Zum gesellschaftlichen Standort des französischen Schriftstellers
[Guillaume Apollinaire]
Als im Jahre 1914 der Krieg ausbrach, lag unter der Presse ein Buch von Guillaume Apollinaire: »Le Poète assassiné«. Man hat Apollinaire den Bellachini der Literatur genannt. Im Stile seines Schreibens und seines Daseins lagen alle Theorien und Parolen, die damals fällig waren, bereit. Er holte sie aus seiner Existenz wie ein Zauberer aus dem Zylinderhut, was man gerade von ihm verlangt: Eierkuchen, Goldfische, Ballkleider, Taschenuhren. Solange dieser Mann lebte – am Tage des Waffenstillstandes ist er gestorben –, ist keine radikale, exzentrische Mode in Malerei oder Schrifttum erschienen, die er nicht geschaffen oder zumindest lanciert hätte. Mit Marinetti gab er, in seinen Anfängen, die Losungen des Futurismus aus; dann propagierte er Dada; die neue Malerei von Picasso bis zu Max Ernst; zuletzt den Surrealismus, dem er den Namen schenkte. In der Erzählung, welche dem Novellenband »Der ermordete Dichter« den Titel gibt, veröffentlicht Apollinaire einen, natürlich apokryphen, Artikel, welcher »am 26. Januar jenes Jahres« in dem Journal »Die Stimme« in Adelaide, Australien, aus der Feder eines deutschen Chemikers erschienen sei. In diesem Artikel heißt es:
»Der wahre Ruhm hat die Dichtung verlassen, um sich der Wissenschaft, der Philosophie, der Akrobatik, der Philanthropie, der Soziologie usw. zuzuwenden. Die Dichter sind heute zu nichts weiter gut, als Gelder zu beziehen, die sie im übrigen nicht verdienen, weil sie fast nicht arbeiten und die meisten unter ihnen (ausgenommen die Kabarettisten und einige andere) nicht das geringste Talent und infolgedessen nicht die geringste Entschuldigung haben. Was die halbwegs Begabten angeht, so sind sie noch schädlicher, weil sie nichts beziehen und an nichts Hand legen und jeder doch mehr Lärm als ein ganzes Regiment machen ... All diese Leute haben keinerlei Existenzrecht mehr. Die Preise, die man ihnen verleiht, hat man den Arbeitern, den Erfindern, den Gelehrten, den Philosophen, den Akrobaten, den Philanthropen, den Soziologen usw. gestohlen. Die Dichter müssen unbedingt verschwinden. Lykurg hatte sie aus der Republik vertrieben, man muß sie von der Erde vertreiben.«
Der Verfasser habe dann in der Abendausgabe noch einen Nachtrag erscheinen lassen, in dem es geheißen habe:
»Du hast, Welt, zwischen deinem Leben und der Dichtung zu wählen; wenn man nicht ernstliche Maßnahmen gegen diese ergreifen wird, so wird es um die Zivilisation geschehen sein. Zögern ist nicht gestattet. Morgen schon wird das neue Zeitalter beginnen. Es wird keine Poesie mehr geben ... Man wird die Dichter ausrotten.«
Es ist diesen Worten nicht anzusehen, daß sie vor zwanzig Jahren geschrieben sind. Nicht daß diese bei den Jahrzehnte spurlos an ihnen vorübergegangen wären. Ihr Werk jedoch hat eben darin bestanden, aus einer Laune, aus einer übermütigen Improvisation die Wahrheit zu entwickeln, die in ihr angelegt war. Die Landschaft, die mit diesen Worten blitzartig erhellt wurde – damals noch eine Ferne – haben wir inzwischen kennen gelernt. Es ist die gesellschaftliche Verfassung des Imperialismus, in der die Position der Intellektuellen immer schwieriger geworden ist. Die Auslese, die unter ihnen von den Herrschenden vorgenommen wird, hat Formen angenommen, die an Unerbittlichkeit dem Vorgang, den Apollinaire beschreibt, kaum etwas nachgeben. Was seitdem an Versuchen unternommen wurde, die Funktion des Intellektuellen in der Gesellschaft zu bestimmen, legt Zeugnis von der Krise ab, in der er lebt. Nicht allzuviele haben die Entschiedenheit, den Scharfblick besessen zu erkennen, daß die Bereinigung, wenn schon nicht seiner wirtschaftlichen, so gewiß seiner moralischen Situation die eingreifendste Veränderung der Gesellschaft zur Voraussetzung hat. Wenn diese Einsicht heute unzweideutig bei André Gide und einigen Jüngeren zum Ausdruck kommt, so kann ihr Wert nur um so größer erscheinen, je genauer man die schwierigen Verhältnisse sich vergegenwärtigt, denen sie abgewonnen wurde.
[Maurice Barrès]
Im Blitz der Prophetie Apollinaires entlädt sich eine schwüle Atmosphäre. Es ist die Atmosphäre, die dem Werk Maurice Barrès' entstammt, dessen Einfluß auf die Intelligenz der Vorkriegsjahre entscheidend war. Barrès war ein romantischer Nihilist. Die Desorganisation der Intellektuellen, die ihm folgten, mußte weit vorgeschritten sein, wenn die Maximen eines Mannes bei ihnen Anerkennung fanden, der erklärt hat: »Was liegt mir an der Richtigkeit der Lehren; es ist der Enthusiasmus, den ich an ihnen zu schätzen weiß.« Barrès war tief davon durchdrungen, und er hat es bekannt, »daß alles auf eins herauskommt, ausgenommen der Elan, der uns und unseresgleichen aus gewissen Ideen strömt, und daß es für die, die sich den richtigen Gesichtspunkt erobert haben, keine großen Ereignisse, sondern nur großartige Schauspiele gibt«. Je näher man in die Gedankenwelt des Mannes eintritt, desto enger erscheint ihre Verwandtschaft mit den Lehren, die die Gegenwart überall hervorbringt. Es ist der gleiche Nihilismus der Grundgesinnung, der gleiche Idealismus der Geste und der gleiche Konformismus, der die Resultante aus Nihilismus und Idealismus bildet. Wie nach La Rochefoucauld Erziehung nichts kann als einen Menschen lehren, wie er mit Anstand einen Pfirsich schält, so kommt der ganze romantische und schließlich auch politische Apparat, den Barrès in Bewegung setzt, um »den Kult der Erde und der Toten« zu propagieren, am Ende keinem höheren Zweck zugute, als aus »regellosen Empfindungen kultiviertere zu machen«. Nirgends verleugnen diese kultivierten Empfindungen den Ursprung aus einem Ästhetentum, das nur die andere Seite des Nihilismus ist. Und wie heute der italienische Nationalismus aufs imperiale Rom, der deutsche auf das germanische Heidentum sich berufen, so glaubt Barrès die Stunde »der Versöhnung der besiegten Götter und der Heiligen« gekommen. Er will die reinen Quellen und die tiefen Wälder nicht minder als die Kathedralen Frankreichs retten, für welche er im Jahre 1914 in einer berühmten Schrift eingetreten ist: »Und um die Geistigkeit der Rasse aufrecht zu erhalten, fordere ich ein Bündnis zwischen dem katholischen Gefühl und dem Geist des Bodens.«
Seine tiefst gehende Wirkung erreichte Barrès mit dem Roman »Les Déracinés«, welcher die Schicksale von sieben Lothringern, die ihre Studien in Paris verfolgen, schildert. über diesen Roman hat der Kritiker Thibaudet die aufschlußreiche Bemerkung gemacht:
»Wie von selbst geschieht es, daß vier aus dieser Gruppe es zu etwas bringen und honette Leute bleiben: die nämlich, die Geld haben. Von jenen bei den aber, welche ein Stipendium bekommen, wird der eine ein Erpresser und der andere ein Mörder. Das ist kein Zufall. Barrès hat zu verstehen geben wollen, daß die große Bedingung der Ehrenhaftigkeit die Unabhängigkeit, das heißt Vermögen, ist.«
[Jules Lagneau]
Barrès' Philosophie ist eine Philosophie des Erben. Es trifft sich, daß der schwerwiegende Roman, in dem er sie gestaltet hat, in einer der Hauptfiguren eine Studie ist, welche Barrès nach einem seiner Lehrer, nach Jules Lagneau, gefertigt hat. Die beiden, die sich auch im Leben nicht verstanden, standen gesellschaftlich sich auf das schroffste gegenüber. Lagneau war wirklich ein Entwurzelter. Er stammte aus Metz; seine Familie war, nachdem sie 1871 für Frankreich optiert hatte, zugrunde gerichtet worden. Frankreich war für den jungen Lagneau in jeder Hinsicht das Gegenteil einer Erbschaft. Der Philosoph mußte mit zwanzig Jahren die Last für die Familie auf sich nehmen. Mit zwanzig Jahren aber tritt Barrès seine Erbschaft an, die ihm die Muße ließ, den »Culte du moi« zu schreiben.
[Alain]
Lagneau hat weniges an Schriften hinterlassen. In der Geistesgeschichte der letzten Jahrzehnte aber stellt er einen Wegweiser dar. Von diesem Lehrer sind zwei Schüler ausgegangen, zwei Intellektuelle, deren Werk den Umkreis der bürgerlichen Ideologie von Frankreich einigermaßen vollkommen in sich faßt. Was Barrès' Werk für die Ideologien der Rechten geleistet hat, das tat der andere Schüler, Emile Chartier, für die der Linken. Alains politische Bekenntnisschrift, »Eléments d'une doctrine radicale« – das heißt in diesem Falle einer Doktrin der radikalen Partei – stellen eine Art Vermächtnis von Jules Lagneau dar. Die Radikalen sind, was ihre Führung betrifft, eine Partei der Professoren und der Lehrer. Lagneau war ein sehr typischer Vertreter dieser Haltung: »Wir untersagen uns, so schreibt er, alles Haschen nach Popularität, jeden Ehrgeiz, etwas vorzustellen; wir untersagen uns auch die geringste Unwahrhaftigkeit und, sei es durch Wort, sei es durch Schrift, irrige Vorstellungen über das, was möglich ist, zu schaffen oder zu unterhalten.« Er fügt hinzu: »Wir werden kein Vermögen thesaurieren: wir verzichten auf Ersparnisse, auf Vorsorge für uns und für die unsern: diese Tugend, an der wir sterben werden, bedarf keiner Empfehlung.« Die Züge dieses Intellektuellen stellen – gleichviel wieweit sie dem Leben abgelauscht sein mögen – ein so bestimmtes und eingewurzeltes Ideal der bürgerlichen Führerschichten in der »Republik der Professoren« dar, daß es nicht überflüssig ist, so scharf wie möglich sie zu beleuchten. Das mag durch einen Absatz von Jacques Chardonne geschehen, in welchem dieser Typ des bürgerlichen Intellektuellen sogar als Typ des kleinen. Bürgers schlechtweg ausgegeben wird. Daß diese Schilderung sichtbar übertrieben und schablonisiert ist, macht sie an dieser Stelle nur brauchbarer.
»Der Bürger – es ist vom Kleinbürger im angegebenen Sinn die Rede – ist ein Künstler. Er ist ein kultiviertes Geschöpf, aber unabhängig genug von den Büchern, um seine eigenen Gedanken zu haben; er hat, sei es aus Erfahrung, sei es aus der Nähe, hinreichend Reichtümer gekannt, um nicht mehr an sie zu denken, er ist von Grund auf gleichgültig gegen gleichgültige Dinge und für die Armut geschaffen wie kein anderer; ohne Vorurteile und seien sie sehr edel, ohne Illusionen, ohne Hoffnung; der erste, wenn es gilt, für andere Gerechtigkeit zu fordern, der erste, wenn es gilt, ihren Vollzug zu leiden; auf Erden, wo er alles außer seinem gerechten Lohn empfangen hat, erwartet er nichts mehr und nichts im Jenseits; und dennoch hat er sein Gefallen an einem so anspruchslosen Leben und weiß, ohne es schlecht zu machen, das, was es an Gutem bietet, zu genießen. Die Erde, die diese Wesen hervorgebracht hat, hat ihre Aufgabe nicht verfehlt. Der Weg, der zu dieser Lebensweisheit führt, ist kein schlechter. Darum gibt es noch eine Hoffnung für die Enterbten. Darum muß man niemandem im voraus all das streitig machen, was die Gesellschaft einem Menschen geben kann.«
[Paul Morand]
Der Radikalismus als politische Partei hat Barrès beim Wort genommen, Er stellt sich die Probleme so wie dieser, nur daß er sie im entgegengesetzten Sinne beantwortet. Dem Erbrecht der Traditionalisten stellt er das Recht des Kindes, den Privilegien der Geburt und des Vermögens das persönliche Verdienst des einzelnen und die Erfolge in den Staatsprüfungen gegenüber. »Und warum nicht, schließt Thibaudet, die chinesische Zivilisation hat sich jahrtausendelang auf Grund der Examinokratie erhalten.« Der Vergleich mit China, so befremdend er ist, kann einigen Aufschluß geben. Er zählt seit langem zum eisernen Bestand der Essayisten. Paul Morand hat ihn auch gewagt und von den frappanten Ähnlichkeiten zwischen dem Chinesen und dem Kleinbürger von Frankreich gesprochen. Bei beiden »fanatische Sparsamkeit, die Kunst, die Dinge immer wieder auszubessern und so ihre Lebensdauer zu verlängern ..., Mißtrauen, jahrhundertalte Höflichkeit, tief eingewurzelter, aber passiver Fremdenhaß, Konservatismus, welcher von sozialen Sturmböen unterbrochen wird, Mangel an Gemeinsinn und Zähigkeit der alten Leute, welche über Krankheiten hinaus sind. Man sollte meinen, alle alten Zivilisationen ähneln sich.« Jener gesellschaftliche Untergrund, auf dem die größte Partei von Frankreich – denn das ist die Radikale – erwachsen ist, ist ganz gewiß nicht mit der Gesamtstruktur des Landes identisch. Wohl aber bilden die Organisationen und die Klubs – die sogenannten cadres –, welche diese Partei im ganzen Lande zur Verfügung hat, die Luft, in der die wesentlichsten Ideologien der Intelligenz sich entfaltet haben und aus der nur die fortgeschrittensten herausgewachsen sind. Das Buch, das André Siegfried vor drei Jahren unter dem Titel »Tableau des partis en France« hat erscheinen lassen, ist ein wertvolles Instrument zum Studium dieser cadres. Alain ist keineswegs ihr Führer, aber der klügste Interpret dieser Gruppen. Er definiert ihre Aktion als eine »beständige Bekämpfung der Großen durch die Kleinen«. Und in der Tat hat man behaupten können, das ganze ökonomische Programm des Radikalismus bestehe darin, eine Aureole um das Wörtchen »klein« zu weben: den kleinen Ackerbauer, den kleinen Kaufmann, den kleinen Eigentümer und den kleinen Sparer in Schutz zu nehmen.
Soweit Alain. Er ist mehr Interpret als Kämpfer. Es liegt in der Natur des gesellschaftlichen Unterbaus, auf welchem die Aktion der bürgerlichen Intellektuellen sich abspielt, daß eine entschiedenere Aktion sogleich in das Sektiererische und Romantische zu gleiten droht. Bendas und Péguys Ideologien sind dafür ein Beispiel.
[Benda]
In die durch Barrès und Maurras geschaffene, von der Nachkriegsentwicklung sanktionierte geistige Situation schlug vor fünf Jahren Bendas »Trahison des clercs«. Benda beschäftigt sich in diesem Buch mit der Stellung, die im Laufe der letzten Jahrzehnte die Intellektuellen zur Politik einzunehmen begannen. Und er sagt: Von jeher ist, seitdem es Intellektuelle gibt, ihr weltgeschichtliches Amt gewesen, die allgemeinen und abstrakten Menschheitswerte: Freiheit und Recht und Menschlichkeit zu lehren. Nun aber haben sie mit Maurras und Barrès, mit d'Annunzio und Marinetti, mit Kipling und Conan Doyle, mit Rudolf Borchardt und Spengler begonnen, die Güter zu verraten, zu deren Wächter Jahrhunderte sie bestellt haben. Zweierlei bezeichnet die neue Wendung. Einmal die beispiellose Aktualität, die das Politische für die Literaten bekommen hat. Politisierende Romanciers, politisierende Lyriker, politisierende Historiker, politisierende Rezensenten, wohin man blickt. – Aber nicht nur die politische Leidenschaft selbst scheint ihm das Unglaubwürdige, das Unerhörte. Befremdender und unheilvoller noch die Richtung, in der sie sich auslebt: die Parolen einer Intelligenz, die die Sache der Nationen gegen die Menschheit, der Parteien gegen das Recht, der Macht gegen den Geist verfechten. Die bitteren Notwendigkeiten des Wirklichen, die Maximen der Realpolitik sind auch früher schon von den »clercs« vertreten worden, aber mit dem Pathos der sittlichen Vorschrift hat nicht einmal ein Machiavell sie hinstellen wollen.
Der Katholizismus schreibt Benda seine Haltung vor. Die These, die er seinem Buch zugrunde legt, behauptet eine doppelte Moral in aller Form: die der Gewalt für die Staaten und Völker, die des christlichen Humanismus für die Intelligenz. Und er beklagt viel weniger, daß die christlich-humanitären Normen keinen entscheidenden Einfluß auf das Weltgeschehen üben, als daß sie sich mehr und mehr dieses Anspruchs begeben müssen, weil die Intelligenz, die sie vertreten hat, zur Partei der Macht überging. Man muß die Virtuosität bewundern, mit der Benda im Vordergrund des Problems sich aufhält. Der Untergang der freien Intelligenz ist, wenn nicht allein, so doch entscheidend, wirtschaftlich bedingt. In diese wirtschaftliche Grundlage ihrer Krise zeigt der Autor genausowenig Einsicht wie in die der Wissenschaften, die Erschütterung des Dogmas einer voraussetzungslosen Forschung. Und er scheint nicht zu sehen, wie die Verhaftung der Intelligenz an die politischen Vorurteile der Klassen und Völker nur ein meist unheilvoller, meist zu kurz gegriffener Versuch ist, aus den idealistischen Abstraktionen heraus und der Wirklichkeit wieder nah, ja, näher als je, auf den Leib zu rücken. Gewalttätig und krampfhaft fiel dann diese Bewegung freilich aus. Statt aber die ihr angemessene Gestalt zu suchen, sie rückgängig machen, den Literaten wieder der Klausur des utopischen Idealismus überantworten zu wollen, das verrät – darüber kann auch die Berufung auf die Ideale der Demokratie nicht täuschen – eine durchaus romantische Geistesverfassung. Benda hat sie noch kürzlich im »Discours à la Nation Européenne« bekundet, in dem er den geeinten Erdteil – dessen Wirtschaftsformen die alten geblieben sind – mit gewinnender Feder zeichnet:
Dieses Europa »wird mehr ein wissenschaftliches als ein literarisches, mehr ein intellektuelles als ein künstlerisches, mehr ein philosophisches als ein pittoreskes Europa sein. Und nicht wenige unter uns gibt es, denen es eine bittere Lehre sein wird. Denn wieviel anziehender als Gelehrte sind Dichter! wieviel betörender als Denker sind Künstler! Hier aber heißt es sich bescheiden: Europa wird seriös sein, oder es wird überhaupt nicht sein. Es wird sehr viel weniger kurzweilig sein als die Nationen, welche es ihrerseits schon weniger als die Provinzen gewesen sind. So heißt es wählen: entweder werden wir Europa zustande bringen, oder wir werden ewig Kinder bleiben. Die Nationen werden liebliche Clorinden gewesen sein; in dem Gefühl, sinnliche, inbrünstig geliebte Wesen dargestellt zu haben, werden sie glücklich sein. Europa aber wird jener jungen Gelehrten aus dem dreizehnten Jahrhundert ähnlich sehen müssen, die an der Universität Bologna Mathematik dozierte und vor ihren Hörern verschleiert auftrat, um sie nicht durch ihre Schönheit zu verwirren.«
Es ist nicht schwer, in diesem sehr utopischen Europa eine verwandelte und gleichsam überlebensgroße Klosterzelle zu entdecken, in deren Abgeschiedenheit »die Geistigen« sich zurückziehen, um am Text eines Sermons zu weben, von dem Gedanken unangefochten, daß er, wenn überhaupt, so nur vor leeren Bänken wird verlesen werden. Darum läßt sich kaum etwas gegen Berl einwenden, wenn er sagt: »›Verrat der Geistigen‹? Denkt bei dem Worte ›Geistiger‹ Benda nicht eigentlich an den Pfaffen, der die Sorge für Seelen und für irdische Habe trägt? ... Spricht hier nicht Heimweh nach dem Kloster, nach den Benediktinern, ... ein Heimweh, das in der modernen Welt so stark ist? Will man dem immer noch nachtrauern?«
[Charles Pèguy]
Der »Geistige«, den Benda so, beschwörend, aufruft, um der Krise zu begegnen, enthüllt sich rasch genug nach seiner wahren Natur, nach der er nichts ist als beschworene Erscheinung eines Abgeschiedenen, des mittelalterlichen Klerikers in seiner Zelle. Nun aber hat es an Versuchen nicht gefehlt, dem Schemen des »Geistigen« Leben einzuflößen. Ihn ins Fleisch zu rufen hat sich niemand inbrünstiger bemüht als Charles Pèguy, welcher an die Kräfte des Bodens und des Glaubens appellierte, um dem Intellektuellen seinen Platz in der Nation und der Geschichte anzuweisen, ohne – wie Barrès – auf jene Züge an ihm zu verzichten, die in der Überlieferung der französischen Revolution gelegen sind: die libertären, anarchistischen. Pèguy ist zu Anfang des Krieges gefallen. Sein Lebenswerk ist heut jedoch noch durch die Klarheit und durch die Energie belangreich, mit der er die Funktion des Intellektuellen zu definieren suchte. Péguy entspricht, so könnte man versucht sein zu glauben, eigentlich dem Bild, das Benda sich vom clerc trahissant, vom Geistigen als Verräter machte. Doch dieser Anschein hält nicht stand.
»Man kann von Péguy sagen, was man will; niemals, daß er verraten hat. Warum? Weil eine Haltung Verrat erst wird, wenn sie von Faulheit oder Furcht diktiert wird. Der Verrat der Geistigen liegt in der Dienstbarkeit, mit der sie sich Stimmungen und Vorurteilen unterstellen. Nichts derart bei Péguy. Nationalist ist er gewesen, und stand doch auf Seiten Dreyfus'. Katholik ist er gewesen, aber von der Kommunion war er ausgeschlossen.«
Und wenn Berl, anspielend auf den Titel eines Buches von Barrès, einen gewissen Typus des Literaten mit den Worten zeichnet: »Feind der Gesetze – ja, doch Freund der Machthaber«, so gilt das für niemanden weniger als für Péguy. Er stammte aus Orléans.
»Dort war er, so schildern die Tharauds die Herkunft ihres Freundes, in einer Umwelt von alter Zivilisation herangewachsen, deren ursprüngliche Farbe von örtlichen Überlieferungen und einer jahrhundertalten Tradition bestimmt war und keinen, oder beinah keinen Einschlag von Fremdem hatte; im Schoß einer Bevölkerung, die der Erde nahe und von halb bäuerlicher Artung war ... Kurz, es umgab ihn eine alte Welt, eine Welt von ehedem, die sehr viel mehr dem Frankreich des ancien régime benachbart war als dem der Gegenwart.«
Péguys großer Reformversuch bewahrte in allen Zügen den Stempel seines Ursprungs. Noch ehe er für die Verbreitung seiner Ideen als sein eigener Verleger, sein eigener Drucker, die »Cahiers de la Quinzaine« geschaffen hatte – schon auf der Ecole Normale hielt er mit Bewußtsein heimische Traditionen hoch. Die Generation, welcher er angehörte, gab Frankreich zum ersten Male seit der Renaissance große Schriftsteller bäuerlicher Herkunft, Sprache, Denkart: Claudel, Jammes, Ramuz. »Péguy als erster bot das anstößige Schauspiel eines Schülers, der Mitglied der Ecole Normale gewesen war und nicht den kleinsten Funken kultivierten, klassischen, überkommenen Stils empfangen hatte.« Péguys Stil kommt vielmehr vom Boden her, man hat ihn in den langen rauhen Sätzen, die ihn formen, der langen rauhen bäuerlichen Furche verglichen, die die Saat empfangen soll.
So sind die Kräfte, an die Péguy appellierte, um den revolutionären Typ des Geistigen zu bilden, von vorrevolutionärer Herkunft. »Der Bauer, der französische Handwerker, heißt es bei André Siegfried, sind uns aus dem Mittelalter überkommen, und wenn wir in uns selbst tief Nachschau halten, so müssen wir wohl oder übel sagen, daß alles Wichtige schon vor der Revolution geformt war. Wir sind also kein junges Land.« Das muß man sich gegenwärtig halten, will man verstehen, daß Péguy seinen Appell nicht, wie es heute gang und gäbe ist, an die Jugend ergehen ließ, sondern an die Vierzigjährigen. Die revolutionäre Aufgabe, die er ihnen stellte, lag nicht in der Defensive, deren Geist Alain vorzüglich festlegt, wenn er sagt: »Die Haltung der Linken ist die einer kontrollierenden Instanz«; vielmehr verwies er die Seinigen auf den Angriff, dessen Stoß sich nicht allein auf die Regierenden, sondern auf jenen Stab von Akademikern und Intellektuellen richtet, die das Volk, aus dem sie stammen, verraten haben. »Ich werde, schreibt er, die große Partei der Vierzigjährigen gründen. Vor kurzem hat mich jemand rücksichtslos zu dieser Kategorie gerechnet, er hat mich temperamentvoll in die Klasse der Vierzigjährigen geworfen. Ich benutze das für mich. Ein alter Politiker benutzt ja alles. Ich gründe die Partei der Vierzigjährigen.« Das war im Jahre 1914. Die aber, die Péguy so aufrief, waren im Jahre 1894 zwanzig gewesen; und das war das Jahr, in welchem Dreyfus vor der Front verurteilt und degradiert worden war. Der Kampf um Dreyfus war für Péguys Altersgenossen das, was für Jüngere der Weltkrieg geworden ist. Péguy jedoch suchte in dieser Sache – darin kündigt sich bereits an, was ihn und seine Freunde dann um die Frucht ihres Sieges betrügen sollte – zwei Anliegen zu unterscheiden. Er spricht von »zwei Dreyfusaffairen, deren eine die gute ist, deren andere die schlechte. Die eine ist die reine und die andere die verworfene. Die eine ist religiös, die andere politisch.« Und Péguy verwarf entschieden den politischen Kampf um Dreyfus; den Mitstreitern zur Linken trat er in den Weg, bezichtigte sie »Combescher Demagogie« und wechselte das Lager im Augenblick, als sich die Sieger gegen die religiösen Orden wendeten. Vorm Forum der Geschichte hat darum nicht Péguy, sondern Zola das Zeugnis der Intellektuellen im Dreyfusprozeß abgegeben.
[Zola]
Nicht nur an dieser Stelle gibt noch heute Zola den Maßstab ab, an welchem das Erreichte zu bewerten ist. Ganz besonders gilt dies für einen großen Teil der Belletristik. Bekanntlich ist es nicht eine unmittelbar politische Theorie, auf die das Werk Zolas sich gründet. Doch ist es eine Theorie im vollen Sinn des Worts, insofern der Naturalismus nicht nur den Gegenstand der Zolaschen Romane und ihre Form, sondern auch einige der Grundgedanken – wie den, die Erbmasse und die gesellschaftliche Entwicklung einer einzelnen Familie darzustellen – bestimmt hat. Demgegenüber ist kennzeichnend für den sozialen Roman, dem heute nicht wenige linksgerichtete Autoren ihre Sympathien gewidmet haben, der Mangel jedes theoretischen Fundaments. Die Figuren des sogenannten roman populiste sind, wie ein wohlwollender Kritiker bemerkt hat, vor lauter Unpersönlichkeit und Schlichtheit denen der verflossenen volkstümlichen Feenstücke gleich geworden, und ihre Ausdrucksfähigkeit ist so bescheiden, daß sie das Gestammel dieser vergessenen marionettenähnlichen Gebilde zurückrufen. Es ist die alte und fatale Konfusion – zuerst taucht sie vielleicht bei Rousseau auf –, wonach das Innenleben der Enterbten und Geknechteten durch eine ganz besondere Simplizität sich auszeichnet, der man gern einen Einschlag ins Erbauliche verleiht. Von selbst versteht es sich, daß der Ertrag derartiger Bücher sehr dürftig bleibt. Der roman populiste ist in der Tat viel weniger ein Vorstoß der proletarischen als ein Rückzug der bürgerlichen Belletristik. Im übrigen entspricht das seinem Ursprung. Die Mode – wenn schon nicht der Gattungsname – geht auf Thérive, den heutigen Kritiker des »Temps« zurück. So groß aber der Eifer ist, mit dem er sich für die neue Richtung eingesetzt hat, so ist es doch an ihren Produkten – nicht zuletzt an seinen eigenen – spürbar, daß es sich hier um eine neue Form der alten philanthropischen Impulse handelt. Die einzige Chance für die Gattung liegt denn auch in jenen Gegenständen, die den Mangel an Einsicht und an Schulung auf der Seite des Autors halb und halb verdecken können. Es ist kein Zufall, daß der erste große Erfolg des Genres – Célines »Voyage au bout de la nuit«1 – es mit dem Lumpenproletariat zu tun hat. Sowenig wie der Lumpenproletarier Bewußtsein von einer Klasse hat, die ihm eine menschenwürdige Existenz erkämpfen könnte, sowenig macht der Autor, der ihn schildert, diesen Mangel des Modells erkennbar. Zweideutig ist daher von Grund auf die Monotonie, in welche das Geschehen bei Céline gehüllt ist. So gut es ihm gelingt, die Traurigkeit und Ode eines Daseins, für das Unterschiede zwischen Werktag und Feiertag, Geschlechtsakt und Liebeserlebnis, Krieg und Frieden, Stadt und Land ausgelöscht sind, sinnfällig zu machen, so wenig hat er die Gabe, jene Kräfte aufzuweisen, deren Abdruck das Leben seiner Ausgestoßenen ist; noch weniger gelingt es ihm, zu zeigen, wo deren Reaktion beginnen könnte. Darum ist nichts verräterischer als das Urteil, mit dem Dabit – selbst ein geschätzter Vertreter dieses Genres – Célines Buch begrüßt:
»Hier haben wir es mit einem Werk zu tun, in welchem die Revolte nicht aus ästhetischen oder symbolischen Diskussionen hervorgeht, in dem es sich nicht mehr um Kunst, Kultur oder Gott, sondern um einen Schrei der Empörung gegen die Lebensbedingungen handelt, denen Menschen eine Mehrheit von anderen unterwerfen können.«
Bardamu – so heißt der Held des Romans – »ist aus dein Stoff gemacht, aus dem die Massen sind. Aus ihrer Feigheit, ihrem panischen Entsetzen, ihren Wünschen, ihren Gewalttätigkeiten.« Und soweit gut. Wenn eben nicht das Eigenste der revolutionären Schulung und Erfahrung darin bestünde, die Klassenschichtungen in Massen zu erkennen und sie zu verwerten.
Wenn Zola das Frankreich der sechziger Jahre hat darstellen können, so darum weil er das Frankreich dieser sechziger Jahre ablehnte. Er lehnte die Planungen Haussmanns und das Palais der Paiva und die Beredsamkeit von Rouher ab. Und wenn es den heutigen französischen Romanciers nicht glückt, das Frankreich unserer Tage darzustellen, so darum, weil sie schließlich alles an ihm in Kauf zu nehmen gesonnen sind.
»Man stelle sich, sagt Berl, einen Leser des Jahres 2200 vor, der sich bestrebe, nach unseren besten Romanen sich das Frankreich unserer Tage vorzustellen. Nicht einmal auf die Wohnungsnot würde er kommen. Die finanziellen Krisen dieser Jahre wären für ihn beinahe nicht wahrnehmbar. Auch weiterhin gedenken ja die Literaten mit Geld fragen sich nicht zu befassen.«
Der Konformismus verbirgt vor ihrem Blick die Welt, in der sie leben. Und er ist ein Produkt der Furcht. Sie wissen: die Funktion der Intelligenz für die Bourgeoisie ist nicht mehr, ihre menschlichsten Interessen auf lange Sicht zu vertreten. Zum zweitenmal im Zeitalter des Bürgertums wird die Funktion seiner Intelligenz die militante. Fand aber von 1789 bis 1848 die Intelligenz einen führenden Platz in der bürgerlichen Offensive, so ist Kennzeichen ihrer gegenwärtigen Situation die defensive Haltung. Je undankbarer diese Haltung in vielen Fällen ist, desto entschiedener ergeht an den Intellektuellen die Forderung klassenmäßiger Zuverlässigkeit.
Auf diese letztere stellt nun der Roman eine so vorzügliche Probe dar, daß die verschiedenen Attituden, in denen sich darin der Autor der Gesellschaft anschmiegt, in das Chaos der Produktion etwas wie einen ordnenden Gesichtspunkt bringen. Das heißt natürlich nicht, daß diese Produktion im tendenziösen Sinne mit dem Bürgertum gehen will. Im Gegenteil; für eine breite Schicht ist eine scheinbar spröde Haltung gegen dieses viel näherliegend. Die Position eines humanistischen Anarchismus, den man ein halbes Jahrhundert lang zu halten glaubte – und in gewissem Sinne wirklich hielt –, ist unrettbar verloren. Daher bildete sich die Fata morgana eines neuen Emanzipiertseins, einer Freiheit zwischen den Klassen, will sagen, der des Lumpenproletariats. Der Intellektuelle nimmt die Mimikry der proletarischen Existenz an, ohne darum im mindesten der Arbeiterklasse verbunden zu sein. Damit sucht er den illusorischen Zweck zu erreichen, über den Klassen zu stehen. Während ein Francis Carco der gefühlsselige Schilderer, etwa der Richardson dieser neuen Freiheit wurde, ist ein Mac Orlan ihr ironischer Moralist, sozusagen ihr Sterne.
[Julien Green]
Es gibt aber entlegenere Verstecke des Konformismus. Und da sich auch der größte Dichter wahrhaft keineswegs erfassen läßt ohne Bestimmung der Funktionen, die sein Werk in der Gesellschaft hat, da andererseits gerade die Höchstbegabten einen Hang verspüren mögen, dem Bewußtsein dieser Funktion sich zu entziehen, und müßten sie bis in die Hölle flüchten, – so ist hier der Ort, von Julien Green zu reden. Green, unter den jüngeren Romanciers von Frankreich ohne Zweifel einer der bedeutendsten, ist wirklich in die Hölle hinabgestiegen. Seine Werke sind Nachtgemälde der Leidenschaften. In jedem Sinne sprengen sie den Kreis des. psychologischen Romans. Die Ahnenreihe dieses Dichters führt auf die großen katholischen und schließlich selbst die heidnischen Gestalter und Ausleger der passio zurück: auf Calderon, zuletzt auf Seneca. So tief jedoch der Dichter seine Geschöpfe in der Provinz vergräbt, so unterirdisch auch die Kräfte sind, die sie bewegen, – nicht immer ist es ihm gelungen, gegen unsere Umwelt diese derart abzudichten, daß von ihnen nicht auch ein Wort, das sie betrifft, erwartet werden müßte. Hier setzt nun jenes Schweigen ein, das der Ausdruck des Konformismus ist. Es sei erlaubt, der Spur dieses Verhaltens in seinem letzten Werke nachzugehen, und wäre es auch nur, weil dessen Vorwurf eine der größten Konzeptionen des Dichters darstellt.
Der Held des Werks »Épaves« befindet sich zu Anfang des Geschehens auf einem einsamen abendlichen Spaziergang längs der Seinekais der Hauptstadt. An einer entlegenen Stelle in Passy wird er zum unfreiwilligen Zeugen eines Handgemenges, in welches eine alte Frau mit einem angetrunkenen Manne unten am Ufer geraten ist. Es ist eine ganz gewöhnliche Familienszene, »doch der Mann hatte getrunken, und offenbar fürchtete die Frau, von ihm in die Seine geworfen zu werden«. Und weiter: »Der Mann hielt sie am Arm und schüttelte sie hin und her, während er sie mit Beschimpfungen überhäufte. Aber sie läßt Philipp – so heißt der Held – nicht aus den Augen und ruft zu ihm hinauf: Mein Herr! Ihre Stimme war rauh und dabei so leise, daß er vor Schreck erstarrte. Er blieb ohne Bewegung.« Und dann tritt er zurück. Er tritt den Heimweg an. »Er kam fast zur selben Zeit wie sonst nach Hause.« – Das ist alles. Greens Buch entwickelt nun, wie dies Ereignis in dem Mann zu arbeiten beginnt. Es führt ihn, wie der Dichter meint, zur Selbsterkenntnis, es nötigt ihn, seiner Feigheit ins Auge zu sehen, es zersetzt sein ganzes Leben, über das die Seine mehr und mehr eine geheimnisvolle Gewalt gewinnt. Er geht aber nicht ins Wasser. – Dieser Roman bietet – gerade weil ein Dichter wie Green ihn schrieb – ein unbarmherziges Beispiel dafür, wie der Konformismus eine große Konzeption vernichtet. Niemand wird leugnen wollen, daß der Fall, den Green zu Anfang seines Buches darstellt, in unsern großen Städten typisch ist. Niemand kann eben daher bestreiten, daß das, was er enthält und lehrt, kein Beitrag zum psychologischen Charakter dessen sein kann, der da den Ruf so ungehört verhallen läßt. Wohl aber ein Beitrag zu seinem sozialen Charakter. Denn jener unfreiwillige Zeuge, der sich abwendet, ist Bürger. Ein Streit unter zwei Bürgern nähme schwerlich auf offner Straße diese Formen an. Was also Greens Helden lahm setzt, ist der Abgrund, der sich hier vor dem Bürger auftut, jenseits dessen zwei Angehörige der ausgestoßenen Klasse ihren Streit austragen. Es ist kaum Sache der Kritik, Mutmaßungen darüber anzustellen, wie der Dichter diesen verborgenen Sinn der Szene, der ihr eigentlicher ist, zu gestalten gehabt hätte. Der krasse Umstand, der hier kurzerhand dem Bürger die Augen über den Abgrund öffnet, der sein Klassendasein rings umgibt, – der gleiche krasse Umstand könnte ihn sehr wohl dem Wahnsinn ausliefern, welcher die Preisgegebenheit und Einsamkeit der eigenen Klasse zu der seiner privaten Existenz werden ließe. Die Ungewißheit über das Geschick der Frau, die ihn um Hilfe angerufen hat und von der er nichts mehr erfährt, scheint schon bei Green den Keim zu diesem in sich zu enthalten.
Rückständig ist Greens Fragestellung; rückständig der Standpunkt der meisten Romanciers im Technischen.
»Die Mehrzahl der Verfasser setzt einen unerschütterlichen Glauben, der seit Freud als unstatthaft zu gelten hat, in die Bekenntnisse seiner Gestalten oder tut doch so. Sie will es nicht verstehen, daß ein Bericht, den jemand von seiner eigenen Vergangenheit erstattet, mehr verrät über den gegenwärtigen Zustand als von dem vergangenen, von dem er berichtet. Sie bleiben auch dabei, das Leben einer Romanfigur sich als vereinzelten Ablauf zu denken, der im voraus in einer leeren Zeit fixiert ist. Sie trägt weder den Lehren des Behaviorismus Rechnung noch selbst denen der Psychoanalyse.«
Soweit Berl. Es ist, mit einem Wort, bezeichnend für die heutige Situation der französischen Belletristik, daß eine Trennung zwischen den führenden Intelligenzen und den Romanciers sich zu vollziehen beginnt. Die Ausnahmen – vor allem Proust und Gide – bestätigen die Regel. Denn beide haben die Technik des Romans mehr oder weniger eingreifend verändert. Doch weder Alain noch Péguy, weder Valéry noch Aragon sind mit Romanen hervorgetreten; und die, welche wir von Barrès oder Benda haben, sind Thesenschriften. Für die Masse der Schreibenden jedoch gilt diese Regel: Je mittelmäßiger ein Autor, desto größer sein Verlangen, als »Dichter« von Romanen seiner wahren Verantwortung als Schriftsteller sich zu entziehen.
[Marcel Proust]
Es ist darum durchaus nicht ungereimt, die Frage aufzuwerfen, was denn der Roman des letzten Jahrzehnts für die Freiheit geleistet hat. Auf diese Frage läßt sich schwerlich anders erwidern als mit einem Hinweis auf die Verteidigung der Inversion, die Proust als erster in seinem Werk unternommen hat. So sehr jedoch ein solcher Hinweis der dürftigen revolutionären Leistung der Belletristik gerecht würde, so wenig würde er den Sinn von dem erschöpfen, was in der »Recherche du temps perdu« die Inversion bedeutet. Vielmehr erscheint die Inversion bei Proust, weil aus der Welt, mit der er es zu tun hat, die entfernteste sowohl wie die primitivste Erinnerung an die Produktivkräfte der Natur verbannt werden sollte. Die Welt, welche Proust schildert, schließt alles von sich aus, was Anteil an der Produktion hat. Die Haltung des Snob, die in ihr tonangebend ist, ist ja nichts anderes als die konsequente, organisierte und gestählte Betrachtung des Daseins vom Standpunkt des reinen Konsumenten. In seinem Werk liegt eine gnadenlose, eindringende Kritik der heutigen Gesellschaft verborgen, und sie aufzuweisen ist bisher noch kaum das Fundament gelegt worden. Nichtsdestoweniger ist so viel deutlich: vom Aufbau angefangen, welcher Dichtung, Memoirenwerk, Kommentar in einem darstellt, bis zu der Syntax uferloser Sätze (dem Nil der Sprache, welcher hier befruchtend in die Breiten der Wahrheit hinübertritt) ist überall der Schriftsteller präsent, der Stellung nehmend, Rechenschaft erteilend sich dauernd zur Verfügung des Lesers hält. In keinem Falle kann ein Autor, der nicht zuvörderst sich als Schriftsteller bekennt, Anspruch auf öffentliche Wirkung machen. Frankreich ist darin glücklich, daß die höchst verdächtige Konfrontation von Dichtung und Schriftstellerei dort niemals wirklich Kurs gewinnen konnte. Heute ist mehr denn je die Vorstellung entscheidend, die sich der Schriftsteller von seiner Arbeit macht. Und um so viel entscheidender, wenn es ein Dichter ist, der diesen Begriff zu seinem Recht zu bringen sucht.
[Paul Valéry]
Wir sprechen von Paul Valéry. Symptomatisch ist seine Bedeutung für die Funktion des Schriftstellers in der Gesellschaft. Und diese symptomatische Bedeutung hängt auf das engste mit den fraglosen Qualitäten seiner Produktion zusammen. Unter den Schriftstellern des heutigen Frankreich ist Valéry der größte Techniker des Fachs. Er hat die Technik der Schriftstellerei durchdacht wie kein anderer. Und man würde die Sonderstellung, die er einnimmt, vielleicht hinreichend schon mit der Behauptung treffen, daß Schriftstellerei für ihn in erster Linie eine Technik ist.
Es ist nun wichtig, daß Schriftstellerei in seinem Sinne die Dichtung einschließt. Mit gleicher Entschiedenheit ist er als Essayist wie als Lyriker hervorgetreten, und in beiden Fällen nicht, ohne immer wieder Rechenschaft von seiner Technik zu geben. Valéry geht der Intelligenz des Schreibenden, zumal des Dichters, inquisitorisch nach, verlangt den Bruch mit der weitverbreiteten Auffassung, daß sie beim Schreibenden sich von selbst verstehe, geschweige mit der noch viel weiter verbreiteten, daß sie beim Dichter nichts zu sagen habe. Er selbst hat eine, und von einer Art, die sich durchaus nicht von selbst versteht. Nichts kann befremdender sein als ihre Verkörperung, Herr Teste. Herr Teste ist seinem äußeren Auftreten nach ein Spießer, seinen Lebensbedingungen nach ein Rentier. Er sitzt zu Hause; er kommt wenig unter die Leute, betreut wird er von seiner Frau. Monsieur Teste – zu deutsch: Herr Kopf – ist eine Personifikation des Intellekts, die sehr an den Gott erinnert, von dem die negative Theologie des Nicolaus Cusanus handelt. Auf Negation läuft alles, was man von Teste erfahren kann, hinaus. »Jede Erregung, erklärt er, jedes Gefühl ist Anzeichen eines Fehlers in der Konstruktion und der Anpassung.« Mag Herr Teste sich von Hause aus Mensch fühlen – er hat sich Valérys Weisheit zu Herzen genommen, die wichtigsten Gedanken seien die, die unserem Gefühl widersprechen. Er ist denn auch die Negation des »Menschlichen«: »Sieh, die Dämmerung des Ungefähr bricht herein, und vor der Tür steht die Herrschaft des Entmenschten, welche hervorgehen wird aus der Genauigkeit, der Strenge und der Reinheit in den Angelegenheiten der Menschen.« Nichts Ausladendes, Pathetisches, nichts »Menschliches« geht in den Umkreis dieses Valéryschen Sonderlings ein, nach dessen Bild der reine Schriftsteller geformt sein soll. Der Gedanke soll ihm die einzige Substanz darstellen, aus welcher das Vollkommene sich bilden läßt. »Ein klassischer Schriftsteller, definiert Valéry, ist ein Schriftsteller, der seine Ideenassoziationen verbirgt oder absorbiert.«
Im bürgerlich französischen Maßstab aber stellt Monsieur Teste nichts anderes dar als die Erfahrung, die Valéry in einigen großen Künstlern, wo sie im Menschheitsmaßstab auftaucht, nachzuzeichnen suchte. In diesem Sinn beschäftigt schon eins seiner frühesten Werke sich mit einer »Einleitung in die Methode Leonardo da Vincis«. Dieser erscheint darinnen als der Künstler, der an keiner Stelle seines Werks darauf verzichtet, sich den genauesten Begriff von seiner Arbeit und Verfahrensweise zu machen. Valéry hat von sich bekannt, daß eine mittelmäßige Seite, auf welcher er von jedem Wort aus seiner Feder sich Rechenschaft zu geben wüßte, ihm lieber sei als ein vollkommenes Werk, das er den Mächten des Zufalls und der Inspiration danke. Sowie an anderer Stelle:
»Nichts anderes als unsere geistigen Ausfallserscheinungen sind der Bereich der Mächte des Zufalls, der Götter und des Schicksals. Besäßen wir auf alles eine Antwort – wir sagen eine exakte Antwort –, so würden diese Mächte nicht existieren ... Wir fühlen das auch genau, und dies ist der Grund, warum wir uns am Ende gegen unsere eigenen Fragen wenden. Das müßte aber den Anfang darstellen. Man muß im Innern bei sich selber eine Frage formen, die allen anderen vorhergeht und ihrer jeder abfragt, was sie taugt.«
Die strikte Rückbeziehung solcher Gedanken auf die heroische Periode des europäischen Bürgertums gestattet es, der Überraschung Herr zu werden, mit der wir hier auf einem vorgeschobensten Punkte des alten europäischen Humanismus noch einmal der Idee des Fortschritts begegnen. Und zwar ist es die stichhaltige und echte: die des Übertragbaren in den Methoden, welche dem Begriff der Konstruktion bei Valéry so handgreiflich korrespondiert, wie sie der Zwangsvorstellung der Inspiration zuwiderläuft. »Das Kunstwerk, hat einer seiner Interpreten gesagt, ist keine Schöpfung, es ist eine Konstruktion, in der die Analyse, die Berechnung, die Planung die Hauptrolle spielt.« Die letzte Tugend des methodischen Prozesses, den Forschenden über sich hinauszuführen, hat sich dabei an Valéry bewährt. Denn wer ist Monsieur Teste, wenn nicht das menschliche Subjekt, das schon bereit ist, die geschichtliche Schwelle zu überschreiten, jenseits von welcher das harmonisch durchgebildete, sich selbst genugtuende Individuum im Begriffe ist, sich in den Techniker und Spezialisten zu verwandeln, das bereit ist, an seinem Platze einer großen Planung sich einzufügen? Diesen Gedanken einer Planung aus dem Bereich des Kunstwerks in den der menschlichen Gemeinschaft überzuführen, ist Valéry nicht gelungen. Die Schwelle ist nicht überschritten; der Intellekt bleibt ein privater, und das ist das melancholische Geheimnis des Herrn Teste. Zwei, drei Jahrzehnte vorher hat Lautréamont gesagt: »Die Poesie soll von allen gemacht werden. Nicht von einem.« Diese Worte sind zu Herrn Teste nicht gedrungen.
[André Gide]
Die Schwelle, die für Valéry nicht überschreitbar ist, hat Gide vor kurzem überschritten. Er hat sich dem Kommunismus angeschlossen. Für die Entwicklung der Probleme in der vorgeschrittensten Intelligenz Frankreichs, von der wir hier ein Bild zu geben suchen, ist das bezeichnend. Gide hat, so kann man sagen, keine ihrer Etappen in den letzten vierzig Jahren übergangen. Die erste hätte man etwa in der Kritik an Barèes' »Déracinés« zu erblicken. Sie enthielt mehr als eine scharfe Ablehnung dieses Lobgesanges auf die Bodenständigkeit. Sie enthielt eine Umdeutung. Von den vier Hauptpersonen des Romans, an denen Barrès die Thesen seines Nationalismus exemplifiziert, kann Gide Interesse nur derjenigen entgegenbringen, die gesellschaftlich am tiefsten gesunken und zum Mörder geworden ist. »Wenn Racadot Lothringen nie verlassen hätte, sagt er, so wäre er nicht zum Mörder geworden; in dem Fall aber würde er mich überhaupt nicht interessieren.« »Entwurzelt« zu sein, zwingt Racadot zur Originalität; das ist nach Gides Überzeugung der eigentliche Gegenstand des Buches. Im Zeichen der Originalität war es zunächst, daß Gide den ganzen Umkreis der Möglichkeiten auszuschöpfen suchte, die durch Anlage und Entwicklung in ihm lagen; und je befremdender sich diese Möglichkeiten erwiesen, desto rücksichts&hy;loser war er bemüht, in seinem Leben – und zwar vor aller Augen – ihnen Platz zu schaffen. Selbstwidersprüche sind in dieser Haltung das Letzte gewesen, was ihn hätte beirren können. »Ich ging in jeder Richtung, sagt er, die ich einmal einschlug, bis zum äußersten, um sodann mit derselben Entschiedenheit der entgegengesetzten mich zuwenden zu können.« Dies grundsätzliche Verneinen jeder goldenen Mitte, dies Bekenntnis zu den Extremen ist Dialektik, nicht als Methode eines Intellekts, sondern als Lebensatem und Passion. Die Welt ist auch in den Extremen noch ganz, noch gesund, noch Natur. Und was ihn diesen Extremen zutreibt, das ist nicht Neugier oder apologetischer Eifer, sondern dialektische Leidenschaft.
Gides Natur sei nicht reich, hat man gesagt. Diese Bemerkung trifft nicht allein zu; sie ist entscheidend. Auch verrät Gides eigene Haltung einiges Bewußtsein von diesem Umstand.
»Im Ursprung jeder großen sittlichen Reform, sagt er in seinem "Dostojewski", begegnet uns immer ein kleines physiologisches Geheimnis, ein Ungenügen des Fleischs, eine Unruhe, eine Anomalie ... Das Unbehagen, unter dem der Reformator leidet, ist das eines Mangels an innerem Gleichgewicht. Die moralischen Gegebenheiten, Positionen, Werte liegen für ihn in innerem Widerspruch, und er bemüht sich, sie zur Deckung zu bringen; was er verlangt, das ist ein neu es Gleichgewicht; sein Werk ist nichts als ein Versuch, der Logik und der Vernunft nach die Verwirrung, die er in seinem Innern fühlt, durch eine Neuordnung zu ersetzen.« »Eine Handlung, in welcher ich nicht alle Widersprüche, die in mir wohnen, wiedererkenne, erklärte er an anderer Stelle, verrät mich.«
Unzählige Male hat man die Haltung, die aus diesen und verwandten Sätzen spricht, verdächtigt. Der Kritiker Massis nennt Gide dämonisch. Doch aufschlußreicher dürfte sein, daß Gide nie jene andere Dämonie, die man dem Künstler gerade von bürgerlicher Seite so gern zubilligt, beansprucht hat: die Freiheit des Genies. Wie Valéry seine gesamte Produktion durchaus in seinem intellektuellen Leben integriert, so Gide die seinige in dem moralischen. Dem dankt er seine pädagogische Bedeutung. Seit Barrès ist er der größte Führer, welchen die Intelligenz in Frankreich gefunden hat.
»Es ist vielleicht nicht richtig, schreibt Malraux, André Gide als einen Philosophen anzusehen. Ich glaube, er ist etwas ganz anderes: ein Gewissensberater. Das ist ein höchst bedeutender und seltsamer Beruf ... Maurice Barrès hat sich ihm lange gewidmet; Gide auch. Es ist bestimmt nichts Geringes, derjenige zu sein, der die Geisteshaltung einer Epoche bestimmt. Während aber Barrès nur Ratschläge geben konnte, hat Gide auf jenen Zwiespalt zwischen unseren Wünschen und unserer Würde, unseren Strebungen und unserem Willen, ihrer Herr zu werden oder sie zu verwerten, uns hingewiesen ... Der Hälfte derer, die man ›die Jugend‹ nennt, hat er ihr intellektuelles Gewissen geweckt.«
Die Wirkung, von der hier die Rede ist, läßt sich aufs engste mit einer ganz bestimmten Figur verbinden, welche in dem Romane »Les Caves du Vatican« auftritt. Das Werk erschien am Vorabend des Krieges, als in der Jugend sich zum ersten Male Strömungen geltend machten, welche später über Expressionismus und Dadaismus in den Surrealismus gemündet sind. Gide hatte allen Anlaß, in das Brevier der »Pages choisies«, das er der Jugend Frankreichs zugedacht hat, die Seite der »Verliese des Vatikan« aufzunehmen, in der Lafcadios Entschließung zum Morde dargestellt wird. Gides jugendlicher Held befindet sich da auf der Eisenbahn und fühlt sich im Waggon belästigt durch die Häßlichkeit eines alten Herren, der neben ihm als einziger Fahrgast sitzt. Es kommt ihm der Gedanke, seiner sich zu entledigen.
»Wer sähe es, sagte er, ganz nahe, in Reichweite der Hand, ist dieser doppelte Riegel, den ich leicht bewegen kann: die Tür, die dann mit einem Mal sich öffnen würde, ließe ihn vornüber fallen; ein kleiner Stoß würde genügen; er würde in die Nacht hinausfallen wie eine Masse; nicht einmal einen Schrei würde man hören ... Es sind nicht so sehr die Begebenheiten, auf die ich neugierig bin; ich bin es auf mich selbst. Mancher glaubt sich zu allem fähig, und wenn er dann handeln soll, zuckt er zurück ... Wie weit ist doch der Weg zwischen dem Vorsatz und der Tat. Und ein Recht zurückzunehmen, was man tat, hat man genausowenig wie im Schach. Gleichviel, wenn man alle Gefahren wüßte, hätte das Spiel kein Interesse mehr.«
Und langsam, kaltblütig zählt Lafcadio bis zehn, um so dann seinen Reisegefährten hinauszustoßen, grundlos und nur aus Neugier seiner selbst. In den Surrealisten hat Lafcadio seine gelehrigsten Schüler gefunden. Begonnen haben sie wie er mit einer Reihe von »actions gratuites« – grundlosen oder beinah müßigen Skandalen. Die Entwicklung jedoch, die ihre Aktivität genommen hat, ist ganz geeignet, rückwärts auf die Gestalt Lafcadios Licht zu werfen. Denn immer mehr zeigten sie sich bestrebt, Auftritte, die zunächst vielleicht von ihnen nur spielerisch, aus Neugier ins Werk gesetzt worden waren, mit den Parolen der Internationale in Einklang zu bringen. Und könnte noch ein Zweifel an dem Sinn jenes extremen Individualismus bestehen, in dessen Zeichen Gides Werk begann, so hat er vor dessen letzten Bekenntnissen sein Recht verloren. Denn sie sprechen aus, auf welche Weise dieser ins Extrem gesteigerte Individualismus, indem er auf seine Umwelt die Probe machte, in den Kommunismus umschlagen mußte.
»Was am Geist der Demokratie alles in allem am greifbarsten erscheint, ist, daß er asozial ist.« Das hat nicht Gide geschrieben sondern Alain. Auf diesen Geist der Demokratie ist Gide erst spät gestoßen; er war auch erst spät vorbereitet, ihn zu agnoszieren. Die Darstellungen, die er nach verschiedenen Reisen ins Innere Afrikas von den Lebensbedingungen der Eingeborenen ten Unruhe in die politische Öffentlichkeit. Wenn er einige Jahre unter dem Regime der Kolonialgesellschaften gegeben hat, brachfrüher, als er sich zum Anwalt der Invertierten machte, Anstoß gab, so drohte er nun, da er sich zum Anwalt der Schwarzen machte, Aufruhr zu erregen. Für ihn wie für die, die ihm folgten, haben die politischen Faktoren schließlich den Anlaß zur bestimmten Stellungnahme gegeben. Besondere Bedeutung kommt dabei, gerade für den Nachwuchs, dem Marokkokriege zu.
[Surrealismus]
Es wären dem Surrealismus viele Anfeindungen, aus denen er im übrigen den denkbar größten Nutzen gezogen hat, erspart geblieben, wäre sein Ursprung in der Tat eindeutig ein politischer gewesen. Nichts war weniger der Fall. Der Surrealismus ist im engen Raum eines literarischen Zirkels im Umkreis von Apollinaire groß geworden. In wie unscheinbarer, abseitiger Substanz der dialektische Kern, der sich im Surrealismus entfaltet hat, ursprünglich eingebettet lag, hat, 1924, Aragon in seiner »Vague de rêves« gezeigt. Damals brach die Bewegung in Gestalt einer inspirierenden Traumwelle über ihre Stifter herein. Das Leben schien nur lebenswert, wo die Schwelle, die zwischen Wachen und Schlaf ist, in jedem ausgetreten war wie von Tritten massenhaft hin und wieder flutender Bilder; die Sprache nur sie selbst, wo Laut und Bild und Bild und Laut mit automatischer Exaktheit derart glücklich ineinandergriffen, daß für den »Sinn« kein Spalt mehr übrig blieb. »Die Kräfte des Rausches für die Revolution zu gewinnen« – das war das eigentliche Unternehmen. Die dialektische Entwicklung der Bewegung aber vollzog sich nun darin, daß jener Bildraum, welchen sie sich auf so gewagte Weise erschlossen hatte, sich mehr und mehr mit dem der politischen Praxis identisch erwies. In diesen Raum verlegten jedenfalls die Angehörigen der Gruppe die Heimat einer klassenlosen Gesellschaft. Mag sein, daß die Verheißung einer solchen Gesellschaft ihnen weniger aus dem didaktischen Materialismus eines Plechanow und Bucharin gesprochen hat als aus einem anthropologischen, wie ihre eigenen Erfahrungen und frühere Lautréamonts und Rimbauds ihn enthielten. Wie dem auch sei, – diese Gedankenwelt schrieb der Aktion und Produktion der Gruppe, welche damals von Breton und Aragon geleitet wurde, die Gesetze vor, bis die politische Entwicklung ihr gestattete, sich einfacher, konkreter zu formulieren.
Seit Kriegsende sind die linken Intellektuellen, die revolutionären Künstler tonangebend für einen großen Teil des Publikums gewesen. Es hat sich nun mit aller Deutlichkeit gezeigt, daß dieser öffentlichen Geltung keine tiefere gesellschaftliche Wirksamkeit entsprach. Woraus das eine zu ersehen ist: daß – wie Berl sagt – »ein Künstler, mag er die Kunst auch revolutioniert haben, deshalb nicht revolutionärer als Poiret ist, der seinerseits die Mode revolutioniert hat«. Die vorgeschobensten gewagtesten Produkte der Avantgarde in allen Künsten haben als Publikum – in Frankreich wie in Deutschland – nur die große Bourgeoisie gehabt. In diesem Faktum liegt – wenn schon gewiß nicht das Urteil über ihren Wert, so doch – ein Hinweis auf die politische Unsicherheit der Gruppen, die hinter diesen Manifestationen standen. Immer wieder wirkte entscheidend in die literarischen Strömungen des dritten Jahrzehnts der Anarchismus; die zunehmende Überwindung des Anarchismus kennzeichnet den Weg des Surrealismus von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Mitte der zwanziger Jahre liegt die entscheidende Wende. Im Jahre 1926 erschien von Blaise Cendrars »Moravagine«. Im Typus des revolutionären Terroristen, den man in diesen Blättern bezeichnet findet, konnten die linken Intellektuellen das Spiegelbild des einstigen, nun bald überwundenen Ideals erblicken.
»Welchem Antrieb gehorchten wir, wenn wir das Attentat auf den Zaren ins Werk setzten und welches war unser Geisteszustand? Ich habe mich das oft gefragt, wenn ich meine Kameraden beobachtete ... Alles in ihnen war verwelkt, war tot. Die Gefühle fielen wie Schuppen nieder, wurden Abfall; die spröden brüchig gewordenen Sinne konnten nichts mehr genießen und zerfielen beim geringsten Versuche, es zu tun, in Staub. Im Innern war jeder von uns angesengt wie von einer Feuersbrunst, und unser Herz war nur noch ein Haufen Asche. Unsere Seele war verwüstet. Seit langem glaubten wir nichts mehr, nicht einmal mehr an das Nichts. Die Nihilisten von 1880 waren eine Sekte von Mystikern, von Träumern, Agenten einer allgemeinen Glückseligkeit. Wir aber waren Antipoden dieser lustigen Gesellen und ihrer undurchsichtigen Theorien. Wir waren Männer der Tat, Techniker, Spezialisten, Pioniere einer neuen Generation, die sich dem Tod verschrieben hatte, Ankündiger der Weltrevolution ... Engel oder Dämonen? Nein, um es mit einem Wort zu sagen: Automaten ... Nicht im Schatten eines Schutzengels oder in den Falten seines Gewandes hausten wir, vielmehr so wie zu Füßen unseres eigenen Doppelgängers, der sich allmählich von um löste, um Gestalt zu finden und sich zu verkörpern. Seltsame Projektionen unserer selbst, nahmen uns diese neuen Wesen derart in sich auf, daß wir unmerkbar in ihre Haut gerieten und mit ihnen ganz identisch wurden; und unsere letzten Vorbereitungen glichen sehr der abschließenden Herstellung jener schrecklichen, jener hochmütigen Automaten, die in der Magie als Teraphim bekannt sind. Wie sie so gingen wir daran, eine Stadt zu zerstören, ein Land zu verwüsten und zwischen unseren furchtbaren Kinnbacken die kaiserliche Familie zu zermalmen.«
[Malraux]
Der Bürgerkrieg in Rußland gehört der Geschichte an. Inzwischen sind an anderen Stellen Bürgerkriege ausgebrochen. Und es entspricht nicht nur dem frühen Stadium politischer Schulung, in dem die literarische Intelligenz des Westens sich befindet, sondern der Situation von Westeuropa, daß die Stimmungen und Fragen des Bürgerkriegs ihr näher liegen als die gewichtigen Tatsachen des gesellschaftlichen Aufbaus in Sowjet-Rußland. Das Werk Malraux' ist dafür kennzeichnend. Schauplatz des letzten Buches – wie auch seines früheren Romanes »Les Conquerants« – ist das China der Bürgerkriege. Malraux greift in der »Condition humaine« weder dem Historiker noch auch nur dem Chronisten vor. Die Episode des revolutionären Aufstandes in Schanghai, den Tschang-Kai-Chek erfolgreich liquidiert, ist weder ökonomisch noch politisch transparent. Sie dient als Folie, von der sich eine Gruppe Menschen abhebt, die handelnd an den Ereignissen Anteil haben. So unterschiedlich dieser Anteil ist, so grundverschieden diese Menschen nach Natur und Herkunft sind, so gegensätzlich ihr Verhältnis zu der Herrscherklasse ist – gemeinsam haben sie: ihr zu entstammen. Sie arbeiten für diese Klasse oder gegen sie; sie haben diese Klasse hinter sich gelassen oder sind von ihr ausgestoßen worden; sie repräsentieren oder durchschauen sie – jedem von ihnen sitzt sie in den Knochen. Auch den Revolutionären von Beruf, welche im Vordergrund des Buches stehen.
Malraux spricht das nicht aus. Weiß er es? Er beweist es jedenfalls. Denn nur aus dieser geheimen Homogeneität seiner Figuren speist sich das Werk, das mit der dialektischen Spannung geladen ist, aus der das revolutionäre Handeln der Intelligenz hervorgeht. Daß diese Intelligenz ihre Klasse verlassen hat, um die Sache der proletarischen zu ihrer eigenen zu machen, das will nicht heißen, diese letztere habe sie in sich aufgenommen. Sie hat das nicht. Daher die Dialektik, in der die Helden Malraux' sich bewegen. Sie leben für das Proletariat; sie handeln aber nicht als Proletarier. Zumindest handeln sie viel weniger aus dem Bewußtsein einer Klasse als aus dem Bewußtsein ihrer Einsamkeit. Das ist die Qual, der keiner dieser Menschen sich entwindet. Sie macht auch ihre Würde. »Es gibt keine Würde, die nicht im Leiden fußt.« Leiden vereinsamt, und es nährt sich an der Einsamkeit, die es erzeugt. Ihr zu entgehen ist das fanatische Bestreben derer, die in diesem Buche das Wort führen. Das Pathos dieses Buches hängt inniger, als man wohl meint, an seinem Nihilismus.
Welchem Bedürfnis des Menschen die revolutionäre Aktion entspricht? – diese Frage läßt sich erheben einzig aus der ganz besonderen Situation des Intellektuellen. Seiner Einsamkeit allerdings entspricht sie. Indem er aber diese, mit Malraux, zum Wesen der »Condition humaine«, des »Menschenstandes« erhebt, verbaut er sich den Blick auf die ganz anderen, im höchsten Grad des Studiums würdigen Bedingungen, aus denen die revolutionäre Massenaktion hervorgeht. Die Masse hat andere Bedürfnisse, und andere Reaktionen entsprechen ihr, die primitiv nur primitiven Psychologen zu scheinen pflegen. An den Aktionen der Proletariermassen, deren geschichtliche Versuchsanordnung die Revolutionen sind, hat Malraux' Analyse ihre Grenze. Aber – so mag man einwenden – auch seine Fabel. Gewiß. Nur ist es zweifelhaft, wieweit in diesem Stoff gebiet dem Autor die Konstruktion der Fabel freisteht. Darf er sich wirklich bescheiden, dem Historiker nicht vorzugreifen? Gibt es ein wirklich revolutionäres Schrifttum ohne didaktischen Charakter?
Die Klärung dieser Fragen, die die Krisis der Belletristik erst in volles Licht rückt, blieb dem Surrealismus vorbehalten. Die Bedingungen für die Lösung dieser Aufgabe – so wenige sie auch bisher erreichten – waren herangereift. Sie lagen im Entstehen des neuen Nationalismus, der die wahren Züge im Bilde, das Barrès vom »Geistigen« gezeichnet hatte, in Erscheinung treten ließ. Sie lagen in der Krise des Parlamentarismus, die den Zugang der jungen Intellektuellen zu den cadres, deren Geist Alain vertritt, immer prekärer machte. Sie lagen ferner in dem Umstand, daß der Internationalismus als kulturelle Angelegenheit, wie Benda ihn versteht, im Begriff war, eine Reihe der schwersten Belastungsproben durchzumachen. Sie lagen in der Schnelligkeit, mit der das Bild Péguys in die Legende einging; in der Unmöglichkeit, in seinen Schriften Handhaben für die Situation zu finden, vor die die Intellektuellen heute gestellt sind. Sie lagen in der Einsicht, die allmählich für die Gewissenhaften zwingend wurde: daß sie zu lernen hatten, auf ein Publikum Verzicht zu leisten, dessen Bedürfnisse zu befriedigen sich mit ihrer besseren Einsicht nicht mehr vereinbaren ließ. Einen indirekten Hinweis auf diese Bedingungen aber bot ein bedeutender Dichter wie Valéry, der eine problematische Figur mir darum machte, weil er die Kraft nicht hatte, den Widerspruch sich klar zu machen, welcher zwischen seiner Technik und der Gesellschaft, der er sie zur Verfügung hält, besteht. Sie lagen endlich – jene Vorbedingungen – im Beispiel von André Gide.
Es ist bei alledem entscheidend, daß die Surrealisten auf einem Wege an die Lösung des Problems herangegangen sind, der ihnen erlaubte, jene Vorbedingungen erschöpfend auszunutzen. So haben sie die spielerische Tat Lafcadios vielfach nachgeahmt, bevor sie an ernstere gingen. So haben sie dem, was bei Valéry als »reine Dichtung« auftritt, Bestimmtheit durch gewisse Unternehmungen verliehen, in welchen sie die Dichtung als einen Schlüssel für Psychosen gehandhabt haben. So haben sie den Intellektuellen als Techniker an seinen Platz gestellt, indem sie über seine Technik dem Proletariat Verfügung zuerkannten, weil nur dieses auf ihren fortgeschrittensten Stand angewiesen ist. Mit einem Wort – und das ist ausschlaggebend – sie haben das, was sie erreichten, kompromißlos, auf Grund der ständigen Kontrolle ihres eigenen Standorts erreicht. Sie haben es als Intellektuelle erreicht – und das heißt auf dem weitesten Wege. Denn der Weg des Intellektuellen zur radikalen Kritik der gesellschaftlichen Ordnung ist der weiteste wie der des Proletariers der kürzeste. Darum der Kampf, den sie Barbusse und allen denen ansagten, die im Zeichen der »Gesinnung« bestrebt sind, diesen Weg abzukürzen. Darum gibt es für sie unter den Arme-Leute-Schilderern keinen Platz.
Der Kleinbürger, der sich entschlossen hat, mit seinen libertären und erotischen Aspirationen Ernst zu machen, hört auf, jenen idyllischen Anblick zu bieten, den Chardonne in ihm begrüßt. Je unerschrockener und entschiedener er jene Ansprüche zur Geltung bringt, desto gewisser trifft er – auf einem Wege, der zugleich der weiteste und der für ihn allein gangbare ist – die Politik. Im gleichen Augenblicke hört er auf, der Kleinbürger zu sein, welcher er war. »Die revolutionären Schriftsteller erscheinen, heißt es bei Aragon, falls sie von bürgerlicher Herkunft sind, wesentlich und entscheidend als Verräter an ihrer Ursprungsklasse.« Sie werden. zu militanten Politikern: als solche sind sie die einzigen, die jene dunkle Prophezeiung von Apollinaire, mit welcher wir begonnen haben, deuten können. Sie wissen aus Erfahrung, warum das Dichten – das einzige, dem sie diesen Namen noch zuerkennen – gefährlich ist.
- Soeben auch in deutscher Übersetzung (bei Julius Kittl, M.-Ostrau) erschienen.↩