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Kolonialpädagogik

Es läßt sich diesem Buch1 etwas Seltenes nachrühmen: daß es nämlich ganz und gar schon mit seinem Umschlag gegeben ist. Der ist eine Photomontage: Fördertürme, Wolkenkratzer, Fabrikschornsteine im Hintergrund, eine mächtige Lokomotive im Mittelgrund und vorn in dieser Landschaft aus Beton, Asphalt und Stahl ein Dutzend Kinder um die Kindergärtnerin geschart, die ein Märchen erzählt. – Unbestreitbar, wer sich mit den Maßnahmen einläßt, die der Verfasser im Text empfiehlt, der wird vom Märchen genau so viel mitteilen, als wer es am Fuß eines Dampfhammers oder in einer Kesselschmiede zum besten gäbe. Und die Kinder werden von den Reform-Märchen, die ihnen hier zugedacht sind, in ihrem Herzen genau so viel haben wie ihre Lungen von der Zementwüste, in welche dieser vortreffliche Wortführer »unserer Gegenwart« sie versetzt. Nicht leicht wird man ein Buch finden, in dem die Preisgabe des Echtesten und Ursprünglichsten mit gleicher Selbstverständlichkeit gefordert, in der die zarte und verschlossene Phantasie des Kindes gleich rückhaltlos als seelische Nachfrage im Sinne einer warenproduzierenden Gesellschaft verstanden und die Erziehung mit so trister Unbefangenheit als koloniale Absatzchance für Kulturgüter angesehen würde. Die Art von Kinderpsychologie, in der der Verfasser beschlagen ist, ist das genaue Gegenstück der berühmten »Psychologie der Naturvölker« als gottgesandter Abnehmer europäischer Pofelware. Sie stellt sich auf jeder Seite bloß: »Das Märchen gestattet dem Kinde, sich dem Helden gleichzusetzen. Dieses Bedürfnis nach Identifikation entspricht der kindlichen Schwäche, die es gegenüber der Erwachsenenwelt empfindet.« An Freuds großartige Deutung der kindlichen Überlegenheit (in seiner Studie über Narzißmus), auch nur an die Erfahrung, die das Gegenteil beweist, zu appellieren, hieße zuviel Umstände mit einem Text machen, in dem die Oberflächlichkeit mit einem Fanatismus proklamiert wird, der unter dem Panier der Jetztzeit einen heiligen Krieg gegen alles entfesselt, was nicht dem »gegenwärtigen Empfinden« entspricht und die Kinder (wie gewisse afrikanische Volksstämme) in den vordersten Linien dieses Kampfes einsetzt.

»Die Elemente, deren sich das Märchen bedient, sind sehr häufig unbrauchbar, veraltet und unserem gegenwärtigen Empfinden fremd geworden. Eine besondere Rolle spielt die böse Stiefmutter. Kinderschlächter und Menschenfresser sind typische Figuren des deutschen Volksmärchens. Der Blutdurst ist auffallend, die Schilderung des Mordens und Tötens ist beliebt. Auch die überirdische Welt des Märchens ist vor allem schreckenerregend. Die Grimmsche Sammlung strotzt von Prügelfreude. Das deutsche Volksmärchen ist häufig alkoholfreudig, jedenfalls niemals alkoholgegnerisch.« So wandeln sich die Zeiten. Während, nach dem Verfasser zu schließen, der Menschenfresser noch unlängst eine recht geläufige Erscheinung im deutschen Alltag gewesen sein muß, ist er dem »gegenwärtigen Empfinden« nunmehr entfremdet. Das mag schon sein. Wie aber, wenn die Kinder, vor die Wahl gestellt, eher ihm als dieser neuen Pädagogik in den Rachen liefen? Und so auch ihrerseits sich dem »gegenwärtigen Empfinden« entfremdet erwiesen? Dann wird es sie schwerlich mit dem Radio wieder an sich fesseln, »diesem Wunder der Technik«, von dem der Verfasser sich eine neue Blüte des Märchens verspricht.

Denn »das Märchen hat ... das Erzählen als wichtigste Lebensäußerung notwendig«. So sieht die Sprache des Mannes aus, der an das Werk der Brüder Grimm herangeht, um es »Bedürfnissen« anzupassen. Weil er vor nichts zurückscheut, gibt er von solcher Anpassung auch noch Proben in einem Verfahren, das den Spinnrocken durch die Nähmaschine und Königsschlösser durch hochherrschaftliche Behausungen ersetzt. Denn »der monarchische Glanz unserer mitteleuropäischen Welt ist glücklich überwunden, und je weniger wir von diesem Spuk und Alpdruck deutscher Geschichte unseren Kindern vorsetzen, um so besser wird es für die Kinder und für die Entwicklung des deutschen Volkes und seiner Demokratie sein.« Nein! So tief ist die Nacht unserer Republik nicht, daß alle Katzen drin grau und Wilhelm II. und König Drosselbart nicht mehr zu unterscheiden wären. Sie wird noch Kraft finden, diesem lebfrischen Reformismus sich in den Weg zu stellen, für den Psychologie, Folklore und Pädagogik nur Flaggen sind, unter denen das Märchen als Exportware nach dem dunklen Erdteil verfrachtet wird, wo die Kinder in den Plantagen seiner frommen Denkungsart schmachten.


1 Alois Jalkotzy, Märchen und gegenwart. Das deutsche volksmärchen und unsere zeit. Wien: Jungbrunnen 1930. 112 S.