Erfahrung - Kantianer
Bei den neueren Kantianern wird das a priori (s. d.) der Erfahrung betont, teils mit mehr rationalistischer Färbung (O. LIEBMANN, COHEN, NATORP u. a), teils mehr empiristisch. So bei A. LANGE, nach welchem Erfahrung der Prozess ist, durch welchen die Erscheinungen Von Dingen in uns entstehen (Gesch. d. Mat. II, 27). Der (nicht streng Kantsche) Kritizismus (s. d.) erkennt in der Erfahrung nichtempirische Faktoren an. Nach H. SPENCER ist aller Intellekt durch die Erfahrung erworben, aber auch durch Erfahrungen der Vorfahren, die für das Individuum ein Apriori (s. d.) bilden (Psychol. II, § 332). Ähnlich LEWES. E. V. HARTMANN betrachtet als Konstituenten der Erfahrung »unbewußte Kategorialfunktionen« (s. Kategorien). Die »mittelbare« Erfahrung bedeutet die »hypothetisch erschlossenen Dinge an sich im objektiv realen Raum« (Gesch. d. Met. II, 31). Nach VOLKELT wirken Erfahrung und Denken zusammen. Erfahrung ist »unmittelbares, scheidewandloses Innewerden« (Erf. u. Denk. S. 64). »Reine« Erfahrung ist das »Wissen von den eigenen Bewußtseinsvorgängen« (l.c. S. 60). Nach EUCKEN bedarf das Erkennen der Erfahrung, »aber es kann nicht aus ihr schöpfen, ohne die äußere Welt in Begriffe und Gesetze, d.h. in geistige Größen unzuwandeln, sie damit aber über den ersten Befund weit hinauszuheben« (Kampf um e. neuen Lebensinh. S. 35 f.). Nach LAZARUS ist die Erfahrung nicht ein bloßes Sinnesproduct, sondern ein Erzeugnis der Apperzeption (Leb. d. Seele II2, 58). Nach HAGEMANN ist die Erfahrung nicht die einzige Erkenntnisquelle, sie enthält nicht den Grund der Tatsachen (Log. u. Noet. S.143). RIEHL erklärt, die Erfahrung sei »ein sozialer, kein individuell-psychologischer Begriff« (Phil. Krit. II 2, 64). Sie ist das Produkt des »gemeinschaftlichen oder intersubjektiven Denkens«, an bestimmte »Regeln des Denkverkehrs« gebunden (l.c. S. 65). Die Erfahrung weist zugleich auf etwas hin, was selbst nicht Erfahrung ist (l.c. II 1, 3), das »Überempirische« in der Erfahrung, das Apriori (s. d.), ist. Es gibt nur eine Erfahrung, die zwei Richtungen oder Seiten hat, die »beide prinzipiell gleichwertige coordinierte Arten des Bewußtseins sind« (l.c. II 1, 4). Das Denken ergänzt die Wahrnehmung; reine Erfahrung kann keine Wissenschaft begründen (Zur Einf. in d. Philos. S. 69). Reine Erfahrung »ist nichts Gegebenes; sie ist ein Produkt der Abstraktion, ein Educt, ein Auszug aus der wirklich gegebenen Erfahrung. Diese aber ist empfangen in den Formen des Anschauens und entwickelt nach den Formen des Denkens«. Erfahrung ohne Denken ist nicht möglich (l.c. S. 244). WUNDT erklärt, nur aus den Wechselwirkungen von Erfahrung und Denken erwachse Erkenntnis. Alles Denken ist an einen empirischen Inhalt gebunden, und jeder empirische Inhalt wird durch ein Denken verarbeitet. »Reine Erfahrung und reines Denken sind daher begriffliche Fictionen, die in der wirklichen Erfahrung und im wirklichen Denken nicht vorkommen« (Syst. d. Philos.2, S. 208 ff.; Phil. Stud. XIII, 6). Die Erfahrung bedarf der Berichtigung und Erweiterung durch das Denken (Phil. Stud. VII, 47). »Äußere« und »innere« Erfahrung bezeichnen »nicht verschiedene Gegenstände, sondern verschiedene Gesichtspunkte..., die wir bei der Auffassung und wissenschaftlichen Bearbeitung der an sich einheitlichen Erfahrung anwenden. Diese Gesichtspunkte werden aber dadurch nahe gelegt, daß sich jede Erfahrung unmittelbar in zwei Faktoren sondert: in einen Inhalt, der uns gegeben wird, und in unsere Auffassung dieses Inhalts. Wir bezeichnen den ersten dieser Faktoren als die Objekte der Erfahrung, den zweiten als das erfahrende Subjekt. Daraus entspringen zwei Richtungen für die Bearbeitung der Erfahrung. Die eine ist die der Naturwissenschaft: sie betrachtet die Objekte der Erfahrung in ihrer von dem Subjekt unabhängig gedachten Beschaffenheit. Die andere ist die der Psychologie: sie untersucht den gesamten Inhalt der Erfahrung in seinen Beziehungen zum Subjekt und in den ihm von diesem unmittelbar beigelegten Eigenschaften«. Der naturwissenschaftliche Standpunkt ist der der »mittelbaren«, der psychologische der Standpunkt der »unmittelbaren« Erfahrung (Gr. d. Psychol.5, S. 3). »Indem... die Erscheinungen in dem Sinne als äußere erscheinen, daß sie auch dann noch unverändert stattfinden würden, wenn das erkennende Subjekt überhaupt nicht vorhanden wäre, wird die naturwissenschaftliche Form der Erfahrung auch die äußere Erfahrung genannt. Indem dagegen... alle Erfahrungsinhalte als unmittelbar in dem erkennenden Subjekt selbst gelegene betrachtet werden, heißt der psychologische Standpunkt der der innern Erfahrung« (l.c. S. 387; Phil. Stud. XII, 23; Syst. d. Philos.2, S. 147, 172). KÜLPE betont: »Die Wissenschaft liefert uns sehr oft eine Ergänzung der Erfahrung, nicht bloß deren Nachbildung oder Verallgemeinerung.« Die Gedanken haben eine selbständige Gesetzlichkeit (Philos. d. Gegenwart, S. 20 f.).