Goethe
Als Johann Wolfgang Goethe am 28. August 1749 in Frankfurt a.M. zur Welt kam, hatte die Stadt 30 000 Einwohner. In Berlin, der größten Stadt des Deutschen Reiches, zählte man damals 126 000, in Paris und London jedoch zur gleichen Zeit je schon über 500 000. Diese Ziffern sind für die politische Lage des damaligen Deutschland charakteristisch, denn in ganz Europa ist die bürgerliche Revolution von den Großstädten abhängig gewesen. Anderseits ist für Goethe bezeichnend, daß er während seines ganzen Lebens starke Abneigung gegen den Aufenthalt in Großstädten gehabt hat. So hat er Berlin nie betreten, seine Heimatstadt Frankfurt in späteren Jahren nur zweimal widerwillig aufgesucht, den größten Teil seines Lebens in einer kleinen Residenz von 6 000 Einwohnern zugebracht und näher nur die italienischen Zentren Rom und Neapel kennen gelernt.
Das neue Bürgertum, dessen Kulturträger, anfänglich auch politischer Sachwalter der Dichter war, zeichnet in seinem Heranreifen sich im Stammbaum des Dichters deutlich ab. Die männlichen Glieder in Goethes Ahnenreihe arbeiteten sich aus Handwerkerkreisen empor und heirateten Frauen aus alten Gelehrten- oder gesellschaftlich höher stehenden Familien. In der väterlichen Linie war der Urgroßvater ein Hufschmied, der Großvater erst Schneider dann Gastwirt, der Vater, Johann Caspar Goethe, zunächst einfacher Advokat. Bald brachte er es zum Titel eines kaiserlichen Rates, und als es ihm gelungen war, die Tochter des Schultheißen Textor, Katharina Elisabeth, zur Frau zu gewinnen, rückte er endgültig unter die herrschenden Familien der Stadt ein.
Die Jugend im Patrizierhause einer freien Reichsstadt festigte in dem Dichter den angestammten rheinfränkischen Grundzug: Reserve gegen jede politische Bindung und einen desto wacheren Sinn für das individuell Angemessene und Förderliche. Der enge Familienkreis – Goethe hatte nur eine Schwester, Cornelia – erlaubte dem Dichter schon früh die Konzentration in sich selbst. Trotzdem verboten die im Elternhause herrschenden Anschauungen ihm natürlich, einen Künstlerberuf ins Auge zu fassen. Der Vater nötigte Goethe, Jura zu studieren. Dieser bezog mit sechzehn Jahren zunächst die Universität Leipzig und kam mit einundzwanzig Jahren, im Sommer 1770, als Student nach Straßburg.
In Straßburg zeichnet sich zum ersten Mal deutlich der Bildungskreis ab, aus dem Goethes Jugenddichtung hervorging. Goethe und Klinger aus Frankfurt, Bürger und Leisewitz aus Mitteldeutschland, Voß und Claudius aus Holstein, Lenz aus Livland; Goethe als Patrizier, Claudius als Bürger, Holtei, Schubart und Lenz als Lehrer- oder Prediger-, Maler Müller, Klinger und Schiller als Kleinbürgersöhne, Voß als Enkel eines Leibeigenen, endlich Grafen wie Christian und Fritz von Stolberg, sie alle wirkten zusammen, um auf ideologischem Wege das »Neue« in Deutschland heraufzuführen. Es war aber die verhängnisvolle Schwäche dieser spezifisch deutschen revolutionären Bewegung, daß sie mit den ursprünglichen Parolen der bürgerlichen Emanzipation, der Aufklärung, sich nicht zu versöhnen vermochte. Die bürgerliche Masse, die »Aufgeklärten«, blieben durch eine ungeheure Kluft von ihrer Avant-Garde getrennt. Die deutschen Revolutionäre waren nicht aufgeklärt, die deutschen Aufklärer waren nicht revolutionär. Die einen gruppierten ihre Ideen um Offenbarung, Sprache, Gesellschaft, die anderen um Vernunft- und Staatslehre. Goethe übernahm später das Negative bei der Bewegungen: mit der Aufklärung stand er gegen den Umsturz, mit dem Sturm und Drang gegen den Staat. In dieser Spaltung des deutschen Bürgertums lag es begründet, daß es den ideologischen Anschluß an den Westen nicht fand, und niemals ist Goethe, der sich später eingehend mit Voltaire und Diderot beschäftigt hat, dem Verständnis französischen Wesens ferner gewesen als in Straßburg. Besonders bezeichnend seine Erklärung zu dem berühmten Manifest des französischen Materialisten, Holbachs »System der Natur«, in dem schon der schneidende Luftzug der französischen Revolution weht. Es kam ihm »so grau, so cimmerisch, so totenhaft« vor, daß er wie vor einem Gespenst zurückschauderte. Es erschien ihm als die »rechte Quintessenz der Greisenheit, unschmackhaft, ja abgeschmackt«. Ihm ward hohl und leer in dieser »tristen atheistischen Halbnacht«. So empfand der schöpferische Künstler aber auch der Frankfurter Patriziersohn. Goethe hat später der Sturm und Drang-Bewegung ihre beiden gewaltigsten Manifeste, den »Götz« und den »Werther«, gegeben. Aber ihre universale Gestalt, in der sie sich zu einem Weltbild zusammenschloß, dankt sie Johann Gottfried Herder. In seinen Briefen und Gesprächen mit Goethe, Hamann, Merck wurden die Losungen der Bewegung von ihm ausgegeben: Das »Originalgenie«, »Sprache: Offenbarung des Volksgeistes«, »Gesang: die erste Sprache der Natur«, »Einheit von Erd- und von Menschheitsgeschichte«. In diesen Jahren bereitete Herder unter dem Titel »Stimmen der Völker in Liedern« seine große Anthologie der Volkslieder vor, die den Erdkreis von Lappland bis Madagaskar um faßte und auf Goethe den größten Einfluß hatte. Denn in dessen Jugendlyrik vereint sich die Erneuerung der Liedform durchs Volkslied mit der großen Befreiung, die der Göttinger Hainbund gebracht hatte. »Voß emanzipierte die marschländischen Bauern für die Dichtung. Er vertrieb in der Dichtung die konventionellen Gestalten des Rokoko durch Mistgabeln, Dreschflegel und den niedersächsischen Dialekt, der vorm Gutsherrn nur noch halb die Mütze abnimmt.« Aber weil bei Voß Beschreibung noch immer den Grundton der Lyrik bildet (so wie bei Klopstock noch immer Rhetorik der hymnischen Bewegung zugrunde liegt), kann man erst seit Goethes Straßburger Dichtungen (»Willkommen und Abschied«, »Mit einem gemalten Band«, »Mailied«, »Heideröslein«) von der Befreiung der deutschen Lyrik aus den Kreisen der Beschreibung, Didaktik und Handlung reden. Eine Befreiung, die freilich nur immer ein prekäres, transitorisches Stadium sein konnte, und während sie im neunzehnten Jahrhundert die deutsche Lyrik ihrem Verfall entgegenführte, von Goethe schon in der Altersdichtung, dem »West-östlichen Divan« bewußtermaßen eingeschränkt wurde. In Gemeinschaft mit Herder verfaßte Goethe 1773 das Manifest »Von deutscher Art und Kunst« mit jener Studie über Erwin von Steinbach, den Erbauer des Straßburger Münsters, die später Goethes fanatischen Klassizismus den Romantikern bei ihrer Wiederentdeckung der Gotik so besonders anstößig machte.
Aus dem gleichen Schaffenskreis ging 1772 der »Götz von Berlichingen« hervor. Die Spaltung des deutschen Bürgertums kommt in diesem Werke deutlich zum Ausdruck. Die Städte und Höfe müssen hier als Vertreter des ins Realpolitische vergröberten Vernunftprinzips die Schar geistloser Aufklärer verkörpern, der in dem Führer der aufständischen Bauernbevölkerung der Sturm und Drang sich entgegenstellt. Der historische Hintergrund dieses Werkes, der deutsche Bauernkrieg, könnte dazu verleiten, ein echt revolutionäres Bekenntnis in ihm zu sehen. Das ist es nicht, denn im Grunde sind es die Schmerzen der den wachsenden Fürsten erliegenden Reichsritterschaft, des alten Herrenstandes, die in Götz' Aufruhr sich Luft machen. Götz kämpft und fällt für sich zunächst und dann für seinen Stand. Der Kerngedanke des Schauspiels ist nicht Aufruhr sondern Beharrung. Götzens Tat ist ritterlich rückschrittlich, ist feiner und liebenswürdiger die Tat eines Herrenmenschen, Ausdruck eines Einzeldranges, nicht zu vergleichen mit den brutalen Brandfackelwerken der Räuber. Es spielt sich an diesem Stoff zum ersten Male der Vorgang ab, der für die Dichtung Goethes typisch wird: Als Dramatiker unterliegt er immer wieder der Anziehungskraft, mit welcher revolutionäre Stoffe ihn an sich ziehen, um dann entweder von der Sache abzubiegen oder als Fragment sie liegen zu lassen. Dem ersten Typus gehören »Götz von Berlichingen« und »Egmont« an, dem zweiten »Die natürliche Tochter«. Wie Goethe bereits mit diesem ersten Drama im Grunde der revolutionären Energie der Sturm und Drang-Bewegung sich entzog, tritt am deutlichsten im Vergleich mit Dramen seiner Altersgenossen hervor. Im Jahre 1774 ließ Lenz seinen »Hofmeister oder die Vorteile der Privaterziehung« erscheinen, die unerbittlich in jene soziale Bedingtheit des damaligen Literatentums hineinleuchten, die auch für Goethes Entwicklung folgenreich wurden. Das deutsche Bürgertum war ja bei weitem nicht stark genug, um aus eigenen Mitteln einen ausgebreiteten Literaturbetrieb unterhalten zu können. Die Folge jener Verhältnisse war, daß die Abhängigkeit der Literatur vom Feudalismus auch dann noch bestehen blieb, wenn die Sympathie des Literaten bei der Bürgerklasse stand. Seine kümmerlichen Umstände zwangen ihn, Freitische anzunehmen, als Hofmeister adlige Junker zu unterrichten und mit jungen Prinzen auf Reisen zu gehen. Endlich drohte diese Abhängigkeit noch, ihn um den Ertrag seines literarischen Schaffens zu bringen, denn nur solche Werke, die durch Kabinetts-Erlaß ausdrücklich bezeichnet waren, blieben in den Ländern des deutschen Reiches vor Nachdruck geschützt.
Im Jahre 1774 erschienen nach Goethes Berufung an das Reichskammergericht in Wetzlar »Die Leiden des jungen Werthers«. Das Buch war vielleicht der größte literarische Erfolg aller Zeiten. Hier vollendete Goethe den Typus der genialen Autorschaft. Wenn nämlich der große Autor seine Innenwelt von Anfang an zur öffentlichen Angelegenheit, die Zeitfragen restlos zu Fragen seiner persönlichen Erfahrungs- und Denkwelt macht, so stellt Goethe in seinen Jugendwerken diesen Typus des großen Autors in unerreichter Vollendung dar. In »Werthers Leiden« fand das damalige Bürgertum seine Pathologie ähnlich scharfblickend und schmeichelhaft zugleich bezeichnet wie das heutige in der Freudschen Theorie. Goethe verwob seine unglückliche Liebe zu Lotte Buff, der Braut eines Freundes, mit den Liebesabenteuern eines jungen Literaten, dessen Selbstmord Aufsehn gemacht hatte. In den Stimmungen Werthers entfaltet sich der Weltschmerz der Epoche in allen Nuancen. Werther – das ist nicht nur der unglücklich Liebende, der in seiner Erschütterung Wege in die Natur findet, die seit der »Nouvelle Helolse« von Rousseau kein Liebender mehr gesucht hatte – er ist auch der Bürger, dessen Stolz an den Schranken der Klasse sich wund stößt und im Namen der Menschenrechte, ja im Namen der Kreatur seine Anerkennung fordert. In ihm läßt Goethe für lange Zeit zum letzten Mal das revolutionäre Element in seiner Jugend zu Worte kommen. Wenn er in der Rezension eines Wielandschen Romans geschrieben hatte: »Die marmornen Nymphen, die Blumen, Vasen, die buntgestickte Leinwand auf den Tischen dieses Völkchens, welchen hohen Grad der Verfeinerung setzen sie nicht voraus? welche Ungleichheit der Stände, welchen Mangel, wo so viel Genuß; welche Armut, wo so viel Eigentum ist«, so heißt es jetzt schon ein wenig gemildert: »Man kann zum Vorteile der Regeln viel sagen, ungefähr was man zum Lobe der bürgerlichen Gesellschaft sagen kann.« In »Werther« findet die Bourgeoisie den Halbgott, der sich für sie opfert. Sie fühlt sich erlöst, ohne befreit zu sein; daher der Protest des unbestechlich klassenbewußten Lessing, der hier den Bürgerstolz gegen den Adel vermißt und vom »Werther« einen zynischen Schluß verlangte.
Nach den hoffnungslosen Komplikationen der Liebe zu Charlotte Buff konnte Goethe die Aussicht einer bürgerlichen Ehe mit einem schönen, bedeutenden und angesehenen Frankfurter Mädchen als Lösung erscheinen. »Es war ein seltsamer Beschluß des hohen über uns Waltenden, daß ich in dem Verlaufe meines wundersamen Lebensganges doch auch erfahren sollte, wie es einem Bräutigam zu Mute sei.« Aber die Verlobung mit Lili Schönemann war doch nur eine stürmische Episode in seinem mehr als dreißigjährigen Kampf gegen die Ehe. Daß Lili Schönemann wahrscheinlich die bedeutendste, sicher aber die freieste Frau war, die in Goethes nächste Nähe getreten ist, konnte zuletzt seinen Widerstand, sich an sie zu binden, nur steigern. Er flüchtete im Mai 1775 in eine Schweizer Reise, die er gemeinsam mit dem Grafen Stolberg unternahm. Markiert wurde diese Reise für ihn durch die Bekanntschaft mit Lavater. In dessen Physiognomik, die damals in Europa Sensation machte, erkannte Goethe etwas vom Geist seiner eigenen Naturbetrachtung. Späterhin mußte die innige Verbindung, welche dies Studium der kreatürlichen Welt bei Lavater mit dem Pietismus einging, Goethe verstimmen.
Auf der Rückreise brachte ein Zufall die Bekanntschaft mit dem Erbprinzen, späteren Herzog Karl August von Sachsen-Weimar. Kurz darauf folgte Goethe der Einladung des Prinzen an seinen Hof. Aus seinem beabsichtigten Besuch wurde ein lebenslänglicher Aufenthalt. Am 7. November 1775 traf Goethe in Weimar ein. Im gleichen Jahre wurde er Legationsrat mit Sitz und Stimme im Staatsrat. Goethe selber hat den Entschluß, in den Dienst des Herzogs Karl August zu treten, von Anfang an als folgenschwere Bindung seines ganzen Lebens empfunden. Zweierlei war für diesen Entschluß bestimmend. In einer Zeit gesteigerter politischer Erregungen des deutschen Bürgertums erlaubte ihm seine Stellung, nahen Kontakt mit der politischen Wirklichkeit zu erlangen. Indem sie anderseits als hochgestelltes Mitglied eines Beamtenapparats ihn einordnete, entging er der Notwendigkeit radikaler Entscheidung. Bei aller inneren Zwiespältigkeit gab diese Stellung seiner Wirksamkeit und seinem Auftreten einen zumindest äußerlichen Rückhalt. Wie schwer er erkauft war, hätte Goethe – wenn es ihm nicht sein eigenes, unbestechlich waches Bewußtsein gegenwärtig gehalten hätte – aus den fragenden, enttäuschten, entrüsteten Stimmen seiner Freunde entnehmen können. Klopstock, selbst Wieland nahmen wie später Herder Anstoß an der Weitherzigkeit, mit der Goethe den Anforderungen seiner Stellung und mehr noch denen, die Lebensweise und Person des Großherzogs an ihn machten, entgegenkam. Denn Goethe, der Verfasser des »Götz«, des »Werther«, repräsentierte die bürgerliche Fronde. Auf seinem Namen stand umso mehr, als damals die Tendenzen kaum einen anderen Ausdruck als den persönlichen fanden. Im achtzehnten Jahrhundert war der Autor noch Prophet und seine Schrift die Ergänzung eines Evangeliums, das sich am vollständigsten durch sein Leben selbst auszusprechen schien. Die unermeßliche, persönliche Geltung, die Goethes erste Werke – es waren Botschaften – ihm verliehen hatten, ging ihm in Weimar verloren. Da man aber nur das Ungeheure von ihm erwarten wollte, bildeten sich die unsinnigsten Legenden. Goethe betränke sich täglich an Branntwein, und Herder predige in Stiefeln und Sporen und reite nach der Predigt dreimal um die Kirche – so stellte man sich das Genietreiben dieser ersten Monate vor. Folgenreicher aber als das, was in Wahrheit diesen Übertreibungen zu Grunde gelegen hat, war die Freundschaft zwischen Goethe und Karl August, deren Grund damals gelegt wurde, und die später für Goethe die Garantien einer umfassenden, geistigen und literarischen Regentschaft gab: der ersten universaleuropäischen nach Voltaire. »Was das Urteil der Welt betrifft,« hat damals der neunzehnjährige Karl August geschrieben, »welche mißbilligen würde, daß ich den D. Goethe in mein wichtigstes Collegium setze, ohne daß er zuvor Amtmann, Professor, Kammer- oder Regierungsrat war, dieses verändert gar nichts«.
Das Leid und die Zerrissenheit dieser ersten Weimarer Jahre hat sich abgeformt und hat neue Nahrung gefunden in Goethes Liebe zu Charlotte von Stein. Die Briefe, die er in den Jahren 1776-1786 an sie gerichtet hat, lassen stilistisch den stetigen Übergang von Goethes früher revolutionärer, »die Sprache um ihre Privilegien prellenden« Prosa zu dem großen beruhigten Rhythmus erkennen, den jene Briefe atmen, die er an sie von 1786-1788 in Italien diktiert hat. Ihrem Gehalt nach sind sie für die Auseinandersetzung des jungen Dichters mit den administrativen Geschäften, vor allem aber mit der höfischen Geselligkeit die wichtigste Quelle. Goethe war von Natur nicht immer leicht beweglich.
Er wollte es lernen und paßte es »den sogenannten Weltleuten ab, wo es ihnen denn eigentlich sitzt«. In der Tat war eine härtere Schule als dieses unter den kleinstädtischen Lebensbedingungen der Stadt höchst exponierte Verhältnis nicht möglich. Dazu kam, daß Charlotte von Stein auch in den Jahren, in denen sie so unvergleichlich tief mit Goethes Welt kommunizierte, niemals um seinetwillen die Anstandsbegriffe der höfischen Gesellschaft brüskiert hat. Goethe hat Jahre gebraucht, bis diese Frau eine so unerschütterliche und segensreiche Stätte in seinem Leben bekam, daß ihr Bild in die Gestalt der Iphigenie und der Eleonore von Este, der Geliebten von Tasso, eingehen konnte. Daß und wie er in Weimar Wurzeln faßte, ist durchaus an Charlotte von Stein gebunden. Sie hat ihm nicht nur den Hof sondern Stadt und Landschaft vertraut gemacht. Neben allen dienstlichen Protokollen laufen immer jene flüchtigeren oder breiteren Notizen an Frau von Stein, in denen Goethe, wie er es als Liebhaber immer getan hat, in der ganzen Breite seiner Gaben und Tätigkeiten erscheint, als Zeichner, Maler, Gärtner, Architekt usw. Wenn Riemer aus dem Jahre 1779 erzählt, wie Goethe anderthalb Monate lang das Herzogtum durchstreift, am Tage die Landstraßen besichtigt, in den Amtshäusern die junge Mannschaft zum Kriegsdienst auserlesen, abends und nachts in den kleinen Gasthäusern gerastet und an seiner Iphigenie gearbeitet habe, so gibt er eine Miniatur dieser ganzen kritischen, vielfach bedrohten Goetheschen Existenz.
Der dichterische Ertrag dieser Jahre sind die Anfänge von »Wilhelm Meisters theatralischer Sendung«, »Stella«, »Clavigo«, »Werthers Briefe aus der Schweiz«, »Tasso« und vor allem ein großer Teil der gewaltigsten Lyrik: »Harzreise im Winter«, »An den Mond«, »Der Fischer«, »Nur wer die Sehnsucht kennt«, »über allen Gipfeln«, »Geheimnisse«. Goethe hat in jenen Jahren auch am »Faust« geschrieben, ja selbst zu Teilen des zweiten Faust den inneren Grund wenigstens insofern gelegt, als der Ursprung des Goetheschen Staatsnihilismus, der dort im zweiten Akt schroff zur Geltung kommt, in den Erfahrungen der ersten Weimarer Jahre sich zu formen beginnt. 1781 heißt Goethe es: »Unsere moralische und politische Welt ist mit unterirdischen Gängen, Kellern und Kloaken miniert, wie eine große Stadt zu sein pflegt, an deren Zusammenhang, und ihrer Bewohnenden Verhältnisse wohl niemand denkt und sinnt; nur wird-es dem, der davon einige Kundschaft hat, viel begreiflicher, wenn da einmal der Erdboden einstürzt, dort einmal ein Rauch ... aufsteigt, und hier wunderbare Stimmen gehört werden.«
Jede Wendung, mit der Goethe seine Stellung in Weimar befestigte, entfernte ihn weiter von dem Schaffens- und Freundeskreis der Straßburger und der Wetzlarer Anfänge. Die unvergleichliche Autorität, die er nach Weimar mitgebracht und dem Herzog gegenüber zur Geltung zu bringen gewußt hatte, beruhte auf seiner Führerrolle bei den Stürmern und Drängern. In einer Provinz stadt wie Weimar aber konnte diese Bewegung nur flüchtig auftreten und blieb, ohne fruchtbar zu werden, in tumultuarischen Extravaganzen stecken. Auch das hat Goethe von vornherein klar erkannt und ist allen Versuchen begegnet, das Smißburger Wesen in Weimar fortzusetzen. Als 1776 Lenz dort erschien und sich bei Hofe im Stil der Stürmer und Dränger aufführte, ließ er ihn ausweisen. Es war politische Vernunft. Aber mehr noch triebhafte Abwehr gegen die schrankenlose Impulsivität und das Pathos, die im Lebensstil seiner Jugend lagen und denen er sich auf die Dauer nicht gewachsen fühlte. Goethe erlebte in diesen Kreisen die verheerendsten Beispiele outrierender Genialität, und wie ihn die Gemeinschaft mit solchen Naturen erschüttert hat, sagte eine gleichzeitige Äußerung von Wieland. Der schreibt an einen Freund, daß er Goethes Ruhm nicht um den Preis seiner Körperleiden erkaufen möge. Später hat dann der Dichter die strengsten Präventivmittel gegen diese konstitutionelle Empfindlichkeit angewendet. Ja, wenn man sieht, daß Goethe gewissen Tendenzen – z. B. allen nationalen und den meisten romantischen – wo er nur konnte aus dem Wege ging, so muß man glauben, daß er von ihnen eine unmittelbare Ansteckung fürchtete. Daß er keine tragische Dichtung geschrieben hat, daran gab er selber der gleichen Verfassung schuld.
Je mehr Goethes Leben in Weimar sich einem gewissen Gleichgewichtszustande näherte – äußerlich wurde seine Aufnahme in die Hofgesellschaft 1782 durch Erhebung in den Adelsstand abgeschlossen –, desto unerträglicher wurde die Stadt ihm. Seine Ungeduld nahm die Gestalt einer pathologischen Verstimmung gegen Deutschland an. Er spricht davon, ein Werk verfassen zu wollen, das die Deutschen hassen. Seine Abneigung greift noch weiter. Nach einer Schwärmerei von zwei Jugendjahren für deutsche Gotik, Landschaft, Ritterschaft hat Goethe schon mit fünfundzwanzig Jahren, erst dumpf und unklar, allmählich deutlicher, um Mitte dreißig leidenschaftlich fordernd, dann mit System und Gründen einen Widerstand gegen Klima und Landschaft, Geschichte, Politik und Wesen seines Volkes in sich entdeckt und aufgezogen, der aus seinem Innersten kam. Diese Stimmung kam 1786 in Goethes jäher Abreise nach Italien zum Ausbruch. Er selber hat die Reise als Flucht bezeichnet. Aberglauben, Spannungen umlagerten ihn so drückend, daß er gegen niemanden von seinem Plan etwas verlauten zu lassen gewagt hat.
Auf dieser zweijährigen Reise, die ihn über Verona, Venedig, Ferrara, Rom und Neapel bis Sizilien geführt hat, kam zweierlei zur Entscheidung. Einmal leistete Goethe Verzicht auf die Hoffnung, sein Leben auf die bildende Kunst zu stellen. Immer wieder hatte er mit diesem Gedanken gespielt. Wenn Goethe unbewußt in seine Stellung der Nation gegenüber getreten war und lange Zeit die Physiognomie eines Dilettanten nicht verlieren wollte, so war daran, wie an den vielen Zerfahrenheiten und Unsicherheiten seines literarischen Schaffens sein Schwanken über die Bestimmung seines Genies mit Schuld. Dies Genie trug allzu oft die Züge des Talents, um dem Dichter seinen Weg leicht zu machen. Die große Kunst der italienischen Renaissance, die Goethe, da er sie mit den Augen Winckelmanns sah, nicht scharf von der der Antike zu unterscheiden vermochte, legte in ihm den Grund einmal zu der Gewißheit, er sei nicht zum Maler geboren, zum anderen zu jener beschränkten, klassizistischen Kunstlehre, die vielleicht den einzigen Gedankenkreis darstellt, in dem Goethe eher hinter seiner Zeit zurückstand, als sie führte. Noch in anderem Sinne fand Goethe zu sich selber zurück. Er schreibt mit Beziehung auf den Weimarer Hof nach Hause: »Der Wahn, die schönen Körner, die in meinem und meiner Freunde Dasein reifen, müßten auf diesen Boden gesät, und jene himmlischen Juwelen könnten in die irdischen Kronen dieser Fürsten gefaßt werden, hat mich ganz verlassen, und ich finde mein jugendliches Glück wiederhergestellt.«
In Italien entstand aus der Prosafassung der »Iphigenie« die endgültige Versfassung. Im nächsten Jahr, 1787, beendete der Dichter den »Egmont«. Egmont ist kein politisches Drama sondern eine Charakterologie des deutschen Tribunen, wie Goethe ihn, als Anwalt der Bourgeoisie, wohl zur Not hätte machen mögen. Nur daß dies Bild des furchtlosen Volksmannes allzu überlegen ins Helle entschwebte und die politischen Realitäten soviel deutlicheren Ausdruck in Oraniens und Albas Munde bekamen. Die Phantasmagorie des Schlusses – »Die Freiheit in himmlischem Gewand, von einer Klarheit umflossen, ruht auf einer Wolke« – entlarvt die vermeintlich politische Idee des Grafen Egmont als die dichterische Inspiration, die sie im Grunde ist. Dem Dichter waren in der Auffassung der revolutionären Freiheitsbewegung, die unter Führung des Grafen Egmont 1566 in den Niederlanden ausbrach, enge Schranken gezogen: erstens durch einen sozialen Schaffenskreis und eine Veranlagung, denen die konservativen Gedanken der Tradition und der Hierarchie unveräußerlich waren, zweitens durch seine anarchistische Grundhaltung, sein Unvermögen, den Staat als geschichtlichen Faktor gelten zu lassen. Für Goethe stellte Geschichte eine unberechenbare Folge von Herrschaftsformen und Kulturen dar, in der die großen Einzelnen, Cäsar wie Napoleon, Shakespeare wie Voltaire, den einzigen Anhalt bieten. Zu nationalen und sozialen Bewegungen hat er sich nie zu bekennen vermocht. Zwar hat er sich grundsätzlich niemals zusammenhängend über diese Dinge geäußert, aber das ist die Lehre, die aus seinen Gesprächen mit dem Historiker Luden so gut wie aus den »Wanderjahren« und dem »Faust« sich ergibt. Auch bestimmen diese Überzeugungen sein Verhältnis zu dem Dramatiker Schiller. Für Schiller hatte von jeher das Staatsproblem im Mittelpunkt gestanden. Der Staat in seiner Beziehung zum Einzelnen war der Stoff seiner Jugenddramen, der Staat in seiner Beziehung auf den Träger der Gewalt war der seiner reifen gewesen. Die treibende Kraft in den Goetheschen Dramen ist nicht Auseinandersetzung sondern Entfaltung. – Das lyrische Hauptwerk der italienischen Zeit sind die »Römischen Elegien«, die mit antiker Bestimmtheit und Formvollendung die Erinnerung mannigfacher, römischer Liebesnächte festhalten. Die gesteigerte sinnliche Entschiedenheit seiner Natur brachte ihn zum Entschluß, seine Lebensverhältnisse enger zusammenzuziehen und nur noch aus einer beschränkten Mitte heraus zu wirken. Noch von Italien aus ersuchte Goethe, in einem Brief, der seinen diplomatischen Stil auf dem Höhepunkt zeigt, den Herzog, von allen administrativen und politischen Amtern ihn zu befreien. Die Bitte wurde bewilligt, und wenn Goethe nichtsdestoweniger nur auf weiten Umwegen zu einer intensiven, dichterischen Produktion zurückfand, so ist davon die Auseinandersetzung mit der französischen Revolution die wichtigste Ursache. Um diese Auseinandersetzung zu erfassen, hat man -wie bei all seinen verstreuten, unzusammenhängenden, undurchschaubaren Außerungen zur Politik – weniger die Summe seiner theoretischen Improvisationen als ihre Funktion in Betracht zu ziehen.
Daß Goethe den aufgeklärten Despotismus des achtzehnten Jahrhunderts lange vor Ausbruch der französischen Revolution nach seinen Erfahrungen als Weimarer Legationsrat als höchst problematisch empfunden hat, steht außer Zweifel. Er hat aber mit der Revolution nicht nur infolge seiner inneren Bindungen an das feudale Regime und nicht nur in folge seiner grundsätzlichen Ablehnung aller gewaltsamen Erschütterungen des öffentlichen Lebens sich nicht versöhnen können, sondern vor allem, weil es ihm widerstrebte, ja unmöglich war, zu irgendwelchen grundsätzlichen Anschauungen in Dingen des staatlichen Lebens zu gelangen. Wenn er über die »Grenzen der Wirksamkeit des Staates« sich niemals so klar wie z. B. Wilhelm von Humboldt ausgesprochen hat, so war es, weil sein politischer Nihilismus zu weit ging, als daß er mehr als andeutungsweise von ihm zu reden gewagt hätte. Genug, daß späterhin Napoleons Programm, das deutsche Volk in seine Stämme zu zerschlagen, nichts Ungeheuerliches für Goethe hatte, der gerade in solcher vollkommenen Zersprengung die äußere Erscheinung einer Gemeinschaft erblickte, in der die großen Einzelnen ihre Wirkungskreise sich ziehen mochten – Wirkungskreise, in denen sie patriarchalisch schalten und über Jahrhunderte und Grenzen der Staaten hinweg einander ihre Geistersignale geben mochten. Mit Recht hat man gesagt, das Deutschland Napoleons sei für Goethe, den Inbegriff des romanisch-französisch gestimmten Frankentums, der gemäßeste Spielraum gewesen. Es wirkt aber in sein Verhältnis zur Revolution auch die ungeheure Sensibilität, die pathologische Erschütterung hinein, in welche ihn die großen politischen Geschehnisse seiner Zeit versetzten. Diese Erschütterung, in der der Dichter von gewissen Episoden der französischen Revolution wie von persönlichen Schicksalsschlägen betroffen wurde, machten es ihm ebenso unmöglich, die Welt des Politischen grundsätzlich und rein aus Prinzipien zu regeln, wie das für die Privatexistenz des einzelnen Menschen restlos zu ermöglichen wäre.
Im Lichte der Klassengegensätze des damaligen Deutschland stellt sich das so dar: Goethe hat sich nicht wie Lessing als Vorkämpfer der bürgerlichen Klassen sondern viel eher als ihr Deputierter, ihr Botschafter beim deutschen Feudalismus und dem Fürstentum empfunden. Aus den Konflikten dieser repräsentativen Stellung erklärt sich sein dauerndes Schwanken. Der größte Vertreter der klassischen, bürgerlichen Literatur – die den einzigen unanfechtbaren Anspruch des deutschen Volkes auf den Ruhm einer modernen Kulturnation bildete – konnte sich doch die bürgerliche Kultur nicht anders als im Rahmen eines veredelten Feudalstaates denken. Wenn Goethe die französische Revolution ablehnte, so geschah das freilich nicht nur im feudalen Sinne – aus der patriarchalischen Idee heraus, daß jede Kultur, einschließlich der bürgerlichen, im Schutz und im Schatten der absoluten Herrschaft einzig gedeihen könne – sondern ebensowohl im Sinne des Kleinbürgertums, d. h. des Privatmanns, der sein Dasein ängstlich gegen die politischen Erschütterungen rings um sich abzudichten sucht. Aber weder im Geiste des Feudalismus noch im Geiste des Kleinbürgertums war diese Ablehnung restlos und eindeutig. Darum hat keine einzige unter den Dichtungen, in denen er zehn Jahre hindurch versuchte, mit der Revolution ins Reine zu kommen, sich im Gesamtzusammenhange seines Werkes eine zentrale Stelle erobern können.
Es sind nicht weniger als sieben Dichtungen, in denen Goethe von 1792-1802 immer von neuem unternahm, der französischen Revolution eine bezwingende Formel oder ein abschließendes Bild abzugewinnen. Dabei handelt es sich zunächst entweder um Nebenprodukte, die mit dem »Großkophta« und den »Aufgeregten« den tiefsten Stand markieren, den Goethes Produktion je gehabt hat, oder wie in der »Natürlichen Tochter« um einen Versuch, der verurteilt war, Fragment zu bleiben. Endlich aber kam Goethe dem Ziel am nächsten in zwei Dichtungen, deren jede auf ihre Weise die Revolution sozusagen en bagatelle zu behandeln wußten. »Hermann und Dorothea« macht sie zum finsteren Hintergrunde, gegen die ein deutsches Kleinstadtidyll sich gewinnend abhebt; »Reineke Fuchs« löst das Pathos der Revolution in die Form einer Verssatire, die nicht umsonst auf die mittelalterliche Kunstform des Tierepos sich zurückzieht. Die Revolution als Hintergrund eines moralischen Anschauungsbildes – so erscheint sie in »Hermann und Dorothea«; die Revolution als komische Haupt- und Staatsaktion, als Intermezzo in der Tiergeschichte der Menschheit – so erscheint sie im »Reineke Fuchs«. Damit überwindet der Dichter die Spuren des Ressentiments, die in den früheren Gestaltungsversuchen, vor allem in den »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten« noch spürbar sind. Daß aber die Geschichte auf ihrer wahren Menschheitshöhe um den König gruppiert ist, diese hierarhische, feudale Maxime erhält denn doch in diesem Produktionskreis das letzte Wort. Jedoch gerade der König der »Natürlichen Tochter« macht Goethes Unvermögen, politische Geschichte zu erfassen, greifbar deutlich. Es ist der Thoas der »Iphigenie« in neuer Gestalt, der König als Spezies des »Guten Menschen«, der hier in den Aufruhr der Revolution hineinversetzt, unabweislich zum Scheitern bestimmt ist.
Die politischen Probleme, mit denen die neunziger Jahre Goethes Produktion belastet haben, waren der Grund, warum er sich dieser Produktion auf mannigfache Weise zu entziehen suchte. Sein großes Asyl war das Studium der Naturwissenschaft. Schiller hat den Fluchtcharakter, der den naturwissenschaftlichen Beschäftigungen dieser Jahre innewohnte, erkannt. Er schreibt 1787 an Körner: »Goethes Geist hat alle Menschen, die sich zu seinem Zirkel zählen, gemodelt. Eine stolze philosophische Verachtung aller Spekulation und Untersuchung, mit einem bis zur Affektation getriebenen Attachement an die Natur und einer Resignation in seine fünf Sinne; kurz, eine gewisse kindliche Einfalt der Vernunft bezeichnet ihn und seine ganze hiesige Sekte. Da sucht man lieber Kräuter oder treibt Mineralogie, als daß man sich in leeren Demonstrationen verfinge. Die Idee kann ganz gesund und gut sein, aber man kann auch viel übertreiben.« Dies naturgeschichtliche Studium konnte Goethe dem politischen Geschehen gegenüber nur noch spröder machen. Er begriff Geschichte nur als Naturgeschichte, begriff sie nur soweit sie an die Kreatur gebunden blieb. Darum ist die Pädagogik, wie er sie später in den »Wanderjahren« entwickelt hat, der vorgeschobenste Posten geworden, den er in der Welt des Historischen zu gewinnen vermochte. Diese naturwissenschaftliche Richtung ging gegen die Politik, aber sie ging auch gegen die Theologie. In ihr hat der kirchenfeindliche Spinozismus des Dichters seine fruchtbarste Gestaltung gefunden. Wenn er gegen die pietistischen Schriften seines ehemaligen Freundes Jacobi auftritt, weil der die These aufstellt, die Natur verberge Gott, so ist für Goethe an Spinoza das Wichtigste; daß die Natur sowohl wie der Geist eine offenbare Seite des Göttlichen ist. Das ist gemeint, wenn Goethe an Jacobi schreibt: »Dich« hat »Gott mit der Metaphysik gestraft ..., mich dagegen mit der Physik gesegnet«. – Der Begriff, unter dem Goethe seine Offenbarungen der physischen Welt darstellt, ist das »Urphänomen«. Er bildete sich ursprünglich im Zusammenhang seiner botanischen und anatomischen Studien. 1784 entdeckt Goethe die morphologische Bildung der Schädelknochen aus umgebildeten Knochen der Wirbelsäule, ein Jahr später die »Metamorphose der Pflanzen«. Er verstand unter dieser Bezeichnung den Umstand, daß alle Organe der Pflanze von den Wurzeln bis zu den Staubgefäßen nur umgebildete Blattformen sind. Damit gelangte er zum Begriffe der »Urpflanze«, die Schiller in dem berühmten ersten Gespräch mit dem Dimter für eine »Idee« erklärte, die aber Goethe nicht gelten lassen wollte, ohne ihr eine gewisse sinnliche Anschaulichkeit zuzusprechen. Goethes naturwissenschaftliche Studien stehen im Zusammenhang seines Schrifttums an der Stelle, die bei geringeren Künstlern oft die Ästhetik einnimmt. Man kann gerade diese Seite des Goetheschen Schaffens nur verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß er zum Unterschiede von fast allen Intellektuellen dieser Epochen nie seinen Frieden mit dem »schönen Schein« gemacht hat. Nimt die Ästhetik sondern die Naturanschauung versöhnte ihm Dichtung und Politik. Eben darum aber verleugnet sich auch in diesen wissenschaftlichen Studien nicht, wie refraktär der Dichter gegen gewisse Neuerungen, im Technischen genau wie im Politischen, war. An der Schwelle des naturwissenschaftlichen Zeitalters, das die Schärfe und den Kreis der Sinneswahrnehmungen so ungeheuer erweitern sollte, lenkt er noch einmal zu den alten Formen der Naturergründung zurück und schreibt: »Der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann, und das ist eben das größte Unheil der neuern Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen ... will.« Die Wissenschaft hat nach seinen Begriffen den nächsten natürlichen Zweck darin, den Menschen in Tun und Denken mit sich selber ins Reine zu bringen. Die Veränderung der Welt durch die Technik war nicht eigentlich seine Sache, wenn er auch von ihrer unabsehbaren Bedeutung im Alter sich erstaunlich klare Rechenschaft gegeben hat. Der höchste Nutzen der Naturerkenntnis bestimmte sich für ihn in der Form, die sie einem Leben gibt. Diese Anschauung entfaltete er zu einem strengen Pragmatismus: »Was fruchtbar ist, allein ist wahr«.
Goethe gehört zur Familie jener großen Geister, für welche es im Grunde eine Kunst im abgezogenen Sinne nicht gab. Ihm war die Lehre von dem Urphänomen als Naturwissenschaft zugleich die wahre Kunstlehre, wie es für Dante die Philosophie der Scholastik und für Dürer die technischen Künste waren. Im strengsten Sinne bahnbrechend sind für die Wissenschaft einzig die Entdeckungen seiner Botanik gewesen. Wichtig und anerkannt sind ferner die osteologischen Schriften: der Hinweis auf den menschlichen Zwischenkiefer, der freilich keine Entdeckung war. Wenig beachtet blieb die »Meteorologie« und aufs schärfste bestritten die »Farbenlehre«, die für Goethe sein gesamtes naturwissenschaftliches Werk, ja nach gewissen Äußerungen könnte man meinen sein Lebenswerk überhaupt, krönt. Seit einiger Zeit ist die Diskussion um dieses umfangreichste Dokument der Goetheschen Naturwissenschaft wieder erneuert. Die »Farbenlehre« stellt sich in schroffen Gegensatz zur Newtonschen Optik. Der Fundamentalgegensatz, von dem Goethes jahrelange, stellenweise äußerst erbitterte Polemik ausgeht, ist: Newton erklärt das weiße Licht als eine Zusammensetzung aus farbigen Lichtern, Goethe dagegen als das einfachste, unzerlegbarste, homogenste Wesen, das wir kennen. »Es ist nicht zusammengesetzt ... Am allerwenigsten aus farbigen Lichtern.« Die »Farbenlehre« nimmt die Farben für Metamorphosen des Lichtes, für Erscheinungen, die im Kampf des Lichtes mit dem Dunkel sich bilden. Neben dem Gedanken der Metamorphose ist hier für Goethe bestimmend der der Polarität, der sein ganzes Forschen durchzieht. Dunkel ist nicht bloße Abwesenheit des Lichtes – dann wäre es nicht bemerkbar – sondern ein positives Gegenlicht. Im späten Alter taucht im Zusammenhang damit bei ihm der Gedanke auf, Tier und Pflanze würden vielleicht durch Licht bzw. Finsternis aus dem Urzustande entwickelt. Es ist ein eigentümlicher Zug dieser naturwissenschaftlichen Studien, daß in ihnen Goethe dem Geiste der romantischen Schule ebenso sehr entgegenkommt, wie er sich in seiner Asthetik ihm widersetzt. – Zu verstehen ist Goethes philosophische Orientierung viel weniger aus seinen dichterischen als aus den naturwissenschaftlichen Schriften. Spinoza blieb für ihn, seit der Jugenderleuchtung, welche in dem berühmten Fragment »Natur« niedergelegt ist, der Patron seiner morphologischen Studien. Später ermöglichten sie ihm die Auseinandersetzung mit Kant. Während Goethe dem kritischen Hauptwerk – der »Kritik der reinen Vernunft« – und ebenso der »Kritik der praktischen Vernunft« – der Ethik – beziehungslos gegenüber steht, hegte er für die »Kritik der Urteilskraft« die höchste Bewunderung. Dort nämlich verwirft Kant die teleologische Naturerklärung, die eine Stütze der aufgeklärten Philosophie, des Deismus, war. Goethe mußte ihm hierin beistimmen, wie denn seine eigenen anatomischen und botanischen Forschungen weit vorgeschobene Positionen im Angriff der bürgerlichen Naturwissenschaft gegen die teleologische darstellten. Kants Definition des Organischen als einer Zweckmäßigkeit, deren Zweck nicht außerhalb sondern innerhalb des zweckmäßigen Geschöpfes selbst liegt, entsprach den Begriffen Goethes. Einheit des Schönen, auch des Naturschönen, ist immer unabhängig von Zwecken – darin sind Kant und Goethe sich einig.
Je tiefer Goethe durch die europäischen Verhältnisse in Mitleidenschaft gezogen wurde, desto umfassender suchte er nach einem Rückhalt für sein Privatleben. So hat man es aufzufassen, wenn sehr bald nach seiner Rückkehr aus Italien das Verhältnis zu Frau von Stein sich löste. Goethes Verbindung mit seiner späteren Frau, Christiane Vulpius, die er bald nach der Rückkehr aus Italien kennen lernte, ist fünfzehn Jahre lang ein schwerer Anstoß für die bürgerliche Gesellschaft der Stadt gewesen. Dennoch darf man dieses Verhältnis zu einem Proletariermädchen, Arbeiterin in einer Blumenfabrik, nicht als Zeugnis besonders freier sozialer Anschauungen des Dichters in Anspruch nehmen. Goethe hat auch in diesen Fragen der privaten Lebensgestaltung keine Maximen gekannt, geschweige denn revolutionäre. Christiane ist zunächst nur sein Verhältnis gewesen. Das Bemerkenswerte dieser Verbindung liegt nicht in ihrem Ursprung sondern in ihrem Verlauf. Obwohl Goethe niemals vermocht und vielleicht niemals versucht hat, den ungeheuren Niveau&hy;unterschied zwischen dieser Frau und sich selber zu überbrücken, obwohl Christiane nicht nur ihrer Abkunft nach bei der kleinbürgerlichen Gesellschaft von Weimar sondern ihrer Lebensweise nach auch bei freieren, bedeutenden Geistern Anstoß erregen mußte, obwohl die eheliche Treue von beiden Partnern nicht schwer genommen wurde, hat Goethe diese Bindung und mit ihr die Frau durch eine unwandelbare Gesinnung, ein großartiges Beharren auf dem schwierigsten Posten geadelt und fünfzehn Jahre nach ihrer ersten Bekanntschaft im Jahre I807 durch die kirchliche Trauung Hof und Gesellsmaft gezwungen, die Mutter seines Sohnes anzuerkennen. Mit Frau von Stein aber kam erst sehr spät nam Jahren tiefer Abneigung eine farblose Versöhnung zustande.
Im Jahre 1790 übernahm Goethe als Staatsminister das Ressort für Kultus und Unterricht, ein Jahr später das Hoftheater. Auf diesen Gebieten ist seine Wirksamkeit unübersehbar. Sie erweitert sim von Jahr zu Jahr. Alle wissenschaftlichen Institute, alle Museen, die Universität Jena, die temnischen Lehranstalten, die Singschulen, die Kunstakademie standen unter dem unmittelbaren Einfluß des Dichters, der sich oft in die entlegensten Einzelheiten erstreckte. Hand in Hand damit ging die Ausbildung seines Hauswesens zu einem europäischen Kulturinstitut. Seine Sammeltätigkeit erstreckte sich über alle Gebiete seines Forschens und seiner Liebhaberei. Aus diesen Sammlungen besteht das Goethe-National-Museum in Weimar mit seiner Gemäldegalerie, seinen Sälen mit Handzeichnungen, Fayencen, Münzen, ausgestopften Tieren, Knochen und Pflanzen, Mineralien, Versteinerungen, chemischen und physikalischen Apparaten, zu schweigen von der Bücher- und Autographensammlung. Seine Universalität war schrankenlos. Er wollte, wo sich die Künstlerschaft ihm verweigerte, doch wenigstens Liebhaber sein. Gleichzeitig waren diese Sammlungen der Rahmen eines Daseins, das mehr und mehr repräsentativ vor den Augen Europas sich abspielte. Sie verliehen ferner dem Dichter die Autorität, deren er als größter Organisator des fürstlichen Mäzenatentums, den Deutschland je gehabt hat, bedurfte. Zum ersten Mal hatte in Voltaire ein Literat gewußt, sich europäische Autorität zu sichern und Fürsten gegenüber das Prestige des Bürgertums durch eine geistig und materiell gleich große Existenz zu vertreten. Darin ist Goethe Voltaires unmittelbarer Nachfolger. Genau so wie die Stellung Voltaires will auch Goethes politisch verstanden sein. Und wenn er die französische Revolution auch ablehnte, so hat er dennoch zielbewußter und virtuoser als irgendein anderer den Machtzuwachs verwertet, den die Existenz des Literaten durch sie erfuhr. Hat Voltaire in der zweiten Hälfte seines Lebens es zu fürstlichem Reichtum gebracht, so lassen sich freilich Goethes finanzielle Verhältnisse damit nicht messen. Um aber die auffallende Zähigkeit des Dichters in geschäftlichen Fragen, besonders in Verhandlungen mit Cotta, zu verstehen, hat man zu berücksichtigen, daß er sich seit der Jahrhundertwende als den Stifter eines nationalen Vermächtnisses ansah.
In diesem ganzen Jahrzehnt war es Schiller, der Goethe immer wieder aus der Zerstreuung des staatsmännischen Wirkens und der Versunkenheit in die Betrachtung der Natur zur dichterischen Produktion aufrief. Die erste Begegnung zwischen den Dichtern, die bald nach Goethes Rückkehr aus Italien stattfand, blieb folgenlos. Dies entsprach durchaus der Gesinnung, die beide Männer gegeneinander hegten. Schiller, damals Verfasser der Dramen: »Die Räuber«, »Kabale und Liebe«, »Fiesko«, »Don Carlos«, stellte in der Schroffheit seiner klassenbewußten Formulierungen den denkbar stärksten Gegensatz zu Goethes Versuchen einer gemäßigten Vermittlung dar. Während Schiller den Klassenkampf auf der ganzen Linie aufnehmen wollte, hatte Goethe längst die befestigte Rückzugslinie bezogen, von der aus sich die Offensive nur noch ins kulturelle Gebiet vortragen ließ, alle politische Aktivität der Bürgerklasse dagegen auf die Defensive beschränkt blieb. Aus der Tatsache, daß es zwischen diesen beiden Männern zum Kompromiß kam, spricht deutlich, wie wenig gefestigt das Klassenbewußtsein des deutschen Bürgertums war. Dieser Kompromiß kam im Zeichen der Kantischen Philosophie zustande. Schiller hat im ästhetischen Interesse die radikalen Formulierungen der Kantischen Moral in seinen Briefen »Ober die ästhetische Erziehung des Menschen« um ihre aggressive Schärfe gebracht und in ein Instrument historischer Konstruktion verwandelt. Das erlaubte eine Verständigung, besser gesagt einen Waffenstillstand mit Goethe. In Wahrheit ist der Umgang beider Männer für immer durch die diplomatische Reserve gekennzeichnet geblieben, die dieser Kompromiß von ihnen verlangt hat. Ihre Diskussion blieb mit fast ängstlicher Genauigkeit auf formale Probleme der Dichtkunst beschränkt. In dieser Hinsicht war sie freilich epochemachend. Der Briefwechsel zwischen ihnen ist ein bis ins Einzelne wohl abgewogenes und redigiertes Dokument und hat aus tendenziösen Gründen immer mehr Ansehen genossen als der tiefere, freiere und lebendigere, den Goethe im hohen' Alter mit Zelter geführt hat. Mit Recht hat der jungdeutsche Kritiker Gutzkow von den »Haarspaltungen der ästhetischen Tendenzen und künstlerischen Theorien« gesprochen, welche in diesem Briefwechsel sich in einem fortwährenden Zirkel bewegen. Und auch darin sah er richtig, daß er die schreiende Dissonanz, mit der Kunst und Geschichte hier feindlich aufeinander treffen, dafür verantwortlich macht. So haben die beiden Dichter selbst für ihre größten Werke nicht immer· beieinander Verständnis gefunden. »Er war«, sagt Goethe r829 von Schiller, »so, wie alle Menschen, die zu sehr von der Idee ausgehen. Auch hatte er keine Ruhe und konnte nie fertig werden ... Ich hatte nur immer zu .tun, daß ich feststand und seine wie meine Sachen von solchen Einflüssen freihielt und schützte.«
Wichtig wurde Schillers Anstoß zunächst für Goethes Balladendichtung (»Der Schatzgräber«, »Der Zauberlehrling«, »Die Braut von Korinth«, »Der Gott und die Bajadere«). Das offizielle Manifest ihres literarischen Bündnisses aber wurden die »Xenien«. Der Almanach erschien 1795. Seine Front richtete sich gegen die Feinde der Schillerschen »Horen«, den vulgären Rationalismus, der sein Zentrum in Nicolais Berliner Kreis hatte. Der Angriff wirkte. Die literarische Schlagkraft wurde gesteigert durch das anekdotische Interesse: Die Dichter zeichneten nämlich verantwortlich für das Ganze, ohne die Autorenschaft an den einzelnen Distichen zu verraten. Es lag aber bei aller Verve und Eleganz des Angriffs in diesem Vorgehen eine gewisse Desperation. Die Zeiten von Goethes Popularität waren dahin, und wenn er von Jahrzehnt zu Jahrzehnt an Autorität gewann, so ist er nie wieder ein volkstümlicher Dichter geworden. Der spätere Goethe besonders hat jene entschiedene Verachtung des lesenden Publikums, die allen klassischen Dichtern mit Ausnahme von Wieland gemein ist und bisweilen den stärksten Ausdruck im Goethe-Schillerschen Briefwechsel findet.
Goethe stand in keinem Rapport zum Publikum. »Wenn seine Wirkung gewaltig war, so hat er doch nie in dem selbst gelebt oder in dem fortgefahren zu leben, wo sein Anfang alle Welt entzündete.« Er wußte nicht, was er Deutschland positiv mit sich, zum Geschenk machte. Am wenigsten hatte er sich mit irgendeiner Richtung oder Tendenz in Einklang zu bringen gewußt. Sein Versuch, mit Schiller eine solche darzustellen, blieb zuletzt eine Illusion. Diese Illusion zu vernichten, ist das berechtigte Motiv, aus dem heraus das deutsche Publikum des neunzehnten Jahrhunderts immer wieder Goethe und Schiller in Gegensatz zu stellen und aneinander zu messen versucht hat. Der Einfluß Weimars auf die große deutsche Masse lag nicht bei den beiden Dichtern sondern in den Zeitschriften Bertuchs und Wielands, in der »Allgemeinen Literarischen Zeitung« und im »Teutschen Merkur«. »Wir wollen«, hat Goethe 1795 geschrieben, »die Umwälzungen nicht wünschen, die in Deutschland klassische Werke vorbereiten könnten«. Diese Umwälzung – das ist die Emanzipation der Bourgeoisie, die 1848 zu spät erfolgte, um noch klassische Werke hervorzubringen. Deutsches Wesen, deutscher Sprachgeist, das waren gewiß die Saiten, auf denen Goethe seine gewaltigen Melodien spielte, aber der Resonanzboden dieses Instruments war nicht Deutschland sondern das Europa Napoleons.
Goethe und Napoleon schwebte ein Gleiches vor Augen: die soziale Emanzipierung der Bourgeoisie unter der politischen Form der Despotie. Sie war das »Unmögliche«, das »Inkommensurable«, das »Unzulängliche«, das als tiefster Stachel in ihnen saß. Es hat Napoleon zum Scheitern gebracht. Von Goethe dagegen kann man sagen, daß er, je älter er wurde, desto mehr sein Leben dieser politischen Idee nach geformt und es bewußt zum Inkommensurablen, Unzulänglichen gestempelt, zum kleinen Urbild seiner politischen Idee erhoben hat. Ließen sich abgrenzende Linien führen, so könnte die Poesie die bürgerliche Freiheit dieses Staates versinnlichen, während das Regime in seinen privaten Angelegenheiten dem Despotischen völlig entsprach. Im Grunde aber ist freilich ebensowohl im Leben wie in der Dichtung das Ineinanderwirken dieser unvereinbaren Strebungen zu verfolgen: im Leben als Freiheit des erotischen Durchbruchs und als strengstes Regime der »Entsagung«, in der Dichtung nirgends mehr als im zweiten Teil des »Faust«, dessen politische Dialektik den Schlüsse! zu Goethes Stellung gibt. Nur in diesem Zusammenhange ist es begreiflich, wie Goethe in den letzten dreißig Jahren sein Leben völlig den bürokratischen Kategorien des Ausgleichs, der Vermittlung, der Vertagung hat unterordnen können. Es ist sinnlos, sein Handeln und seine Gebärde nach einem abstrakten Maßstab der Sittlichkeit zu beurteilen. In dieser Abstraktion liegt das Absurde, das an den Angriffen haftet, die Börne im Namen des Jungen Deutschland gegen Goethe gerichtet hat. Gerade in seinen Maximen und in den bemerkenswertesten Eigenheiten, die das Regime seines Lebens aufweist, ist Goethe nur aus der politischen Position, die er sich geschaffen hat, und in die er sich hineinversetzt hat, begreiflich. Deren verborgene, aber um so tiefere Verwandtschaft mit der Napoleons ist so entscheidend, daß die nachnapoleonische Zeit, die Macht, die Napoleon gestürzt hatte, sie nicht mehr verstehen konnte. Der Sohn bürgerlicher Eltern steigt auf, läßt alles hinter sich, wird Erbe einer Revolution, vor deren Macht in seinen Händen alles erzittert (Französische Revolution; Sturm und Drang) und gründet im Augenblick, da er die Herrschaft der überlebten Gewalten am tiefsten erschüttert hat, durch einen Staatsstreich seme eigene in denselben alten, denselben feudalen Formen (Kaisertum; Weimar).
Goethes Feindseligkeit gegen die Freiheitskriege, die der bürgerlichen Literaturgeschichte einen unüberwindlichen Anstoß bereitet hat, ist im Zusammenhang seiner politischen Bedingtheit vollkommen selbstverständlich. Napoleon war ihm, ehe er das europäische Imperium gegründet hatte, der Begründer seines europäischen Publikums. Als der Dichter zuletzt im Jahre 1815 sich durch Iffland bestimmen ließ, zum Einzug der siegreichen Truppen in Berlin ein Festspiel, »Des Epimenides Erwachen«, zu schreiben, da konnte er sich von Napoleon nur lossagen, indem er an das Chaotische, Nächtige der Urgewalt sich hielt, das in diesem Mann Europa erschüttert hatte. Er konnte den Siegern kein Gefühl entgegenbringen. Anderseits kommt in der leidenden Bestimmtheit, mit der er gegen den Geist sich zu wehren suchte, der Deutschland 1813 bewegte, dieselbe Idiosynkrasie zum Ausdruck, die ihm den Aufenthalt in Krankenzimmern, die Nähe Sterbender unerträglich gemacht hat. Aus seiner Abneigung gegen alles Soldatische spricht gewiß weniger Auflehnung gegen militärischen Zwang, selbst Drill, als Widerwille gegen alles, was angetan ist, die Erscheinung des Menschen zu beeinträchtigen von der Uniform bis zur Wunde. Seine Nerven wurden auf eine harte Probe gestellt, als er den Herzog 1792 während des Einfalls der verbündeten Armeen in Frankreich begleiten mußte. Damals hat Goethe viel Kunst an den Tag gelegt, um über Naturbetrachtungen, optischen Studien und Zeichnungen sich gegen das Geschehen, dessen Zeuge er war, abzudichten. Die »Kampagne in Frankreich« ist als Beitrag zur Kenntnis des Dichters ebenso wichtig, wie sie als Auseinandersetzung mit dem weltpolitischen Geschehen trübe und unscharf ist.
Die europäische und die politische Wendung, das ist die Signatur von Goethes spätestem poetischen Schaffen. Diesen festesten Boden jedoch fühlte er erst nach Schillers Tod unter den Füßen. Das große Prosawerk dagegen, das noch unter Schillers unmittelbarer Einwirkung nach langer Pause wieder vorgenommen und zuende geführt wurde, »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, bezeichnet Goethes zögerndes Verweilen in den idealistischen Vorhöfen, im deutschen Humanismus, aus welchem Goethe später sich zum oikoumenischen durchrang. Das Ideal der »Lehrjahre – die Bildung – und die soziale Umwelt des Helden – die Komödianten – sie sind in der Tat einander streng zugeordnet, sind beide Exponenten jenes spezifisch deutschen Gedankenreiches des »schönen Scheins«, welche der gerade zu ihrer Herrschaft emporsteigenden Bourgeoisie des Westens wenig zu sagen hatte. In der Tat war es fast eine poetische Notwendigkeit, in den Mittelpunkt eines deutschen bürgerlichen Romans Schauspieler zu stellen. Damit wich Goethe allem politisch Bedingten aus, um es dann freilich zwanzig Jahre später in der Fortsetzung seines Bildungsromans desto rücksichtsloser nachzuholen. Daß der Dichter in »Wilhelm Meister« einen halben Künstler zum Helden macht, das sicherte diesem Roman, gerade weil es in der deutschen Situation des ausgehenden Jahrhunderts bedingt war, seinen entscheidenden Einfluß. Von ihm gehen die Künstlerromane der Romantik vom »Heinrich von Ofterdingen« des Novalis, Tiecks »Sternbald« bis zu Mörikes »Maler Nohen« aus. Der Stil des Werkes entspricht dem Gehalt. »Nirgends verrät sich die logische Maschinerie oder ein dialektischer Kampf der Ideen mit dem Stoff, sondern Goethes Prosa ist eine Perspektive des Theaters, ein überdachtes, erlerntes, zum schaffenden Gedankenaufbau leise zugerauntes Stück. Die Dinge sprechen bei ihm nicht selbst, sondern sie müssen sich an den Dichter wenden, um zu Worte zu kommen. Darum ist diese Sprache deutlich und doch bescheiden, klar aber ohne aufzufallen, im Extrem diplomatisch.«
In der Natur beider Männer lag es, daß Schillers Einwirkung sich im Wesentlichen als Bildung, Anregung der Goetheschen Produktion auswirkte, ohne im Grunde die Richtung des Goetheschen Schaffens zu beeinflussen. Daß Goethe sich der Balladendichtung zuwandte, »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, das Faustfragment wieder aufnahm, ist vielleicht Schiller zu danken. Aber fast immer drehte der eigentliche Gedankenaustausch über diese Werke sich um das Handwerkliche und Technische. Goethes Inspiration blieb unabgelenkt. Es war eine Freundschaft mit dem Menschen und dem Autor Schiller. Aber es war nicht die Dichterfreundschaft, die man hier oft zu sehen geglaubt hat. Der außerordentliche Charme und die Gewalt von Schillers Person haben sich deshalb um nichts weniger Goethe in ihrer ganzen Größe erschlossen, und er hat nach dessen Tode in seinem »Epilog zu Schillers Glocke« ihnen ein Denkmal gesetzt. Nach dem Tode des Dichters nahm Goethe eine neue Organisation seiner persönlichen Beziehungen vor. Es gab nun fernerhin keinen um ihn, dessen Geltung annähernd an seinen eigenen Namen heranreichte. Auch lebte in Weimar selbst kaum jemand, der in besonderer Weise von ihm ins Vertrauen wäre gezogen worden. Dagegen wuchs im Laufe des neuen Jahrhunderts die Bedeutung, die Zelter, der Gründer der Berliner Singakademie, für Goethe gehabt hat. Mit der Zeit nahm Zelter für Goethe den Rang eines Botschafters ein, der ihn in der preußischen Hauptstadt repräsentierte. In Weimar selbst begründete sich der Dichter allmählich einen ganzen Stab von Helfern und Sekretären, ohne deren Mitwirkung das ungeheure Vermächtnis, das er in den letzten dreißig Jahren seines Lebens redigierte, niemals hätte sichergestellt werden können. Der Dichter stellte schließlich sein ganzes Leben in einer geradezu chinesischen Weise unter die Kategorie der Schrift. In diesem Sinne ist das große Literatur- und Press-Büro mit seinen Assistenten von Eckermann, Riemer, Soret, Müller bis hinab zu den Schreibern Kräuter und John zu betrachten. Eckermanns »Gespräche mit Goethe« sind für diese letzten Jahrzehnte die Hauptquelle und zudem eines der besten Prosabücher des neunzehnten Jahrhunderts geworden. Was den Dichter an Eckermann fesselte, war vielleicht mehr als alles andere dessen bedingungslose Neigung zum Positiven, wie sie bei überlegenen Geistern so nie, aber auch bei geringeren nur sehr selten sich findet. Goethe hat zur Kritik im engeren Sinne kein Verhältnis gehabt. Die Strategie des Kunstbetriebs, die auch ihn hin und wieder gefesselt hat, spielt ihm in diktatorischen Formen sich ab: in Manifesten, wie er sie mit Herder und Schiller entwarf, in Vorschriften, wie er sie für Schauspieler und Künstler verfaßte.
Selbständiger als Eckermann, freilich eben darum auch weniger ausschließlich dem Dichter dienstbar, war der Kanzler von Müller. Auch seine »Unterhaltungen mit Goethe« gehären zu den Dokumenten, die Goethes Bild, wie es auf die Nachwelt kam, bestimmt haben. Nicht als Gesprächspartner, wohl aber durch seine große und scharfsinnige Charakteristik Goethes ist ihnen der Professor der Altphilologie, Friedrich Riemer, an die Seite zu stellen. Das erste große Dokument, das aus jenem literarischen Organismus hervorging, den sich der alternde Goethe geschaffen hat, ist die Autobiographie. »Dichtung und Wahrheit« ist eine Vorschau auf Goethes spätes Leben in Gestalt einer Rückerinnerung. Diese Rückschau auf Goethes tätige Jugend gibt erst den Zugang zu einem der wichtigsten Prinzipien dieses Lebens. Goethes moralische Aktivität ist im letzten Grunde ein positives Widerspiel zu dem christlichen Prinzip der Reue: »Suche allem in Deinem Leben eine Folge zu geben«. »Der ist der glücklichste Mensch, der das Ende seines Lebens mit dem Anfang in Verbindung setzen kann.« Bei alledem war der Trieb am Werke, in seinem Leben das Bild der Welt abzuformen und zur Erscheinung zu bringen, der er in seiner Jugend sich bequemt hatte, der Welt der Unzulänglichkeit, der Kompromisse, der Kontingenzen: der erotischen Unentschiedenheit, des politischen. Schwankens. Auf dieser Grundlage allein erhält die Goethesche »Entsagung« ihren rechten Sinn, den ihrer furchtbaren Zweideutigkeit: Goethe hat nicht allein der Lust, sondern auch der Größe, dem Heroenturn entsagt. Vielleicht ist dies der Grund, daß diese Autobiographie abbricht, bevor der Held seine Stellung erreicht hat. Die Memorabilien des späteren Lebens tauchen verstreut in der »Italienischen Reise«, der »Kampagne in Frankreich«, den »Tag- und Jahresheften« auf. In seine Darstellung der Jahre 1750-1775 hat Goethe eine Serie von Charakteristiken der bedeutendsten Zeitgenossen seiner Jugend eingereiht und Günther, Lenz, Merck, Herder sind z. T. in der Prägung der Goetheschen Formeln in die Literaturgeschichte eingegangen. In ihrer Darstellung hat der Dichter aber nicht nur sie selbst sondern zugleich die eigene Person in ihrer Polarität lebendig gemacht, die feindlich oder verwandt mit jenen Freunden oder Konkurrenten sich auseinandersetzt. Es ist darin die gleiche Nötigung am Werke, die ihn als dramatischen Dichter bewegte, mit Egmont und Oranien Volksmann und Hofmann, mit Tasso und Antonio Dichter und Höfling, mit Prometheus und Epimetheus den schaffenden Mann und den klagenden Träumer, mit Faust und Mephisto sie alle zugleich als Personen des eigenen Selbst einander gegenüberzustellen.
Um den nächsten, dienenden Kreis schart sich in diesen späteren Jahren ein weiterer. Der Schweizer Heinrich Meyer, Goethes Gewährsmann in Fragen der Kunst, streng klassizistisch, besonnen, der Helfer bei der Redaktion der Propyläen und später bei der Leitung der Zeitschrift "Kunst und Altertum«; der Philologe Friedrich August Wolf, der durch den Nachweis, daß die homerischen Epen von einer ganzen Reihe unbekannter Dichter herstammen, deren Gesänge erst spät einheitlich redigiert und unter dem Namen Homers verbreitet wurden, Goethe aufs Zwiespältigste bewegte und mit Schiller Anteil an seinem Versuch hat, die Ilias in einer »Achillei's« fortzusetzen, welche Fragment blieb; Sulpiz Boisserée, der Entdecker des deutschen Mittelalters in der Malerei, der begeisternde Anwalt der deutschen Gotik, als solcher Freund der Romantiker und von der ganzen Romantik ausersehen, sich zum Fürsprech ihrer künstlerischen Überzeugung bei Goethe zu machen. (Seine jahrelangen Mühen mußten sich mit einem halben Siege begnügen, Goethe ließ sich schließlich bereit finden, eine Sammlung von Dokumenten und Plänen zur Geschichte und zum Ausbau des Kölner Doms bei Hof vorzulegen.) All diese Beziehungen wie zahllose andere sind Ausdruck einer Universalität, um derentwillen Goethe die Grenzen zwischen dem Künstler und Forscher und Liebhaber bewußt ineinander verfließen ließ: keine Gattung von Poesie und keine Sprache wurde in Deutschland beliebt, da nicht Goethe sich gleich mit ihr befaßte. Was er als Übersetzer, Reisebeschreiber, selbst Biograph, Kunstkenner und Kunstrichter, Physiker, Erzieher, sogar Theologe, Theaterdirektor, Hofdichter, Gesellschafter und Minister geleistet, diente alles, den Ruf seiner Allseitigkeit zu vermehren. Der Lebensraum dieser Universalität aber ward ihm mehr und mehr Europa und zwar im Gegensatz zu Deutschland. Er hat den großen europäischen Geistern, die gegen Ende seines Lebens auftauchten, Byron, Walter Seott, Manzoni, eine leidenschaftliche Bewunderung entgegengebracht, in Deutschland dagegen nicht selten das Mittelmäßige gefördert und für das Genie seiner Zeitgenossen Hölderlin, Kleist, Jean Paul keinen Sinn gehabt.
Gleichzeitig mit »Dichtung und Wahrheit« entstanden 1809 die »Wahlverwandtschaften«. Während Goethe an diesem Roman schrieb, gewann er zum ersten Male sichere Fühlung mit dem europäischen Adel, eine Erfahrung, aus der heraus für ihn sich die Anschauung jenes neuen, weltlich sicheren Publikums bildet, für das er sich schon vor zwanzig Jahren in Rom entschließen wollte, nur noch zu schreiben. Diesem Publikum, der schlesischpolnischen Aristokratie, Lords, Emigranten, preußischen Generälen, die sich in den böhmischen Bädern zumal um die Kaiserin von österreich fanden, sind die »Wahlverwandtschaften« zugedacht. Das hinderte den Dichter nicht, kritisch deren Lebensverhältnisse zu beleuchten. Denn die »Wahlverwandtschaften« zeichnen ein dünnes aber sehr scharfes Bild vom Verfall der Familie in der damals herrschenden Klasse. Aber die Macht, der diese Institution in der Auflösung zum Opfer fällt; ist nicht das Bürgertum sondern die in Gestalt magischer Schicksalskräfte in ihrem Urzustand restaurierte feudale Gesellschaft. Die Worte über den Adel, die Goethe fünfzehn Jahre früher in seinem Revolutions-Drama »Die Aufgeregten« dem Magister in den Mund legt: »Dieses übermütige Geschlecht kann sich doch von dem geheimen Schauer nicht losmachen, der alle lebendigen Kräfte der Natur durchschwebt, kann die Verbindung sich nicht leugnen, in der Worte und Wirkung, Tat und Folge ewig mit einander bleiben«, sind das magisch-patriarchalische Grundmotiv dieses Romans. Es ist die gleiche Denkart, die in »Wilhelm Meisters Wanderjahren« selbst die entschiedensten Versuche, das Bild eines vollentwickelten Bürgertums zu gestalten, auf ein Nachbild mystischer, mittelalterlicher Verbände – die geheime Gesellschaft im Turm – zurückführt. Die Entfaltung der bürgerlichen Kulturwelt, die Goethe weit universaler als irgend einer seiner Vorgänger und Nachfolger vollzog, vermochte er sich nicht anders als im Rahmen eines veredelten Feudalstaates zu denken. Und als die Mißwirtschaft der deutschen Restauration, in die die letzten zwanzig Jahre seines Wirkens fielen, ihm Deutschland noch mehr entfremdete, erhielt dieser erträumte Feudalismus patriarchalische Züge aus dem Orient. Das morgenländische Mittelalter des »West-östlichen Divan« stieg auf.
Dies Buch eroberte zugleich mit einem neuen Typus der philosophischen Lyrik der deutschen und europäischen Literatur die größte dichterische Verkörperung der Altersliebe. Nicht allein politische Notwendigkeiten wiesen Goethe auf den Orient. Die gewaltige Spätblüte, die Goethes erotische Leidenschaft im höchsten Alter entfaltete, ließ ihn selbst das Alter noch als Erneuerung, ja als Kostüm erfahren, das Eines mit dem östlichen werden mußte, in dem seine Begegnung mit Marianne von willerner zu einem kurzen, rauschenden Fest geworden war. Der »West-östliche Divan« ist dessen Nachgesang. Goethe erfaßte Geschichte, Vergangenheit nur in dem Maße, als ihm, sie in sein Dasein zu verschlingen, gelang. In der Folge seiner Passionen stellt Frau von Stein die Einkörperung der Antike, Marianne von Willemer die des Morgenlandes, Ulrike von Levetzow, seine letzte Liebe, die Vereinigung dieser Erscheinungen mit den deutschen Märchenbildern seiner Jugendzeit dar. Das lehrt die »Marienbader Elegie«, seine späteste Liebesdichtung. Goethe unterstrich die didaktische Wendung seines letzten Gedichtbandes durch die Notizen zum Divan, in denen er, gestützt auf Hammer-Purgstall und Diez, seine orientalistischen Studien dem Publikum vorlegt. In den Breiten des morgenländischen Mittelalters, unter Fürsten und Vesiren, im Angesicht der prunkvollen Kaiserhöfe nimmt Goethe die Maske des bedürfnislosen, vagabundierenden, trinkenden Hatem vor und bekennt sich damit dichterisch zu jenem verborgenen Zug seines Wesens, den er einmal Eckermann anvertraute: »Prächtige Gebäude und Zimmer sind für Fürsten und Reiche. Wenn man darin lebt, fühlt man sich beruhigt ... und will nichts weiter. Meiner Natur ist es ganz zuwider. Ich bin in einer prächtigen Wohnung, wie ich sie in Karlsbad gehabt, sogleich faul und untätig. Geringe Wohnung dagegen, wie dieses schlechte Zimmer, worin wir sind, ein wenig unordentlich ordentlich, ein wenig zigeunerhaft, ist für mich das Rechte; es läßt meiner inneren Natur volle Freiheit, tätig zu sein und aus mir selber zu schaffen.« In der Gestalt des Hatem läßt Goethe, versöhnt mit der Erfahrung seiner männlichen Jahre, noch einmal das Unstete, Wilde seiner Jugend zu Worte kommen. In vielen dieser Lieder hat der Dichter mit seinen gewaltigen Mitteln der Bettler-, Schenkenund Vagantenweisheit die höchste Form gegeben, die sie je gefunden haben.
»Wilhelm Meisters Wanderjahre« treiben den didaktischen Zug in der späteren Dichtung am schroffsten heraus. Der Roman, der lange liegen blieb, schließlich überstürzt beendet wurde, reich an Unstimmigkeiten und Widersprüchen ist, wurde zuletzt vom Dichter als Magazin behandelt, in den er den Inhalt seiner Notizhefte durch Eckermann einreihen ließ. Die zahlreichen Novellen und Episoden, aus denen das Werk entstand, sind nur lose verbunden. Deren wichtigste ist die "Pädagogische Provinz«, ein höchst merkwürdiges Zwittergebilde, in dem man Goethes Auseinandersetzung mit den großen, sozialistischen Werken eines Sismondi, Fourier, Saint-Simon, Owen, Bentham erblicken kann. Ihr Einfluß ging wohl kaum aus unmittelbarer Lektüre hervor, war aber unter den Zeitgenossen stark genug, um Goethe zu dem Versuch zu bestimmen, die feudale mit jener bürgerlich-praktischen Richtung zu verbinden, die so entschieden in diesen Schriften zur Geltung kam. Die Kosten dieser Synthese bestreitet das klassizistische Bildungsideal. Es tritt auf der ganzen Linie zurück. Sehr charakteristisch ist, daß der Ackerbau obligat erscheint, während über den Unterricht in den toten Sprachen nichts verlautet. Die »Humanisten« aus den »Lehrjahren« sind sämtlich Handwerker geworden: Wilhelm Chirurg, Jarno Bergmann, Philine Schneiderin. Goethe hat die Idee der Berufsausbildung von Pestalozzi übernommen. Das Lob des Handwerks, das Goethe schon in »Werthers Briefen aus der Schweiz« anstimmt, kehrt hier wieder. Das war in diesen Jahren, da die Probleme der Industrie die Nationalökonomen zu beschäftigen begannen, eher eine reaktionäre Haltung. Im übrigen entsprechen die sozial ökonomischen Gedanken, für die sich Goethe hier einsetzt, der Ideologie der bürgerlichen Philanthropie in ihrer utopischsten Ausbildung. »Besitz und Gemeingut« verkündet eine Inschrift auf den vorbildlichen Gütern des Oheims. Ein anderer Wahlspruch: »Vom Nützlichen durchs Wahre zum Schönen«. Derselbe Synkretismus äußert sich charakteristisch auch in der religiösen Unterweisung. Wenn Goethe auf der einen Seite ein abgesagter Feind des Christentums ist, so respektiert er auf der andern in der Religion die stärkste Bürgschaft jeder hierarchischen Gesellschaftsform. Ja, er versöhnt sich hier sogar mit dem Bilde des Leidens Christi, das jahrzehntelang seinen leidenschaftlichsten Widerwillen weckte. In der Gestalt der Makarie ist am reinsten die Ordnung der Gesellschaft im Goetheschen Sinne, nämlich durch patriarchalische und kosmische Normen, zum Ausdruck gebracht. Die Erfahrungen seiner praktischen, politischen Tätigkeit haben diese seine Grundüberzeugungen nicht beeinflussen können, trotzdem sie ihnen oft genug widersprochen haben. So mußte denn der Versuch, jene Erfahrungen und diese Überzeugungen zu vereinigen und im Ganzen einer Dichtung zum Ausdruck zu bringen, so stückhaft werden, wie die Struktur des Romans es zeigt. Und im Dichter selbst melden sich letzte Vorbehalte, wenn er die glücklichere, harmonischere Zukunft seiner Gestalten in Amerika sucht. Dorthin läßt der Schluß des Romans sie auswandern. Man hat das eine »organisierte, kommunistische Flucht« genannt.
Wenn Goethe in seinen reifen Schaffensjahren dem Dichterischen häufig ausbog, um in theoretischen Untersuchungen oder administrativen Geschäften sich zwangloser seiner Laune und Neigung hinzugeben, so ist das große Phänomen seiner letzten Jahre wie der unabsehbare Kreis seiner fortlaufenden naturphilosophischen, mythologischen, literarischen, künstlerischen, philologischen Studien, seiner ehemaligen Beschäftigung mit Bergbau, Finanzen, Theaterwesen, Freimaurerei, Diplomatie sich konzentrisch in eine letzte, gewaltige Dichtung zusammenzieht, den zweiten Teil des »Faust«. Goethe hat nach eigenem Zeugnis an beiden Teilen der Dichtung über sechzig Jahre gearbeitet. 1775 brachte er das erste Fragment, den »Urfaust«, nach Weimar. Es enthält bereits einige Hauptzüge des späteren Werkes; die Gestalt Gretchens, das naive Gegenbild des sentimentalen Urmenschen Faust, aber auch das Proletarierkind, die uneheliche Mutter, die Kindsmörderin, die gerichtet wird und an der die flammende Gesellschaftskritik der Stürmer und Dränger in Gedichten und Dramen sich schon lange genährt hatte; die Gestalt Mephistos, schon damals weniger der Teufel der christlichen Lehre als der Erdgeist magischer, kabbalistischer Überlieferungen; endlich in Faust schon den titanischen Urmenschen, den Zwillingsbruder eines in der Frühzeit geplanten Moses, der gleich ihm der Gottnatur ihr Schöpfungsgeheimnis zu entreißen versuchen sollte. 1790 erschien das Faust-Fragment .. 1808 stellte Goethe für die erste Ausgabe seiner Werke bei dem Verleger Cotta den ersten Teil fertig. Hier zum ersten Male zeichnet sich die Handlung in scharfen Zügen ab. Sie baut sich auf dem »Prolog im Himmel« auf, der die Wette zwischen Gott dem Herrn und Mephisto um die Seele des Faust bringt. Gott räumt dem Teufel freies Spiel bei Faust ein. Faust aber schließt mit dem dienstbaren Teufel den Pakt, nur dann mit seiner Seele ihm verfallen zu müssen, wenn er je zum Augenblicke sagen wird: »Verweile doch! du bist so schön! | Dann magst du mich in Fesseln schlagen, | Dann will ich gern zu Grunde gehn! | Dann mag die Totenglocke schallen, | Dann bist du deines Dienstes frei, | Die Uhr mag stehn,der Zeiger fallen, | Es sei die Zeit für mich vorbei!« Der Angelpunkt der Dichtung aber ist: Fausts wildes, ruheloses Streben ins Absolute macht die Verführungskunst Mephistos zuschanden, der Kreis der Sinnenfreuden ist schnell durchmessen, ohne Faust zu fesseln: »So tauml' ich von Begierde zu Genuß, | Und im Genuß verschmacht' ich nach Begierde.« Fausts Sehnen drängt je länger je entschiedener ins Grenzenlose. In Gretchens Kerker geht unter Weherufen der erste Teil des Dramas zuende. Dieser erste Teil ist für sich betrachtet eine der düstersten Schöpfungen Goethes. Und man hat von ihm sagen können, daß die Faustsage im sechzehnten Jahrhundert als Weltlegende wie im achtzehnten Jahrhundert als Welttragödie des deutschen Bürgertums es zum Ausdruck brachte, wie diese Klasse, in beiden Fällen, ihr Spiel verloren hatte. Mit dem ersten Teil schließt Fausts Bürgerdasein ab. Die politischen Szenerien des zweiten Teils sind Kaiserhöfe und antike Paläste. Die Umrisse des Goetheschen Deutschland, welches durch das romantische Mittelalter des ersten Teils noch hindurch scheint, sind im zweiten Teil verschwunden, und die ganze, ungeheure Gedankenbewegung, in welche dieser zweite Teil hineinführt, ist zuletzt gebunden an die Vergegenwärtigung des deutschen Barock, durch dessen Medium hindurch der Dichter auch die Antike sieht. Goethe, der gerade das klassische Altertum unhistorisch und gleichsam im luftleeren Raum sich vor Augen zu stellen lebenslang sich bemüht hatte, entwirft nun in der klassisch-romantischen Phantasmagorie »Helena«, das erste große, durch die Vergangenheit des Deutschtums selbst geschaute Bild der Antike. Um dieses Werk, den späteren dritten Akt des zweiten Teils, bauen sich die übrigen Teile der Dichtung. Es kann kaum entschieden genug betont werden, wieviel an diesem späteren Teile zumal in den Szenen, die am Kaiserhofe und im Feldlager sich abspielen, politische Apologie, politischer Ertrag von Goethes ehemaligem höfischem Wirken ist. Wenn der Dichter am Ende seine ministerielle Tätigkeit mit einer Kapitulation vor den Intrigen einer fürstlichen Mätresse in tiefster Resignation hatte abschließen müssen, so umreißt er am Ende seines Lebens ein ideales Deutschland der Barockzeit, in dem er alle Möglichkeiten des staatsmännischen Waltens ins Große und doch auch wieder alle Unzulänglichkeiten dieses Waltens ins Groteske steigert. Merkantilismus, Antike und mystisches Naturexperiment: Vollendung des Staates durch das Geldwesen, der Kunst durch die Antike, der Natur durch das Experiment sind die Signatur der Epoche, die Goethe heraufruft: des europäischen Barock. Und es ist zuletzt keine fragwürdige ästhetische sondern eine innerste politische Notwendigkeit dieser Dichtung, daß am Ende des fünften Aktes der katholische Himmel mit Gretchen als einer der Büßenden sich eröffnet. Goethe blickte zu tief, um bei seinem utopischen Regreß auf den Absolutismus beim protestantischen Fürstentum des achtzehnten Jahrhunderts sich beruhigen zu können. Soret hat von dem Dichter das tiefe Wort gesagt: »Goethe ist liberal in abstraktem Sinn, aber in der Praxis neigt er zu den reaktionärsten Prinzipien.« In dem Zustande, der Fausts Leben krönt, läßt Goethe den Geist seiner Praxis zum Ausdruck kommen: dem Meere Boden abgewinnen, ein Wirken, welches der Natur Geschichte vorschreibt, in die Natur sich einschreibt, das war Goethes Begriff historischer Wirksamkeit, und alle politischen Formen sind ihm im Grunde nur gut gewesen, solch eine Wirksamkeit zu schützen, zu garantieren. In einem geheimnisvollen, utopischen Ineinand!!rspiel agrarischtechnischen Wirkens und Schaffens mit dem politischen Apparat des Absolutismus hat Goethe die magische Formel gesehen, kraft deren die Realität der sozialen Kämpfe in Nichts sich verflüchtigen sollte. Lehnsherrschaft über bürgerlich bewirtschaftete Ländereien, das ist das zwiespältige Bild, in welchem Fausts höchstes Lebensglück seinen Ausdruck findet.
Kurz nach Vollendung des Werkes starb Goethe am 22. März 1832. Bei seinem Tode war das Tempo der Industrialisierung Europas in rasendem Wachstum begriffen. Goethe sah die Entwicklung voraus. So heißt es 1825 in einem Brief an Zelter: »Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt. Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Fazilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren. Es ist ja auch das Resultat der Allgemeinheit, daß eine mittlere Kultur gemein werde: dahin streben die Bibelgesellschaften, die lankasterische Lehrmethode und was nicht alles. Eigentlich ist es ja das Jahrhundert für die fähigen Köpfe, für leichtfassende, praktische Menschen, die mit einer gewissen Gewandtheit ausgestattet ihre Superiorität über die Menge fühlen, wenn sie gleich selbst nicht zum Höchsten begabt sind. Laß uns soviel als möglich an der Gesinnung halten, in der wir heran kamen, wir werden mit vielleicht noch wenigen die Letzten sein einer Epoche, die sobald nicht wiederkehrt.« Goethe wußte, seine unmittelbare Nachwirkung werde schwach sein, und in der Tat hielt das Bürgertum, in dem die Hoffnung auf Errichtung der deutschen Demokratie neu auflebte, sich an Schiller. Es kamen aus der Gegend des Jungen Deutschland die ersten literarisch wichtigen Proteste. So Börne: »Goethe hat nur immer der Selbstsucht, der Lieblosigkeit geschmeichelt; darum lieben ihn die Lieblosen. Er hat die, gebildeten Leute gelehrt, wie man gebildet sein könne, freisinnig und ohne Vorurteile und doch ein Selbstling; wie man alle Laster haben könne ohne ihre Roheit, alle Schwächen ohne ihre Lächerlichkeit; wie man den Geist rein erhalte von dem Schmutze des Herzens, mit Anstand sündige und den Stoff jeder Nichtswürdigkeit durch eine schöne Kunstform veredele. Und weil er sie das gelehrt, verehren ihn die gebildeten Leute.« Der hundertste Geburtstag Goethes, 1849, verlief klanglos, verglichen mit dem zehn Jahre späteren von Schiller, der sich zu einer großen Demonstration der deutschen Bourgeoisie gestaltete. In den Vordergrund drang die Erscheinung Goethes erst in den siebziger Jahren nach der Reichsgründung, als Deutschland nach monumentalen Repräsentanten seines nationalen Prestiges Ausschau hielt. Hauptdaten: Gründung der Goethe-Gesellschaft unter dem Protektorat deutscher Fürsten; Sophien-Ausgabe der Werke, fürstlich beeinflußt; Prägung des imperialistischen Goethe-Bildes auf den deutschen Hochschulen. Aber trotz der unabsehbaren Literatur, die die Goethephilologie hervorbrachte, hat sich die Bourgeoisie dieses gewaltigen Geistes nur sehr unvollkommen zu ihren Zwecken bedienen können, von der Frage, wie weit sie in seine Intentionen eindrang, zu schweigen. Sein ganzes Schaffen ist voller Vorbehalte gegen diese Klasse. Und wenn er eine hohe Dichtung in sie stiftete, so tat er es mit abgewendetem Antlitz. Er hat denn auch nicht im entferntesten die Wirkung gehabt, die seinem Genie entsprach, ja freiwillig ihr entsagt. Und so verfuhr er, um den Gehalten, die ihn erfüllten, die Form zu geben, die ihrer Auflösung durch das Bürgertum bis heut widerstanden hat, weil sie unwirksam bleiben, nicht aber verfälscht und bagatellisiert werden konnte. Diese Intransigenz des Dichters gegen die Denkart des bürgerlichen Durchschnitts und damit eine neue Seite seiner Produktion wurde aktuell mit der Reaktion auf den Naturalismus. Die Neu-Romantik (Stefan George, Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Borchardt), in der zum letzten Male bürgerliche Dichter von hohem Niveau den Versuch machten, unter dem Patronat der geschwächten feudalen Autoritäten die bürgerliche Klassenfront zumindest auf der kulturellen Linie zu retten, gab der Goethephilologie wissenschaftlich bedeutende Anregung (Konrad Burdach, Georg Simmel, Friedrich Guridolf). Diese Richtung erschloß vor allem Stil und Werke von Goethes Spätzeit, die man im neunzehnten Jahrhundert unbeachtet gelassen hatte.