Theater und Rundfunk
Zur gegenseitigen Kontrolle ihrer Erziehungsarbeit
»Theater und Rundfunk« – im Unbefangenen ist es vielleicht kein Gefühl der Harmonie, das die Betrachtung dieser bei den Institute wachruft. Zwar ist das Konkurrenzverhältnis hier nicht ganz so scharf wie zwischen Rundfunk und Konzertsaal. Dennoch weiß man von der immer weiter ausgreifenden Aktivität des Rundfunks auf der einen Seite, der immer zunehmenden Theaternot auf der anderen zuviel, um sich von vornherein von einer Gemeinschaftsarbeit zwischen beiden ein Bild machen zu können. Trotzdem besteht eine solche Gemeinschaftsarbeit. Und zwar schon seit geraumer Zeit. Sie konnte – soviel sei vorweg genommen – nur eine pädagogische sein. Mit ganz besonderem Nachdruck ist sie gerade vom Südwestdeutschen Rundfunk in die Wege geleitet worden. Ernst Schoen, sein künstlerischer Leiter, hat als einer der ersten den Arbeiten, die Bert Brecht mit seinen literarischen und musikalischen Mitarbeitern in den letzten Jahren zur Diskussion stellte, seine Aufmerksamkeit zugewendet. Es ist kein Zufall, daß diese Arbeiten – der »Lindberghflug«, »Das Badener Lehrstück«, »Der Jasager«, »Der Neinsager« u. a. – auf der einen Seite ganz unzweideutig pädagogisch abgestellt sind, auf der anderen aber in durchaus originaler Weise das Verbindungsglied zwischen Theater und Rundfunk darstellen. Das so gelegte Fundament hat sehr bald seine Tragfähigkeit erwiesen. Es konnten Hörfolgen verwandter Konstruktionen sowohl im Schulfunk verbreitet werden – so der »Ford« von Elisabeth Hauptmann – als auch Fragen des täglichen Lebens – Schul- und Erziehungsprobleme, die Technik des Erfolges, Eheschwierigkeiten – in kasuistischer Art nach Beispiel und Gegenbeispiel verhandelt werden. Zu solchen »Hörmodellen« – Verfasser Walter Benjamin und Wolf Zucker – gab ebenfalls der Frankfurter Sender (in Gemeinschaft mit dem Berliner) die Anregung. Eine so ausgebreitete Aktivität mag das Recht geben, die Grundlagen dieser konsequenten Arbeit etwas näher zu bezeichnen, zugleich auch ihre Sicherung gegen Mißverständnisse zu fördern.
Wer den Dingen derart genau er nachgeht, hat keine Möglichkeit, am Nächstliegenden, der Technik nämlich, vorbei zu sehen. Es empfiehlt sich, alle Empfindlichkeiten beiseite zu lassen und kurzerhand festzustellen: Der Rundfunk stellt im Verhältnis zum Theater nicht nur die neuere Technik, sondern zugleich die exponiertere dar. Er hat noch nicht wie das Theater eine klassische Epoche hinter sich; die Massen, die er ergreift, sind sehr viel größere; endlich und vor allem sind die materiellen Elemente, auf welchen seine Apparatur und die geistigen, auf welchen seine Darbietungen beruhen, im Interesse der Hörer aufs engste verbunden. Und was hat das Theater demgegenüber in die Waagschale zu werfen? Den Einsatz der lebendigen Mittel – sonst nichts. Vielleicht entwickelt sich die Lage des Theaters in der Krise von keiner Frage aus entschiedener als von der: Was hat der Einsatz der lebendigen Person in ihm zu sagen? Es heben sich hier nämlich zwei mögliche Auffassungen – die rückschrittliche und die fortschrittliche – mit aller Schärfe voneinander ab.
Die erste sieht sich in keiner Weise veranlaßt, von der Krise Notiz zu nehmen. Ihr ist und bleibt die Harmonie des Ganzen ungetrübt und der Mensch ihr Repräsentant. Sie sieht ihn auf der Höhe seiner Macht, als Herrn der Schöpfung, als Persönlichkeit. (Und wäre er der letzte Lohnarbeiter.) Sein Rahmen ist der heutige Kulturkreis, und er durchwaltet ihn im Namen des »Menschlichen«. Ob dieses stolze, seiner selbst gewisse, der eigenen Krise sowenig Rechnung tragende wie der der Welt – ob dieses großbürgerliche Theater (dessen gefeiertster Magnat freilich vor kurzem zurücktrat) nun Arme-Leute-Stücke nach der neueren Art oder Offenbachsche Libretti zugrunde legt – immer realisiert es sich als »Symbol«, als »Totalität«, als »Gesamtkunstwerk«.
Es ist das Theater der Bildung und der Zerstreuung, das wir damit gekennzeichnet haben. Beide, so gegensätzlich sie erscheinen, doch nur Komplementärerscheinungen im Umkreis einer saturierten Schicht, der alles, was ihre Hand berührt, zu Reizen wird. Aber umsonst, daß dies Theater mit komplizierten Maschinerien, Riesenaufgeboten von Statisten den Attraktionen der Millionen-Filme Konkurrenz zu machen sucht, umsonst, daß sein Repertoire nach allen Zeiten und Ländern ausgreift, während, mit sehr viel kleinerem Apparat, Funk und Kino dem altchinesischen Schauspiel wie den neuen surrealistischen Versuchen in ihren Studios eine Stelle schaffen: Die Konkurrenz mit dem, worüber Radio und Kino technisch gebieten, ist aussichtslos.
Nicht so die Auseinandersetzung mit ihnen. Sie ist es, die vor allem von der fortschrittlichen Bühne zu erwarten ist. Brecht, der als erster ihre Theorie entwickelt, nennt sie die epische. Dies »epische Theater« ist durchaus nüchtern und nicht zuletzt der Technik gegenüber. Es ist hier nicht der Ort, die Theorie des epischen Theaters zu entwickeln, geschweige darzulegen, wie seine Auffindung und Gestaltung des Gestischen nichts als eine Zurückverwandlung der in Funk und Film entscheidenden Methoden der Montage aus einem technischen Geschehen in ein menschliches bedeutet. Genug daß das Prinzip des epischen Theaters gen au wie jenes der Montage auf der Unterbrechung beruht. Nur daß die Unterbrechung hier nicht Reizcharakter, sondern eine pädagogische Funktion hat. Sie bringt die Handlung im Verlauf zum Stehen und zwingt damit den Hörer zur Stellungnahme zum Vorgang, den Akteur zur Stellungnahme zu seiner Rolle.
Das epische Theater stellt dem dramatischen Gesamtkunstwerk das dramatische Laboratorium gegenüber. Es greift in neuer Weise auf die große alte Chance des Theaters zurück – auf die Exponierung des Anwesenden. Im Mittelpunkt seiner Versuche steht der Mensch in unserer Krise. Es ist der vom Radio, vom Kino eliminierte Mensch, der Mensch, um es ein wenig drastisch auszudrücken, als fünftes Rad am Wagen seiner Technik. Und dieser reduzierte, kaltgestellte Mensch wird gewissen Prüfungen unterworfen, begutachtet. Was sich ergibt, ist dies: Veränderlich ist das Geschehen nicht auf seinen Höhepunkten, nicht durch Tugend und Entschluß, sondern allein in seinem streng gewohnheitsmäßigen Verlaufe, durch Vernunft und übung. Aus kleinsten Elementen der Verhaltungsweisen zu konstruieren, was in der Aristotelischen Dramaturgie »handeln« genannt wird, das ist der Sinn des epischen Theaters.
So tritt das epische Theater dem der Konvention entgegen: An die Stelle der Bildung setzt es Schulung, an die Stelle der Zerstreuung Gruppierung. Was die letztere betrifft, so ist es jedem, der die Bewegung im Rundfunk verfolgt, geläufig, wie sehr man neuerdings darum bemüht ist, Hörergruppen, die nach sozialer Schichtung, nach Interessenkreis und Umwelt einander nahe stehen, zu engeren Verbänden zusammenzufassen. Ganz ähnlich sucht das epische Theater sich einen Stamm von Interessenten heranzuziehen, die, unabhängig von Kritik und von Reklame, gewillt sind, in einem durchgebildeten Ensemble ihre eigensten Interessen, die politischen eingeschlossen, in einer Reihe von Handlungen (im oben genannten Sinne) vergegenwärtigt zu sehen. Bemerkenswerterweise hat diese Entwicklung dahin geführt, daß ältere Dramen eingreifenden Umwandlungen unterzogen (»Eduard II.«; »Dreigroschenoper«), neuere dagegen einer Art von Kontroversbehandlung (Jasager – Neinsager) unterworfen wurden. Das dürfte zugleich erhellen, was es besagt, wenn an die Stelle der Bildung (der Kenntnisse) die Schulung (des Urteils) tritt. Der Rundfunk, dem es ganz besonders obliegt, auf altes Bildungsgut zurückzugreifen, wird dies am förderlichsten gleichfalls in Bearbeitungen tun, die nicht allein der Technik, sondern auch den Anforderungen eines Publikums entsprechen, das Zeitgenosse seiner Technik ist. Nur so wird er den Apparat vom Nimbus eines »riesenhaften Volksbildungsbetriebs« (wie Schoen es ausdrückt) frei halten, um ihn auf ein Format, das menschenwürdig ist, zu reduzieren.