Die religiöse Stellung der neuen Jugend
Die Bewegung der erwachenden Jugend weist die Richtung jenes unendlich fernen Punktes, in dem wir Religion wissen. Und Bewegung überhaupt ist uns schon die tiefste Gewähr ihrer rechten Richtung. Die Jugend, die in Deutschland erwacht, steht allen Religionen und Weltanschauungsbünden gleich fern. Sie nimmt auch keine religiöse Stellung ein. Aber für die Religion bedeutet sie etwas und in ganz neuem Sinne beginnt ihr die Religion bedeutungsvoll zu werden. Die Jugend steht im Zentrum, wo das Neue wird. Ihre Not ist am größten und die Hilfe des Gottes am nächsten ihr.
Nirgends so wie in der Jugend kann die Religion die Gemeinschaft ergreifen und nirgends kann der Drang nach ihr konkreter sein, innerlicher, durchdringender. Denn der Bildungsweg der jungen Generation ist sinnlos ohne sie. Er bleibt leer und qualvoll ohne die Stelle, an der er sich gabelt zum entscheidenden Entweder-Oder. Diese Stelle soll einer ganzen Generation gemeinsam sein und dort steht der Tempel ihres Gottes.
Das religiöse Sehnen der Alten überkam diese spät und vereinzelt. Es war ein Entschluß im Verborgenen, an der einzelnen Wegscheide, nicht an der einzigen. Die Entscheidung trug keine Gewähr in sich, sie ermangelte der religiösen Objektivität. So blieb immer der einzelne der Religion gegenüber.
Und nun ist eine Jugend zur Stelle, die mit der Religion verwachsen ist, die ihr Körper ist, an dem sie ihre eigenen Nöte erleidet. Eine Generation will wieder am Scheidewege stehen, aber nirgends ist die Wegscheide. Jede Jugend mußte wählen, aber die Gegenstände ihrer Wahl waren ihr bestimmt. Die neue Jugend steht vor dem Chaos, in dem die Gegenstände ihrer Wahl (die heiligen) verschwinden. Kein »rein« und »unrein«, »heilig« und »verworfen« leuchtet ihr voran, sondern nur Schulmeisterworte »erlaubt-verboten«. Daß sie sich vereinsamt fühlt und ratlos, bürgt für ihren religiösen Ernst, bürgt dafür, daß Religion ihr nicht mehr irgendeine Form von Geist bedeutet oder einen gangbaren Weg, die zu Tausenden sich kreuzen und die sie jeden Tag betreten könnte. Sondern nach nichts verlangt sie dringender als nach der Wahl, Möglichkeit der Wahl, der heiligen Entscheidung überhaupt. Die Wahl schafft sich ihre Gegenstände - dies ist ihr religionsnächstes Wissen.
Die Jugend, die sich zu sich selbst bekennt, bedeutet Religion, die noch nicht ist. Umgeben vom Chaos der Dinge und Menschen, deren keine geheiligt, keine verworfen sind, ruft sie nach Wahl. Und wird nicht eher aus tiefstem Ernst wählen können, bis die Gnade das Heilige und Unheilige neu geschaffen hat. Sie vertraut, daß Heiliges und Verdammtes sich in dem Augenblick offenbaren, da ihr gemeinsamer Wille zur Wahl sich auf das höchste gespannt hat.
So lange aber lebt sie ein schwer verständliches Leben, voller Hingabe und Mißtrauen, Verehrung und Skepsis, Selbstaufopferung und Ichsucht. Dieses Leben ist ihre Tugend. Kein Ding, keinen Menschen darf sie verwerfen, denn in jedem (in der Litfaßsäule und im Verbrecher) kann das Symbol oder der Heilige erstehen. Und doch - an niemanden darf sie sich ganz verschenken, niemals ihr Inneres im Helden, den sie verehrt, und im Mädchen, das sie liebt, ganz wiederfinden. Denn die Beziehung des Helden und der Geliebten zum Letzten, Wesentlichen: zum Heiligen sind dunkel und ungewiß. Ungewiß unser eigenes Ich, das wir in der Wahl noch nicht fanden. Viele Züge mag diese Jugend mit den ersten Christen teilen, denen auch die Welt so überfließend schien von Heiligem, das in jedem erstehen konnte, daß es ihnen das Wort und die Tat benahm. Die Lehre vom Nicht-Handeln steht dieser Jugend nahe. Und doch zwingt ihre grenzenlose Skepsis (die nichts andres ist, als grenzenlos vertrauen) sie, den Kampf zu lieben. Auch im Kampfe kann Gott erstehen. Kämpfen heißt nicht den Feind verdammen. Sondern ihre Kämpfe sind Gottesurteile. Kämpfe, in denen diese Jugend gleich bereit ist, zu siegen wie zu unterliegen. Weil es einzig wichtig ist, daß aus diesen Kämpfen das Heilige in seiner Gestalt sich offenbare. Dieses Kämpfen hält sie auch fern von der Mystik, die dem einzelnen nur Erlösung vortäuschen würde, solange die religiöse Gemeinschaft noch nicht besteht. Die Jugend weiß, daß kämpfen nicht hassen heißt, daß es ihre eigene Unvollkommenheit ist, wenn sie noch Widerstände findet, noch nicht alles mit Jugend durchdringt. Im Kampfe, im Siegen wie Unterliegen, will sie, wählend zwischen dem Heiligen und Ungeweihten, sich finden. Sie weiß, daß sie in diesem Augenblick keinen Feind mehr kennen wird, ohne darum quietistisch zu sein.
Den Heutigen aber wird es langsam innewerden, daß eine solche Jugend kein Gegenstand von Kultusdebatten, Disziplinarmaßregeln und Preßhetze ist. Gegen ihre Feinde ficht sie in einer Tarnkappe. Wer sie bekämpft, kann sie nicht kennen. Aber diese Jugend wird ihre schließlich ohnmächtigen Gegner noch durch die Geschichte adeln.