bestehe«, wo die Zwangsmittel der politischen Gemeinschaft faktisch gegenüber jeder anderen die stärkeren sind, weiß die Soziologie nichts. Das »Kirchenrecht« ist »Recht« auch da, wo es mit dem »staatlichen« Recht in Konflikt gerät, was wieder und wieder der Fall gewesen ist und z.B. bei der katholischen, aber auch bei anderen Kirchen dem modernen Staat gegenüber unvermeidlich immer wieder geschehen wird. Die slawische »Zádruga« in Österreich entbehrte nicht etwa nur der staatlichen Rechtsgarantie, sondern ihre Ordnungen standen zum Teil sogar im Widerspruch mit dem offiziellen Recht. Da das sie konstituierende Einverständnishandeln für seine Ordnungen einen eigenen Zwangsapparat besitzt, stellen diese letzteren dennoch »Recht« dar, welches nur im Fall der Anrufung des staatlichen Zwangsapparates von diesem nicht anerkannt, sondern zerbrochen wurde. Besonders außerhalb des europäisch- kontinentalen Rechtskreises ist es andererseits gar nichts Seltenes, daß das moderne staatliche Recht auch die Normen anderer Verbände ausdrücklich als »gültig« behandelt und konkrete Entscheidungen dieser überprüft. So schützt das amerikanische Recht vielfach die »label« der Gewerkschaften, normiert die Bedingungen, unter denen ein Wahlkandidat einer Partei als »gültig« aufgestellt zu betrachten ist, greift der englische Richter auf Anrufen in die Gerichtsbarkeit der Klubs ein, untersucht selbst der deutsche Richter in Beleidigungsprozessen die »Kommentmäßigkeit« der Ablehnung einer Forderung zum Zweikampf, obwohl doch dieser gesetzlich verboten ist usw. Wir gehen hier auf die Kasuistik: inwieweit dadurch jene Ordnungen zu »staatlichem Recht« werden, nicht ein. Aus all diesen Gründen, außerdem aber aus der hier festgehaltenen Terminologie heraus, wird es von uns selbstredend abgelehnt, wenn man von »Recht« nur da spricht, wo kraft Garantie der politischen Gewalt Rechtszwang in Aussicht steht. Dazu besteht für uns kein praktischer Anlaß. Wir wollen vielmehr überall da von »Rechtsordnung« sprechen, wo die Anwendung irgendwelcher, physischer oder psychischer, Zwangsmittel in Aussicht steht, die von einem Zwangsapparat, d.h. von einer oder mehreren Personen ausgeübt wird, welche sich zu diesem Behuf für den Fall des Eintritts des betreffenden Tatbestandes bereithalten, wo also eine spezifische Art der Vergesellschaftung zum Zweck des »Rechtszwanges« existiert. Der Besitz eines solchen Apparates für die Ausübung physischen Zwanges war nicht immer ein Monopol der politischen Gemeinschaft. Für psychischen Zwang besteht ein solches Monopol – wie die Bedeutung des nur kirchlich garantierten Rechts zeigt – auch heute nicht. Es wurde ferner schon gesagt, daß die direkte Garantie objektiven Rechts und subjektiver Rechte durch einen Zwangsapparat nur einen Fall des Bestehens von »Recht« und »Rechten« bildet. Selbst innerhalb dieses engeren Gebiets aber kann der Zwangsapparat sehr verschieden geartet sein. Im Grenzfall kann er in der einverständnismäßig geltenden Chance der Zwangshilfe jedes an einer Vergemeinschaftung Beteiligten im Fall der Bedrohung einer geltenden Ordnung bestehen. Als »Zwangsapparat« kann es alsdann freilich nur in dem Fall noch gelten, wenn die Art der Verbindlichkeit zu dieser Zwangshilfe fest geordnet ist. Der Zwangsapparat und die Art des Zwanges kann auch bei Rechten, welche die politische Anstalt durch ihre Organe verbürgt, außerdem durch die Zwangsmittel von Interessentenverbänden verstärkt werden: die scharfen Zwangsmaßregeln der Kreditoren- und Hausbesitzerverbände: organisierter Kredit- bzw. Wohnungs-Boykott (schwarze Listen) gegen unzuverlässige Schuldner wirken oft stärker als die Chance der gerichtlichen Klage. Und natürlich kann sich dieser Zwang auch auf staatlich gar nicht garantierte Ansprüche erstrecken: dann sind diese trotzdem subjektive Rechte, nur mit[tels] anderer Gewalten. Das Recht der Staatsanstalt stellt sich Zwangsmitteln anderer Verbände nicht selten in den Weg: so macht die englische »libel act« schwarze Listen durch Ausschluß des Wahrheitsbeweises unmöglich. Aber nicht immer mit Erfolg. Die auf dem »Ehrenkodex« des Duells als Mittel des Streitaustrages beruhenden, dem Wesen nach meist ständischen Verbände und Gruppen mit ihren Zwangsmitteln: im wesentlichen Ehrengerichte und Boykott, sind im allgemeinen die stärkeren und erzwingen meist mit spezifischem Nachdruck (als »Ehrenschulden«) gerade staatsanstaltlich nicht geschützte oder perhorreszierte, aber für ihre Gemeinschaftszwecke unentbehrliche Verbindlichkeiten (Spielschulden, Duellpflicht). Die Staatsanstalt hat vor ihnen teilweise die Segel gestrichen. Es ist zwar juristisch schief, wenn das Verlangen gestellt wird, ein spezifisch besondertes Delikt, wie der Zweikampf, solle einfach als »Totschlagsversuch« oder als »Körperverletzung« bestraft werden – Delikte, deren Merkmale es nicht teilt –; aber die Tatsache bleibt bestehen, daß die Zweikampfbereitschaft, trotz des Strafgesetzes, in Deutschland für den Offizier noch heute4 staatliche Rechts pflicht ist, weil staatliche Rechtsfolgen an ihr Fehlen geknüpft sind. Anders steht es außerhalb des Offizierstandes. Das typische Rechtszwangsmittel »privater« Gemeinschaften gegen renitente Mitglieder ist der Ausschluß aus dem Verband und [von] seinen materiellen oder ideellen Vorteilen. Bei Berufsverbänden von Ärzten und Anwälten ebenso wie bei geselligen und politischen Klubs ist es die ultima ratio. Der moderne politische Verband hat sehr vielfach die Kontrolle dieser Zwangsmittel usurpiert. So ist den Ärzten und Anwälten jenes äußerste Mittel auch bei uns abgesprochen, in England die Überprüfung des Ausschlusses aus Klubs, in Amerika selbst für politische Parteien, ferner die Prüfung der Rechtmäßigkeit der »Label«-Führung auf Anrufung den staatlichen Gerichten zugewiesen. Dieser Kampf zwischen den Zwangsmitteln verschiedener Verbände ist so alt wie das Recht. Er hat in der Vergangenheit sehr oft nicht mit dem Siege der Zwangsmittel des politischen Verbandes geendet, und auch heute ist dies nicht immer der Fall. So ist eine Handhabe, die Unterbietungs-Konkurrenz gegen einen Kartellbrüchigen zu unterbinden, heute nicht gegeben. Ebenso sind die schwarzen Listen der Börsenhändler gegen solche, die den Differenzeinwand erheben, bei uns nicht antastbar, während im Mittelalter die entsprechenden Statutenbestimmungen der Kaufleute gegen die Anrufung der geistlichen Gerichte sicher kanonisch-rechtlich nichtig waren, dennoch aber fortbestanden. Und auch da muß das staatliche Recht heute die Zwangsmacht der Verbände weitgehend dulden, wo sie nicht nur gegen Mitglieder, sondern auch oder gerade gegen Außenstehende sich wendet und diese ihren Normen zu unterwerfen trachtet (Kartelle nicht nur gegen Mitglieder, sondern gegen solche, die sie zum Eintritt zu zwingen beabsichtigen; Gläubigerverbände gegen Schuldner und Mieter).
Es stellt einen wichtigen solchen Grenzfall des soziologischen Begriffs von zwangsgarantiertem »Recht« dar, wenn seine Garanten nicht – wie in den modernen politischen (und ebenso den, eigenes »Recht« anwendenden religiösen) Gemeinschaften durchweg – den Charakter eines »Richters« oder anderen »Organs«, also prinzipiell eines nicht durch »persönliche« Beziehungen mit dem Prätendenten des subjektiven Rechts verknüpften, vielmehr »unparteiischen« und persönlich »uninteressierten« Dritten haben, sondern wenn gerade umgekehrt nur die durch bestimmte nahe persönliche Beziehungen mit dem Rechtsprätendenten verknüpften Genossen, also z.B. seine »Sippe«, ihm die Zwangsmittel zur Verfügung halten, und wenn also, wie der »Krieg« im modernen Völkerrecht, so hier die »Rache« oder »Fehde« des Interessenten und seiner Blutsfreunde die einzige oder normale Form zwangsweiser Geltendmachung subjektiver Rechte ist. In diesem Fall besteht das subjektive »Recht« des oder der Einzelnen für die soziologische Betrachtung lediglich vermöge der Chance, daß die Sippengenossen ihrer (primär ursprünglich durch die Scheu vor dem Zorn übersinnlicher Autoritäten garantierten) Pflicht der Fehdehilfe und Blutrache nachkommen und daß sie auch die Macht besitzen, einem prätendierten Recht Nachdruck, wenn auch nicht notwendig endgültigen Sieg, zu verleihen. – Den Sachverhalt: daß die »Beziehungen«, das heißt: das aktuelle oder potentielle Handeln, konkreter oder nach Merkmalen konkret angebbarer Personen den Inhalt subjektiver Rechte bilden, wollen wir die Existenz eines »Rechtsverhältnisses« zwischen den betreffenden Personen nennen. Sein Inhalt an subjektiven Rechten kann je nach dem stattfindenden faktischen Handeln wechseln. In diesem Sinne kann auch ein konkreter »Staat« als »Rechtsverhältnis« bezeichnet werden, auch dann, wenn (im theoretischen Grenzfall) der Herrscher allein als subjektiv – zum Befehlen – berechtigt gilt und also die Chancen aller anderen Einzelnen nur als Reflexe seiner »Reglements« bestehen.