Erwiderung an Oscar A. H. Schmitz
Es gibt Erwiderungen, die beinahe eine Unhöflichkeit gegen das Publikum sind. Sollte man eine schlotterige Argumentation mit schartigen Begriffen nicht ruhig der Stellungnahme ihrer Leser überlassen? Sie brauchten ja, in diesem Falle, nicht einmal den »Potemkin« gesehen zu haben. Genausowenig wie sich Schmitz ihn selber angesehen zu haben brauchte. Denn soviel wie er heute davon weiß, hat schon die erste beste Zeitungsglosse ihm gesagt. Aber das bezeichnet ja eben den Bildungsphilister: andere lesen die Meldung und halten sich für gewarnt – er muß sich »seine eigene Meinung« bilden, geht hin und glaubt damit die Möglichkeit zu gewinnen, seine Verlegenheit in sachliche Erkenntnis umzusetzen. Irrtum! Sachlich läßt über den »Potemkin« so gut vom Standpunkt der Politik wie des Films sich reden. Schmitz tut keines von beiden. Er redet von seiner letzten Lektüre. Daß nichts dabei herauskommt, ist nicht überraschend. Die streng und grundsätzlich gestaltete Darstellung einer Klassenbewegung an bürgerlichen Gesellschaftsromanen messen zu wollen, bekundet eine Ahnungslosigkeit, die entwaffnet. Nicht ganz so steht es mit dem Ausfall gegen Tendenzkunst. Hier, wo er sozusagen schwere Artillerie aus dem Arsenal bourgeoiser Ästhetik bedient, lohnt sich schon eher, deutsch und deutlich zu sein. Zu fragen: Was soll der Jammer über die politische Entjungferung der Kunst, indes man allen Sublimierungen, libidinösen Restbeständen und Komplexen in einer künstlerischen Produktion von zwei Jahrtausenden nachspürt? Wie lange soll die Kunst die höhere Tochter bleiben, die zwar in allen verrufensten Gäßchen sich auskennen, beileibe aber sich von Politik nichts träumen lassen soll? Das hilft nichts, sie ließ es sich immer träumen. Daß jedem Kunstwerk, jeder Kunstepoche politische Tendenzen einwohnen, ist – da sie ja historische Gebilde des Bewußtseins sind – eine Binsenwahrheit. Wie aber tiefere Schichten von Gestein nur an den Bruchstellen zutage treten, liegt auch die tiefe Formation »Tendenz« nur an den Bruchstellen der Kunstgeschichte (und der Werke) frei vor Augen. Die technischen Revolutionen – das sind die Bruchstellen der Kunstentwicklung, an denen die Tendenzen je und je, freiliegend sozusagen, zum Vorschein kommen. In jeder neuen technischen Revolution wird die Tendenz aus einem sehr verborgenen Element der Kunst wie von selber zum manifesten. Und damit wären wir denn endlich beim Film.
Unter den Bruchstellen der künstlerischen Formationen ist eine der gewaltigsten der Film. Wirklich entsteht mit ihm eine neue Region des Bewußtseins. Er ist – um es mit einem Wort zu sagen – das einzige Prisma, in welchem dem heutigen Menschen die unmittelbare Umwelt, die Räume, in denen er lebt, seinen Geschäften nachgeht und sich vergnügt, sich faßlich, sinnvoll, passionierend auseinanderlegen. An sich selber sind diese Büros, möblierten Zimmer, Kneipen, Großstadtstraßen, Bahnhöfe und Fabriken häßlich, unfaßlich, hoffnungslos traurig. Vielmehr: sie waren und sie schienen so, bis der Film war. Er hat dann diese ganze Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden gesprengt, so daß nun zwischen ihren weitverstreuten Trümmern wir weite, abenteuerliche Reisen unternehmen. Der Umkreis eines Hauses, eines Zimmers kann Dutzende der überraschendsten Stationen, befremdlichster Stationennamen in sich schließen. Weniger der dauernde Wandel der Bilder als der sprunghafte Wechsel des Standorts bewältigt ein Milieu, das jeder anderen Erschließung sich entzieht, und holt noch aus der Kleinbürgerwohnung die gleiche Schönheit heraus, die man an einem Alfa-Romeo bewundert. Und soweit gut. Schwierigkeiten zeigen sich erst, wenn die »Handlung« ins Spiel tritt. Die Frage einer sinnvollen Filmhandlung ist genauso selten gelöst worden, wie die abstrakten Formprobleme sind bewältigt worden, die aus der neuen Technik sich ergeben. Und vor allem wird damit eines bewiesen: die wichtigen, elementaren Fortschritte der Kunst sind weder neuer Inhalt noch neue Form – die Revolution der Technik geht beiden voran. Daß sie aber im Film weder Form noch Inhalt, die ihr im Grunde entsprechen, gefunden hat, das ist durchaus kein Zufall. Es zeigt sich nämlich, daß mit tendenzlosen Spielen der Form, tendenzlosen Spielen der Fabel die Frage immer nur von Fall zu Fall zu lösen ist.
Die Überlegenheit des russischen Revolutionsfilms beruht, genau wie jene des amerikanischen Groteskfilms, eben darin, daß beide, jeder auf seine Weise, eine Tendenz als Basis genommen haben, auf die sie stetig, konsequent zurückgehen. Tendenziös – auf weniger offenkundige Art – ist nämlich auch der Groteskfilm. Seine Spitze richtet sich gegen die Technik. Komisch ist dieser Film allerdings, nur eben, daß das Lachen, das er weckt, überm Abgrund des Grauens schwebt. Kehrseite einer lächerlich entfesselten Technik ist die tödliche Prägnanz manövrierender Flottengeschwader, wie der »Potemkin« sie am unnachsichtlichsten festhielt. Der internationale bürgerliche Film hat nun ein konsequentes, ideologisches Schema nicht finden können. Das ist eine der Ursachen seiner Krisen. Denn die Verschworenheit der Filmtechnik mit dem Milieu, das ihren eigentlichsten Vorwurf bildet, verträgt sich nicht mit der Glorifizierung des Bürgers. Das Proletariat ist der Held jener Räume, an deren Abenteuer klopfenden Herzens im Kino sich der Bürger verschenkt, weil er das »Schöne« auch und gerade dort, wo es ihm von Vernichtung seiner Klasse spricht, genießen muß. Das Proletariat ist aber Kollektivum, wie diese Räume Räume des Kollektivs sind. Und hier am menschlichen Kollektiv erst kann der Film jene prismatische Arbeit vollenden, welche er am Milieu begonnen hat. Der »Potemkin« hat epochal gerade darum gewirkt, weil sich das nie vorher so deutlich erkennen ließ. Hier zum erstenmal hat die Massenbewegung den ganz und gar architektonischen und doch so gar nicht monumentalen (lies: Ufa-) Charakter, der erst das Recht ihrer Kinoaufnahme erweist. Kein anderes Mittel könnte dies bewegte Kollektivum wiedergeben, vielmehr: kein anderes könnte solche Schönheit noch der Bewegung des Entsetzens, der Panik in ihm mitteilen. Dergleichen Szenen sind seit dem »Potemkin« unverlierbarer Besitz der russischen Filmkunst. Wie hier die Beschießung von Odessa, so zeichnet in dem neueren Film »Matj« (»Mutter«) ein Pogrom gegen Fabrikarbeiter die Leiden der städtischen Massen wie mit Laufschrift in den Asphalt der Straßen ein.
Folgerecht hat man »Potemkin« im Sinne des Kollektivismus gemacht. Der Führer dieser Revolte, der Kapitänleutnant Schmidt, eine der legendären Figuren des revolutionären Rußland, kommt im Film nicht vor. Das ist, wenn man so will, eine »Geschichtsfälschung«, hat aber mit der Einschätzung dieser Leistung gar nichts zu schaffen. Warum dann, ferner, Handlungen des Kollektivums unfrei, die des Einzelnen frei sein sollen –, diese abstruse Spielart des Determinismus bleibt ebenso unergründlich in sich wie in ihrer Bedeutung für die Debatte.
Dem Kollektivcharakter der meuternden Masse muß selbstverständlich auch der Gegenspieler angepaßt sein. Es hätte ganz und gar keinen Sinn, differenzierte Individuen ihr gegenüberzustellen. Der Schiffsarzt, der Kapitän müssen Typen sein. Typen des Bourgeois – davon mag Schmitz nichts hören. Nennen wir sie denn also Typen von Sadisten, welche durch einen bösen, gefährlichen Apparat an die Spitze der Macht sind berufen worden. Damit steht man nun freilich wieder vor einer politischen Formulierung. Sie ist nicht zu umgehen, weil sie wahr ist. Nichts hilfloser als die Einrede vom »Einzelfall«. Das Individuum mag Einzelfall sein – die hemmungslose Auswirkung seiner Teufelei ist keiner, liegt im Wesen des imperialistischen Staates und – in gewissen Grenzen – des Staates schlechtweg. Bekanntlich gibt es eine ganze Reihe Fakten, die ihren Sinn, ihr Relief überhaupt erst erhalten, wenn man sie aus der isolierenden Betrachtung löst. Es sind die Tatsachen, mit denen die Statistik es zu tun hat. Daß ein Herr X. sich gerade im März das Leben nimmt, kann in der Linie seines Einzelschicksals sehr belanglos sein, dagegen wird es außerordentlich interessant, wenn man erfährt, daß in diesem Monat die Jahreskurve der Selbstmorde ihr Maximum hat. So sind die Sadismen des Schiffsarztes vielleicht in seinem Leben nur ein Einzelfall, vielleicht hat er mittelmäßig geschlafen oder auf seinem Frühstückstisch ein schlechtes Ei gefunden. Interessant wird die Sache erst, wenn man das Verhältnis des Ärztestandes zur Staatsmacht in Rechnung stellt. Darüber hat mehr als einer in den letzten Jahren des großen Krieges äußerst genaue Studien machen können und der kümmerliche Sadist des »Potemkin« kann ihm nur leidtun, wenn er sein Tun und seine gerechte Strafe mit den Henkersdiensten vergleicht, die Tausende seiner Kollegen – und ungestraft – an Krüppeln und Kranken vor ein paar Jahren den Generalkommandos geleistet haben.
»Potemkin« ist ein großer, selten geglückter Film. Es gehört schon der Mut der Verzweiflung dazu, den Protest gerade hier anzusetzen. Schlechte Tendenzkunst gibt es sonst genug, darunter schlechte sozialistische Tendenzkunst. Solche Sachen sind vom Effekt her bestimmt, rechnen mit ausgeleierten Reflexen, benutzen Schablonen. Dieser Film aber ist ideologisch ausbetoniert, richtig in allen Einzelheiten kalkuliert wie ein Brückenbogen. Je kräftiger die Schläge darauf niedersausen, desto schöner dröhnt er. Nur wer mit behandschuhten Fingerchen daran rüttelt, der hört und bewegt nichts.