Bedeutung des Gewohnten für die Rechtsbildung


Ein Gebiet, in welches die Rechtsordnung in lückenloser Stufenleiter übergeht, ist dasjenige der »Konvention « und weiterhin – was wir begrifflich davon scheiden wollen – der »Sitte «. Wir wollen unter »Sitte« den Fall eines typisch gleichmäßigen Verhaltens verstehen, welches lediglich durch seine »Gewohntheit« und unreflektierte »Nachahmung« in den überkommenen Geleisen gehalten wird, ein »Massenhandeln« also, dessen Fortsetzung dem Einzelnen von niemandem in irgendeinem Sinn »zugemutet« wird. Unter »Konvention« wollen wir dagegen den Fall verstehen, daß auf ein bestimmtes Verhalten zwar eine Hinwirkung stattfindet, aber durch keinerlei physischen oder psychischen Zwang, und überhaupt zum mindesten normalerweise und unmittelbar durch gar keine andere Reaktion als durch die bloße Billigung oder Mißbilligung eines Kreises von Menschen, welche eine spezifische »Umwelt« des Handelnden bilden. Streng zu scheiden ist die »Konvention« von dem Fall des »Gewohnheitsrechts«. Diesen wenig brauchbaren Begriff selbst kritisieren wir hier nicht. Die Geltung als Gewohnheitsrecht soll nach der üblichen Terminologie ja gerade die Chance bedeuten, daß für die Realisierung einer nicht kraft Satzung, sondern nur kraft Einverständnis geltenden Norm ein Zwangsapparat sich einsetzen wird. Bei der Konvention dagegen fehlt gerade der »Zwangsapparat«: der (wenigstens relativ) fest abgegrenzte Umkreis von Menschen, welche sich für die spezielle Aufgabe des Rechtszwangs (bedient sich dieser nun auch nur »psychischer« Mittel) ein- für allemal bereit halten. Schon der Tatbestand der bloßen nackten konventionsfreien »Sitte« kann auch ökonomisch von weittragender Bedeutung sein. Der ökonomische Bedürfnisstand insbesondere, die Grundlage aller »Wirtschaft«, ist in der umfassendsten Weise durch bloße »Sitte« bestimmt, welche der Einzelne, in gewissem Umfang wenigstens, ohne irgendwelche Mißbilligung zu finden, abschütteln könnte, der er aber sich faktisch meist sehr schwer entzieht und deren Alterationen gewöhnlich nur langsam, auf dem Wege der Nachahmung irgendeiner anderen »Sitte« eines anderen Menschenkreises sich vollziehen. Wir werden sehen5, daß Gemeinsamkeiten bloßer »Sitten« für die Entstehung sozialer Verkehrsgemeinschaften und für das Konnubium wichtig werden können und daß sie auch einen gewissen, allerdings in seiner Tragweite schwer bestimmbaren, Einschuß in die Bildung von »ethnischen« Gemeinsamkeitsgefühlen zu geben pflegen und dadurch gemeinschaftsbildend wirken können. Vor allem aber ist die Innehaltung des faktisch »gewohnt« Gewordenen als solchen ein so überaus starkes Element alles Handelns und folglich auch alles Gemeinschaftshandelns, daß der Rechtszwang da, wo er aus einer »Sitte« (z.B. durch Berufung auf das »Übliche«) eine »Rechtspflicht« macht, ihrer Wirksamkeit oft fast nichts hinzufügt und, wo er sich gegen sie wendet, sehr oft in dem Versuch, das faktische Handeln zu beeinflussen, gescheitert ist. Erst recht aber kann der Tatbestand der »Konvention«, da der Einzelne in unzähligen Lebensbeziehungen auf durchaus freiwilliges, durch keinerlei diesseitige oder jenseitige Autorität garantiertes Entgegenkommen seiner Umwelt angewiesen ist, für sein Verhalten oft weit bestimmender werden als die Existenz eines Rechtszwangsapparates.

Der Übergang von bloßer »Sitte« zur »Konvention« ist natürlich gänzlich flüssig. Je weiter rückwärts, desto umfassender ist die Art des Handelns und speziell auch des Gemeinschaftshandelns ausschließlich durch die Eingestelltheit auf das »Gewohnte« rein als solches bestimmt, scheinen Abweichungen davon äußerst beunruhigend [und] auf den Durchschnittsmenschen psychisch ganz ähnlich zu wirken wie Störungen organischer Funktionen und [scheint die Aufrechterhaltung des Gewohnten] hierdurch garantiert zu sein. Der Fortschritt von hier zu dem zunächst zweifellos vage und dumpf empfundenen »Einverständnis«-Charakter des Gemeinschaftshandelns, d.h. zur Konzeption einer »Verbindlichkeit« bestimmter gewohnter Arten des Handelns, ist nach Umfang und Inhalt des Gebiets, das er ergreift, heute aus den Arbeiten der Ethnographie erst höchst unbestimmt erkennbar und kümmert uns deshalb hier nicht. Es wäre absolut Frage der Terminologie und Zweckmäßigkeit, in welchem Stadium dieses Prozesses man dann die subjektive Konzeption einer »Rechtspflicht« annehmen will. Objektiv gab es die Chance des faktischen Eintritts gewaltsamen Reagierens gegen bestimmte Arten des Handelns, wie bei den Tieren, so bei den Menschen von jeher, ohne daß man aber im mindesten behaupten könnte: daß in solchen Fällen subjektiv so etwas wie eine »Einverständnisgeltung« vorliege oder überhaupt ein deutlich erfaßter »gemeinter Sinn« des betreffenden Handelns. Rudimente einer »Pflicht«-Konzeption bestimmen das Verhalten mancher Haustiere in vielleicht größerem Umfang als das eines »Urmenschen«, – wenn wir diesen höchst bedenklichen Begriff hier einmal als in diesem Fall unmißverständlich zulassen. Wir kennen aber die subjektiven Vorgänge im »Urmenschen« nicht, und mit den stets wiederkehrenden Redensarten von der angeblichen absoluten Urtümlichkeit oder gar »Apriorität« des »Rechts« oder der Konvention kann keine empirische Soziologie etwas anfangen. Nicht weil eine »Regel« oder »Ordnung« als »verbindlich« gilt, zeigt das Sichverhalten des »Urmenschen« nach außen, insbesondere zu seinesgleichen, faktische »Regelmäßigkeiten«, sondern umgekehrt: an die von uns in ihrer psychophysischen Realität hinzunehmenden, organisch bedingten Regelmäßigkeiten knüpft sich die Konzeption »verbindlicher Regeln« an. Daß die innere seelische »Eingestelltheit« auf jene Regelmäßigkeiten fühlbare »Hemmungen« gegen Neuerungen in sich schließt – wie jeder das auch heute in seinem Alltag an sich erfahren kann –, das, müssen wir annehmen, ist für den Glauben an jene »Verbindlichkeit« eine sehr starke Stütze.


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Seite zuletzt aktualisiert: 25.10.2004 
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