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2. Aus dem Leben des in Gott entschlafenen Priestermönchs und Starez Sossima, nach seinen eigenen Worten zusammengestellt von Alexej Fjodorowitsch Karamasow

a) Biographische Mitteilungen über die Jugendjahre des Bruders des Starez Sossima

Geliebte Väter und Lehrer! Geboren wurde ich in einem fernen nördlichen Gouvernement, in der Stadt W. Mein Vater war zwar ein Adliger, doch weder ein vornehmer Mann noch ein einflußreicher Beamter. Er starb, als ich erst zwei Jahre alt war, und ich habe gar keine Erinnerung an ihn. Er hinterließ meiner Mutter ein kleines Holzhaus und etwas Vermögen, nicht groß, aber so weit ausreichend, daß sie mit ihren Kindern davon leben konnte, ohne Not zu leiden. Kinder waren wir zwei: ich, Sinowi, und mein großer Bruder Markel. Er war acht Jahre älter als ich, von hitzigem, reizbarem Temperament, aber seelengut, nicht spottlustig und von einer seltsamen Schweigsamkeit, besonders zu Hause, mir, der Mutter und den Dienstboten gegenüber. Auf dem Gymnasium lernte er gut, doch mit seinen Mitschülern verstand er sich nicht, obwohl er mit ihnen nicht zerstritten war; so berichtete es zumindest später die Mutter. Ein halbes Jahr vor seinem Tode, als er schon siebzehn Jahre alt war, kam er in engen Kontakt mit einem Mann, der in unserer Stadt ganz einsam für sich lebte, anscheinend einem politischen Verbannten; er war aber wegen Freigeisterei aus Moskau in unsere Stadt verbannt. Dieser Verbannte war ein bedeutender Gelehrter und angesehener Philosoph, der an der Universität gelehrt hatte. Aus irgendeinem Grund gewann er Markel lieb und lud ihn häufig zu sich ein. Mein Bruder war oft abendelang bei ihm, den ganzen Winter über, bis der Verbannte auf seine eigene Bitte wieder in den Staatsdienst nach Petersburg berufen wurde — er hatte wohl hohe Gönner. Es begannen die Großen Fasten, doch Markel wollte nicht fasten. Er schimpfte und lachte darüber: „Das ist ja alles dummes Zeug«, sagte er. „Es gibt gar keinen Gott.« Durch solche Reden versetzte er unsere Mutter und die Dienerschaft in Schrecken — und mich kleinen Knaben natürlich auch. Ich war zwar erst neun Jahre alt, erschrak aber über diese Worte gleichfalls zutiefst. Unsere Dienerschaft bestand nur aus Leibeigenen, vier Personen, die sämtlich auf den Namen eines mit uns bekannten Gutsbesitzers getauft waren. Ich erinnere mich noch, wie unsere Mutter eine von diesen vier, die Köchin Afimia, weil sie lahm und schon recht alt war, für sechzig Rubel verkaufte und an ihrer Stelle eine freie Magd mietete. Und da, in der sechsten Fastenwoche, ging es auf einmal meinem Bruder gesundheitlich schlecht. Er war von jeher kränklich und von schwacher Konstitution gewesen und neigte zur Schwindsucht; von Statur war er nicht klein, aber schmächtig und im Gesicht sehr wohlgebildet. Er mußte sich erkältet haben, und der eilig gerufene Arzt teilte alsbald der Mutter mit, es sei die galoppierende Schwindsucht und er werde das Frühjahr nicht überleben. Die Mutter fing an zu weinen und bat den Bruder mit aller Vorsicht, um ihn nicht zu erschrecken, er möchte sich durch Fasten und Kirchenbesuch aufs Abendmahl vorbereiten und es dann nehmen; er konnte damals nämlich noch ausgehen. Als er das hörte, wurde er ärgerlich und schimpfte auf die Kirche. Dann ließ er sich die Sache jedoch durch den Kopf gehen; er begriff sofort, daß er gefährlich krank war und die Mutter ihn deshalb zur Vorbereitung aufs Abendmahl anhielt, solange er noch die Kraft dazu besaß. Übrigens hatte er selbst schon länger gewußt, daß er krank war; schon vor einem Jahr hatte er einmal bei Tisch zu mir und der Mutter kaltblütig gesagt: „Es ist mir nicht beschieden, lange unter euch auf der Welt zu sein. Vielleicht werde ich kein Jahr mehr leben.« Das hatte er nun richtig prophezeit. Es vergingen drei Tage, dann begann die Karwoche. Und da ging der Bruder vom Dienstagmorgen an zur Kirche. „Ich tu' das eigentlich nur für Sie, liebe Mutter, um Ihnen eine Freude zu machen und Sie zu beruhigen«, sagte er zu ihr. Die Mutter fing vor Freude, aber auch vor Kummer an zu weinen. „Sein Ende muß nahe sein«, sagte sie, „wenn plötzlich so eine Veränderung mit ihm vorgeht!« Aber er konnte nicht mehr lange zur Kirche gehen. Er mußte sich ins Bett legen, so daß ihm schon zu Hause die Beichte abgenommen und das Abendmahl erteilt wurde. Es kamen helle, klare, erquickende Tage; Ostern lag in diesem Jahr spät. Ich erinnere mich, nachts mußte er immer husten und schlief schlecht, doch am Morgen zog er sich an und versuchte, sich in einen weichen Lehnstuhl zu setzen. So habe ich ihn auch im Gedächtnis behalten: Er sitzt mit stiller, sanfter Miene da und lächelt — er selbst ist krank, aber sein Gesicht ist heiter und freudig. Er war seelisch ein ganz anderer Mensch geworden, so eine wunderbare Veränderung war plötzlich mit ihm vorgegangen! Da kam zum Beispiel die alte Kinderfrau in sein Zimmer. „Erlaube, Täubchen, ich möchte bei dir das Lämpchen vor dem Heiligenbild anzünden.« Früher hatte er das nicht zugelassen, sondern das Lämpchen sogar wieder ausgeblasen. Aber jetzt sagte er: „Zünde es an, meine Liebe, zünde es an. Ich war ein Unmensch, daß ich es euch früher verboten habe. Du betest zu Gott, indem du das Lämpchen anzündest, und ich bete zu ihm, indem ich mich über dich freue. Also beten wir zu ein und demselben Gott.« Diese Worte kamen uns seltsam vor. Die Mutter ging auf ihr Zimmer und weinte immerzu; nur wenn sie zu ihm hineinging, trocknete sie ihre Tränen und nahm eine heitere Miene an. „Weine nicht, liebe Mutter, mein Täubchen!« sagte er manchmal. „Ich kann noch lange mit euch leben und mich noch lange mit euch freuen, das Leben ist ja so heiter und fröhlich!« — „Mein lieber Sohn, was hast du denn für Freude am Leben, wenn du in der Nacht vor Fieber glühst und hustest, daß dir fast die Brust zerspringt?« — „Mama«, antwortete er ihr, „weine nicht. Das Leben ist ein Paradies; wir sind alle im Paradies und wollen es nur nicht wahrhaben. Wenn wir es wahrhaben wollten, würde gleich morgen auf der ganzen Welt das Paradies anheben.« Alle staunten über seine Worte, alle waren gerührt und weinten, so seltsam und so nachdrücklich hatte er gesprochen. Es kamen Bekannte zu uns. „Liebe teure Menschen«, sagte er zu ihnen, „wodurch habe ich es verdient, daß Sie mich, einen solchen Menschen, lieben? Und wie ist es nur möglich, daß ich das früher nicht erkannt und nicht zu schätzen gewußt habe?« Zu den Dienstboten sagte er häufig: „Meine Lieben, Teuren, weswegen dient ihr mir? Bin ich das denn wert, daß ihr mir dient? Wenn Gott sich meiner erbarmen und mich leben lassen würde, dann möchte ich euch dienen, denn wir müssen alle einander dienen.« Als die Mutter das hörte, schüttelte sie den Kopf. „Du mein teurer Sohn, du redest so, weil du krank bist!« — „Mama, du meine Freude«, sagte er, „es muß ja wohl Herren und Diener geben. Aber auch ich will der Diener meiner Diener sein, so wie sie die meinigen sind. Und noch eins will ich dir sagen, liebe Mutter. Jeder von uns trägt allen gegenüber an allem Schuld, und ich mehr als alle.« Die Mutter lächelte darüber sogar, sie weinte und lächelte zugleich. „Nun«, sagte sie, „inwiefern trägst du denn allen gegenüber mehr Schuld als alle? Es gibt Mörder und Räuber, was hast du schon gesündigt, daß du dir mehr Schuld beimißt als allen anderen?« — „Liebe Mutter, du mein Blutströpfchen«, sagte er; solche Kosenamen begann er damals zu unserer Überraschung zu gebrauchen. „Du sollst wissen, mein liebes, fröhliches Blutströpfchen, daß in Wahrheit ein jeder allen gegenüber an allem Schuld trägt. Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll, doch ich fühle, fühle es qualvoll und schmerzhaft, daß es so ist. Wie haben wir früher nur so leben können — im Zorn und ohne Wissen!« So waren denn jeden Tag beim Aufstehen seine Rührung und seine Freude größer und größer; er zitterte geradezu vor Liebe. Manchmal, wenn der Arzt kam, ein alter Deutscher namens Eisenschmidt, sagte der Kranke scherzend zu ihm: „Nun, wie steht's, Doktor? Werde ich noch einen Tag auf dieser Weit leben?« — „Sie werden nicht nur einen Tag sondern noch viele Tage auf dieser Welt leben«, antwortete der Arzt. Monate und Jahre werden Sie noch leben!« — „Wozu noch Jahre und Monate!« rief er dann manchmal. „Wozu die Tage zählen, wo doch ein einziger Tag für den Menschen ausreicht, um das volle Glück kennenzulernen? Meine Lieben, warum streiten wir, warum prahlen wir, warum tragen wir einander Kränkungen nach? Laßt uns einfach in den Garten gehen und spazieren und umhertollen und einander lieben und loben und küssen und unser Leben glücklich preisen!« — „Ihr Sohn wird nicht mehr lange leben«, sagte der Arzt zur Mutter, als sie ihn zur Haustür begleitete. „Infolge der Krankheit ist eine geistige Störung eingetreten.« Die Fenster seines Zimmers gingen auf den Garten hinaus. Unser Garten war schattig, von alten Bäumen bestanden; an den Bäumen kamen die Frühlingsknospen hervor, und am Morgen kamen die Vögel geflogen, zwitscherten und sangen ihm in die Fenster. Und wie er sie so ansah und sich über sie freute, begann er auf einmal auch sie um Verzeihung zu bitten: „Ihr Vöglein Gottes, ihr fröhlichen Vöglein, verzeiht auch ihr mir, denn auch vor euch habe ich mich versündigt.« Das konnte nun niemand von uns verstehen. Er aber weinte vor Freude. „Ja«, sagte er, „es war eine solche Gottespracht um mich herum, die Vögelchen und die Bäume und die Wiesen und der Himmel! Ich allein lebte in Schande, ich allein entehrte alles und bemerkte all die Schönheit und Pracht gar nicht.« — „Du wirfst dir gar zu viele Sünden vor« sagte die Mutter manchmal weinend. „Liebe Mutter, du meine Freude, ich weine ja vor Glück, nicht vor Kummer! Es verlangt mich ja selbst, ihnen gegenüber Schuld zu tragen. Ich kann es dir nur nicht erklären, denn ich weiß nicht, wie ich sie nur lieben soll. Mag ich mich auch ihnen gegenüber versündigt haben, dafür werden sie mir alle verzeihen — und das ist eben das Paradies. Bin ich denn jetzt nicht im Paradies?«

Und so sagte er noch vieles, was ich nicht im Gedächtnis behalten habe. Ich erinnere mich, daß ich einmal zu ihm ins Zimmer kam, als niemand bei ihm war. Es war eine klare Abendstunde, die Sonne neigte sich zum Untergang und erleuchtete das ganze Zimmer mit ihren schrägen Strahlen. Als er mich sah, winkte er mich heran, ich trat zu ihm. Er faßte mich mit beiden Händen an den Schultern und sah mir liebevoll ins Gesicht. Er sprach nichts, sah mich nur ungefähr eine Minute so an, dann sagte er: „Nun, jetzt geh und spiele und lebe für mich!« Ich ging damals hinaus und spielte. Aber in meinem späteren Leben habe ich mich oftmals unter Tränen erinnert, wie er mich geheißen hatte, für ihn zu leben. Er sagte noch viele solche wunderbare und schöne, für uns damals allerdings unverständliche Worte. Er starb in der dritten Woche nach Ostern, bei vollem Bewußtsein, und wenn er auch nicht mehr reden konnte, veränderte er sich bis zu seiner letzten Stunde nicht mehr. Sein Gesicht hatte einen freudigen Ausdruck, seine Augen glänzten heiter, mit seinen Blicken suchte er uns, lächelte er uns zu, rief er uns. Sogar in der Stadt wurde viel über sein Ende gesprochen. Alles das hat mich damals erschüttert, aber nicht allzusehr, obgleich ich bei seinem Begräbnis schrecklich geweint habe. Ich war noch zu jung, ein Kind, doch blieb das alles unauslöschlich in meinem Herzen: Das Gefühl lag verborgen. Zur rechten Zeit mußte alles wiedererstehen und zu neuem Klang erweckt werden. So ist es denn auch geschehen.

b) Von der Heiligen Schrift im Leben des Vaters Sossima

Ich blieb damals mit meiner Mutter allein zurück. Bald darauf rieten ihr gute Bekannte: „Sie haben nur noch einen Sohn, und Sie sind nicht arm, Sie besitzen etwas Vermögen; warum sollten Sie Ihren Sohn nicht wie andere Leute nach Petersburg schicken? Wenn Sie ihn hierbehalten, berauben Sie ihn vielleicht einer glänzenden Zukunft.« Und sie empfahlen meiner Mutter, mich nach Petersburg ins Kadettenkorps zu schicken, damit ich später in die Kaiserliche Garde eintreten könnte. Meine Mutter schwankte lange, ob sie sich von ihrem letzten Sohn trennen sollte. Aber sie entschloß sich doch dazu, allerdings nicht ohne viele Tränen, weil sie mir dadurch zu meinem Glück zu verhelfen glaubte. Sie fuhr mit mir nach Petersburg — und seitdem habe ich sie nicht wiedergesehen. Denn drei Jahre später starb sie selbst, und die ganzen drei Jahre hatte sie sich um uns beide gegrämt und für mich gezittert. Aus dem Elternhaus habe ich die kostbarsten Erinnerungen mitgenommen. Es gibt für den Menschen keine kostbareren Erinnerungen als die an seine erste Kindheit im Elternhaus, und das ist fast immer so, wenn in einer Familie auch nur ein bißchen Liebe und Eintracht vorhanden ist. Ja, selbst an die schlechteste Familie können sich kostbare Erinnerungen erhalten, wenn deine eigene Seele nur fähig ist, das Kostbare zu suchen. Zu den Erinnerungen an das Elternhaus rechne ich auch die Erinnerungen an die Biblische Geschichte; sie kennenzulernen brachte mir im Elternhaus, obwohl ich noch ein kleines Kind war, die größte Freude. Ich hatte damals ein Buch, die Biblische Geschichte, mit schönen Bildern; es führte den Titel „Hundertvier biblische Geschichten des Alten und Neuen Testaments.« Anhand dieses Buches lernte ich auch lesen. Auch jetzt habe ich es hier auf dem Bücherbrett liegen, ich bewahre es als wertvolles Andenken auf. Ich erinnere mich, wie mich zum erstenmal eine tiefe Ergriffenheit überkam, noch bevor ich lesen gelernt hatte; ich war damals erst acht Jahre alt. Meine Mutter nahm mich am Montag der Karwoche zur Messe mit in die Kirche; ich war allein — wo mein Bruder damals war, daran kann ich mich nicht erinnern. Es war ein heller Tag, und wenn ich jetzt zurückdenke, so sehe ich abermals ganz deutlich, wie der Weihrauch aus dem Räucherfaß quoll und sacht nach oben stieg; und oben, in der Kuppel, strömten durch ein schmales Fensterchen die Strahlen der Gottessonne nur so in die Kirche und auf uns hernieder und sogen den aufsteigenden Weihrauch gleichsam in sich auf. Ich sah das und war ergriffen, und zum erstenmal seit meiner Geburt nahm ich damals das Samenkorn des Wortes Gottes mit Bewußtsein in meine Seele auf. Ein junger Ministrant mit einem großen Buch schritt bis in die Mitte der Kirche; das Buch war so groß, daß er es, wie mir damals schien, nur mit Mühe tragen konnte. Er legte es auf ein Lesepult, schlug es auf und begann zu lesen, und auf einmal, zum erstenmal in meinem Leben, verstand ich damals, was im Gotteshaus gelesen wird. Es war ein Mann im Lande Uz, der war gerecht und gottesfürchtig und besaß so und so großen Reichtum, so und so viele Kamele, so und so viele Schafe und Esel, und seine Kinder lebten in Freuden, und er liebte sie sehr und betete für sie, denn er dachte: Vielleicht haben sie gesündigt, während sie sich vergnügten. Und da kam zu Gott der Teufel, zusammen mit den Söhnen Gottes, und sagte zum Herrn, er habe die ganze Erde durchzogen. „Hast du meinen Knecht Hiob gesehen?« fragte ihn Gott. Und Gott rühmte sich dem Teufel gegenüber, indem er auf diesen seinen großen frommen Knecht hinwies. Der Teufel aber lächelte zu diesen Worten Gottes und sagte: „Überlaß ihn mir, und du wirst sehen, daß dein Knecht gegen dich murren und deinen Namen verfluchen wird.« Und Gott überließ seinen Gerechten, den Er so sehr liebte, dem Teufel, und der Teufel erschlug seine Kinder und sein Vieh und vernichtete seinen Reichtum, alles mit einemmal, wie durch Gottes Donner. Und Hiob zerriß seine Kleider und warf sich auf die Erde und rief: „Nackt bin ich aus dem Leib meiner Mutter gekommen, nackt werde ich in die Erde zurückkehren. Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobt von nun an bis in Ewigkeit!« Ihr meine Väter und Lehrer, verzeiht mir die Tränen, die ich jetzt weine! Meine ganze Kindheit ersteht gleichsam neu vor meinem geistigen Auge, und ich atme jetzt so, wie ich damals als Achtjähriger mit meiner Kinderbrust atmete, und fühle wie damals Staunen und Verwirrung und Freude. Die Kamele beschäftigten damals meine Einbildungskraft, und der Satan, der so mit Gott spricht, und Gott, der seinen Knecht dem Verderben preisgibt, und auch sein Knecht, der ausruft: „Gelobt sei dein Name, obwohl du mich züchtigst!« Und dann ertönte im Gotteshaus der leise, süße Gesang: „Möge mein Gebet Erhörung finden!« Und von neuem quoll der Weihrauch aus dem Gefäß des Geistlichen, und alles beugte die Knie und betete! Seitdem kann ich diese hochheilige Erzählung nicht ohne Tränen lesen, gestern erst habe ich sie zur Hand genommen. Wieviel Hohes, Geheimnisvolles, Unfaßbares enthält sie aber auch! Ich habe später Schmäher und Spötter stolze Worte sagen hören: „Wie konnte Gott seinen Liebling unter den Frommen dem Teufel zur Kurzweil ausliefern, ihm seine Kinder nehmen und ihn selbst so mit Krankheit und Geschwüren schlagen, daß er sich mit einer Scherbe den Eiter von den Wunden abkratzen mußte! Und wozu? Nur um sich vor dem Satan rühmen zu können! ‚Da siehst du, was mein frommer Knecht um meinetwillen ertragen kann!‘« Aber darin besteht ja gerade die Größe, daß hier ein Geheimnis vorliegt: daß sich vergängliche irdische Erscheinung und ewige Wahrheit hier berühren. Vorrang vor der irdischen Gerechtigkeit hat die ewige Gerechtigkeit. Wie der Schöpfer jeden der ersten Schöpfungstage mit dem Lob beschloß: „Was ich geschaffen habe, ist gut«, so blickt Er hier auf Hiob und rühmt sich von neuem seines Geschöpfes. Hiob aber dient, indem er Gott lobt, nicht nur Ihm, sondern seiner ganzen Schöpfung, von Geschlecht zu Geschlecht und in alle Ewigkeit, denn eben dazu war er von jeher bestimmt. O Gott, was ist das für ein Buch, und was für Lehren enthält es! Was für ein Buch ist die Heilige Schrift, welche wunderbaren Kräfte werden dem Menschen durch sie verliehen! Sie ist gewissermaßen ein Bild der Welt und des Menschen und der menschlichen Charaktere, und alles ist darin benannt und ausgewiesen für alle Ewigkeit. Und wie viele Geheimnisse sind darin enthüllt und aufgedeckt: Gott richtet Hiob wieder auf und gibt ihm neuen Reichtum; es vergehen erneut viele Jahre, und siehe da, er hat schon wieder Kinder, andere Kinder und liebt sie … O Gott, man möchte fragen: Wie konnte er nur diese anderen Kinder liebgewinnen, da die früheren nicht mehr lebten und er ihrer beraubt war? Und wie lieb ihm auch die neuen sein mochten — konnte er mit ihnen glücklich sein wie früher, wenn er an die früheren zurückdachte? Aber man kann das, man kann das: Das alte Leid geht durch einen großen, geheimnisvollen Vorgang des Menschenlebens allmählich über in eine stille, wehmütige Freude; an die Stelle des jungen, heißen Blutes tritt das milde, klare Alter. Ich segne den täglichen Aufgang der Sonne, und mein Herz lobsingt ihm wie früher; noch mehr jedoch liebe ich schon ihren Untergang, ihre langen schrägen Strahlen und mit ihnen die stillen, sanften, rührenden Erinnerungen, die lieben Bilder aus meinem langen, reichgesegneten Leben — und über allem waltet die herzergeifende, versöhnende und allesverzeihende göttliche Gerechtigkeit! Mein Leben geht zu Ende; das weiß ich, und das spüre ich. Aber mit jedem Tag, der mir noch beschieden ist, fühle ich stärker, wie sich mein irdisches Leben schon mit einem neuen, unendlichen, unbekannten, doch bereits nahem Leben berührt, von dessen Vorahnung meine Seele vor Entzücken bebt, mein Geist erstrahlt und mein Herz Freudentränen vergießt .. Meine Freunde und Lehrer, ich habe mehrmals gehört, und in letzter Zeit ist noch vernehmlicher darüber gesprochen worden, daß sich bei uns die Priester Gottes allerorten, namentlich auf dem Lande, über ihr geringes Einkommen und ihre unwürdige Lage beklagen und unverblümt erklären, sogar in Druckschriften — ich selbst habe solche gelesen — sie könnten dem Volk jetzt nicht mehr die Schrift auslegen, denn es fehle ihnen an Mitteln zu ihrem Lebensunterhalt. Und wenn jetzt die Lutheraner und die Ketzer anfingen, die Herde abspenstig zu machen, so müßten sie es geschehen lassen, weil sie zu wenig Einkommen haben. ‚Herr Gott!‘ denke ich. ‚Möge Gott ihnen mehr von diesem ach so kostbaren Einkommen geben — denn ihre Klage ist wirklich begründet!‘ Doch ich sage wahrheitsgemäß auch: Wenn jemand daran schuld ist, so sind wir es zur Hälfte selbst! Mag auch ein solcher Geistlicher außerordentlich wenig Zeit haben, mag er auch mit Recht sagen, daß die wirtschaftliche Arbeit und die Amtshandlungen ihn fast erdrücken — das füllt doch nicht seine ganze Zeit aus, auch er hat mindestens eine Stunde in der Woche, wo er an Gott denken kann. Und die Arbeit dauert auch nicht das ganze volle Jahr. Soll er bei sich zu Hause zunächst einmal in der Woche zur Abendzeit wenigstens die Kinderchen versammeln; wenn die Väter das hören, werden auch sie kommen. Und zu diesem Zweck braucht kein großes Wohnhaus errichtet zu werden: Er nehme sie einfach in sein Häuschen auf. Er braucht nicht zu befürchten, sie könnten ihm die Stube beschmutzen; er versammelt sie ja nur für eine einzige Stunde. Er schlage ihnen dieses Buch auf und beginne zu lesen, ohne kunstvolle Worte und ohne Eitelkeit und ohne Selbstüberhebung, sondern ergriffen und sanft, sich selbst darüber freuend, daß er ihnen vorliest und sie ihm zuhören und ihn verstehen, und was er vorliest, auch selber liebend. Nur selten halte er inne und erkläre einen Ausdruck, der dem einfachen Mann unverständlich ist. Er sei unbesorgt, sie werden schon alles verstehen, alles wird das rechtgläubige Herz verstehen! Er lese ihnen von Abraham und Sarah, von Isaak und Rebekka, und wie Jakob zu Laban ging und im Traum mit dem Herrn rang und sagte: „Furchtbar ist dieser Ort!« Und er wird auf den gottesfürchtigen Geist der einfachen Leute einen tiefen Eindruck machen. Er lese ihnen, besonders den Kindern, wie die Brüder ihren Bruder, den lieben Knaben Joseph, den großen Traumdeuter und Propheten, in die Sklaverei verkauften und dem Vater sagten, ein wildes Tier habe seinen Sohn zerrissen, wobei sie ihm dessen blutigen Rock zeigten. Er lese, wie später die Brüder nach Ägypten zogen, um Getreide zu holen, und wie Joseph, inzwischen ein großer Mann am Hofe des Königs, von ihnen nicht wiedererkannt wurde, wie er sie quälte und beschuldigte und den Bruder Benjamin zurückbehielt, und das alles aus Liebe: „Ich liebe euch, und aus Liebe quäle ich euch.« Denn er hatte sich sein Leben lang unaufhörlich daran erinnert, wie sie ihn irgendwo in der glühenden Wüste bei einem Brunnen an Kaufleute verkauft hatten und wie er geweint und seine Brüder händeringend gebeten hatte, ihn nicht in ein fremdes Land zu verkaufen. Und siehe da, als er sie nun nach so vielen Jahren wiedersah, gewann er sie von neuem grenzenlos lieb; aber er peinigte und quälte sie, alles aus Liebe. Zuletzt verließ er sie, da er die Qual seines Herzens nicht mehr ertragen konnte, warf sich auf sein Bett und weinte. Dann trocknete er seine Tränen, ging mit strahlendem Antlitz wieder zu ihnen und verkündete ihnen: „Brüder, ich bin Joseph, euer Bruder!« Er lese ihnen weiter, wie sich der alte Jakob freute, als er erfuhr, daß sein lieber Knabe noch am Leben war, wie er sogar seine Heimat verließ und nach Ägypten zog und im fremden Land starb, nachdem er, in seinem Vermächtnis für alte Ewigkeit das große Wort verkündet hatte, das sein Leben lang geheimnisvoll in seinem frommen, furchtsamen Herzen geruht hatte: daß nämlich aus seinem Stamm, aus Juda, die große Hoffnung der Welt, ihr Versöhner und Heiland, hervorgehen werde! Meine Väter und Lehrer, verzeiht mir und zürnet mir nicht, daß ich wie ein kleiner Knabe von Dingen rede, die ihr schon längst wißt und über die ihr mich hundertmal kunstvoller und schöner belehren könnt. Nur aus Begeisterung sage ich das alles. Und verzeiht mir auch diese Tränen, weil ich dieses Buch liebe! Und sollte auch er, der Priester Gottes, in Tränen ausbrechen, so wird er sehen, daß als Antwort darauf die Herzen seiner Zuhörer erbeben werden. Es ist ja nur ein winziges Samenkorn erforderlich: Wenn er dieses in die Seele des einfachen Mannes wirft, wird es nicht ersterben, sondern in ihm sein ganzes Leben lang leben, inmitten des Dunkels und der Wirrnis der Sünden verborgen als ein heller Punkt, als eine große Erinnerung. Und es ist gar nicht nötig, viel zu erläutern und zu lehren, er wird alles ganz einfach begreifen. Denkt etwa jemand, der einfache Mann könnte es nicht begreifen? Er versuche es, er lese ihm weiter die ergreifende Geschichte von der schönen Esther und der hochmütigen Vasthi oder die wunderbare Erzählung von dem Propheten Jona im Bauch des Walfischs. Er vergesse auch nicht die Gleichnisse des Herrn nach dem Evangelium des Lukas, die habe ich auch nie vergessen, und aus der Apostelgeschichte die Bekehrung des Saulus, der Text ist unbedingt nötig, und endlich aus den Lebensbeschreibungen der Heiligen wenigstens das Leben von Alexej dem Gottesmann und der großen, freudigen Märtyrerin, der ägyptischen Mutter Maria, der Gottschauerin und Christusträgerin — und er wird ihm mit diesen einfachen Erzählungen das Herz rühren. Und das nur eine Stunde in der Woche, das geht trotz des geringen Einkommens! Und er wird selbst sehen, daß unser einfaches Volk gut und dankbar ist. Es wird ihm hundertfach Dank abstatten; in Erinnerung an die freundlichen Mühen des Geistlichen und an seine rührenden Worte wird es ihm freiwillig auf dem Feld und im Haus helfen und ihm mehr Achtung entgegenbringen als vorher — und somit wird denn auch sein Einkommen steigen. Die Sache ist so einfach, daß man sich manchmal scheut, sie überhaupt auszusprechen — aus Furcht, von den Leuten ausgelacht zu werden. Doch wie wahr ist sie dabei! Wer nicht an Gott glaubt, wird auch nicht an das Volk Gottes glauben. Wer aber an das Volk Gottes glaubt, wird auch Gottes Heiligtum schauen, selbst wenn er bis dahin überhaupt nicht daran geglaubt hat. Nur das Volk und seine künftige geistige Kraft wird unsere Atheisten bekehren, die sich von der heimischen Erde losgerissen haben. Und was ist das Wort Christi ohne Vorbild? Ohne Gottes Wort geht das Volk zugrunde, denn seine Seele dürstet nach dem Wort und nach jeder schönen geistigen Gabe. In meiner Jugend, es ist schon lange her, fast vierzig Jahre, wanderten Vater Anfim und ich durch ganz Rußland, um Gaben für unser Kloster zu sammeln. Da übernachteten wir einmal, zusammen mit Fischern, am Ufer eines großen, schiffbaren Flusses, und zu uns setzte sich ein gutgewachsener junger Mann, ein Bauer, dem Aussehen nach etwa achtzehn Jahre alt. Er war an diesen Ort geeilt, um am nächsten Tag eine Kaufmannsbarke an Land zu ziehen. Ich sah, wie er mit klaren Augen vor sich hin blickte. Es war eine helle, stille, warme Julinacht, vor uns lag der breite Fluß, Nebel stieg von ihm auf und erfrischte uns, leise plätscherte ab und zu ein Fisch, die Vögel waren verstummt, alles war still und herrlich: alles betete zu Gott. Nur wir beide schliefen nicht, ich und dieser junge Bauer. Wir sprachen über die Schönheit dieser Gotteswelt und über ihr großes, Geheimnis: wie jedes Gräschen, jedes Käferchen, die Ameise, die goldene Biene, alle in erstaunlicher Weise ihren Weg kennen, obgleich sie keinen Verstand besitzen, wie sie von Gottes Geheimnis zeugen und es unaufhörlich selbst erfüllen. Und ich sah, das Herz des lieben jungen Mannes war in Liebe entbrannt. Er teilte mir mit, er liebe den Wald und die Waldvögel; er sei Vogelfänger und kenne jeden Pfiff eines Vogels und könne jeden Vogel anlocken. „Etwas Besseres als das Leben im Wald kenne ich nicht«, sagte er. „Es ist jedoch alles in der Welt schön.« — „Das ist richtig«, antwortete ich ihm. „Alles ist schön und prächtig, weil alles die Wahrheit ist. Schau dir das Pferd an«, sagte ich, „diese große Tier, das dem Menschen so nahesteht, oder den Ochsen, diesen ernsten, nachdenklichen Gesellen, der ihn ernährt und für ihn arbeitet. Betrachte ihre Gesichter; welche Sanftmut, welche Anhänglichkeit an den Menschen, der sie oft unbarmherzig schlägt, welche Gutmütigkeit, welche Zutraulichkeit und welche Schönheit liegt in ihren Gesichtern! Es ist sogar rührend, wenn man bedenkt, daß diese Tiere keine Sünde kennen; denn alles ist vollkommen, alles außer dem Menschen ist frei von Sünden, und mit ihnen ist Christus noch eher als mit uns.« — „Ist Christus wirklich auch bei ihnen?« fragte der junge Mann. „Wie könnte es anders sein?« erwiderte ich ihm. „Ist doch das Wort für alle da. Die ganze Schöpfung und jede Kreatur, jedes Blättchen strebt nach dem Wort, preist Gott, betet weinend zu Christus und vollführt das alles unbewußt, durch das Geheimnis seines sündlosen Lebens … Dort im Wald«, fügte ich hinzu, „haust ein furchtbarer Bär. Er ist ein grausames, wildes Tier und trägt dennoch keine Schuld daran.« Und ich erzählte ihm, wie ein Bär einmal zu einem großen Heiligen kam, der in einer kleinen Zelle im Wald seinem Seelenheil lebte. Der große Heilige erbarmte sich des Tieres, ging furchtlos zu ihm hin und gab ihm ein Stück Brot. „Geh«, sagte er, „Christus sei mit dir!« Und das wilde Tier entfernte sich gehorsam und sanftmütig, ohne ihm etwas getan zu haben … Der junge Mann war ganz ergriffen davon, daß er weggegangen war, ohne dem Eremiten etwas getan zu haben, und daß dieser zu ihm gesagt hatte: „Christus sei mit dir!« — „Wie schön ist das hier«, sagte er, „wie schön und wunderbar ist das Werk Gottes!« Er saß da, in stille, frohe Gedanken versunken. Ich sah, daß er alles verstanden hatte. Und er entschlummerte neben mir und schlief sanft und sündlos. Gott segne die Jugend! Ich selbst aber betete dort für ihn, bevor er einschlief. O Herr, sende deinen Menschen Frieden und Licht!

c) Erinnerungen des Starez Sossima an seine Jugendzeit. Das Duell

In Petersburg, im Kadettenkorps, blieb ich lange, beinahe acht Jahre, und die neue Erziehung überdeckte vieles von den Eindrücken meiner Kindheit, obgleich ich nichts vergaß. Dafür nahm ich so viele neue Gewohnheiten und sogar Ansichten an, daß ich mich fast in ein wildes, grausames und albernes Wesen verwandelte. Die Politur der Höflichkeit und die weltlichen Umgangsformen machte ich mir zugleich mit der französischen Sprache zu eigen; die Soldaten, die uns im Korps bedienten, betrachteten wir jedoch als das reine Vieh — ich ebenfalls. Ich tat das vielleicht noch stärker als die anderen, weil ich unter den Kameraden für alles am empfänglichsten war. Offiziere geworden, waren wir zwar bereit, für die Ehre des Regimentes unser Blut zu vergießen, aber worin die wahre Ehre nun eigentlich bestand, davon hatte fast niemand von uns einen Begriff; und hätte ich es erfahren, hätte ich sicher als erster darüber gelacht. Auf Trunkenheit, Ausschweifungen und Tollkühnheit waren wir geradezu stolz. Ich will nicht sagen, daß wir schlecht waren; alle diese jungen Leute waren gute Kerle. Aber wir benahmen uns gemein, und am gemeinsten von allen ich. Die Hauptsache war, daß ich mein Vermögen besaß; deshalb begann ich mit dem ganzen Ungestüm der Jugend, ohne jede Zurückhaltung, meinem Vergnügen zu leben: Ich fuhr mit vollen Segeln. Doch erstaunlicherweise las ich damals auch Bücher, und sogar mit großem Genuß. Nur die Bibel schlug ich in jener Zeit fast niemals auf, trennte mich jedoch nie von ihr, sondern behielt sie trotz wechselnder Wohnorte immer in meinem Besitz; in Wahrheit bewahrte ich dieses Buch, ohne es selbst zu wissen, für den richtigen Tag und die richtige Stunde auf. Nachdem ich auf diese Weise vier Jahre als Offizier hingebracht hatte, befand ich mich in der Stadt K., wo unser Regiment damals stand. Die Gesellschaft in dieser Stadt war vielfältig, zahlreich, lustig, reich und gastfreundlich, ich wurde überall gut aufgenommen, da ich von Natur ein fröhliches Temperament besaß und außerdem als reich galt, was in der Welt nicht wenig bedeutet. Da geschah etwas, was den Ausgangspunkt für alles Spätere bildete. Ich lernte ein schönes junges Mädchen kennen, klug, liebenswürdig, von heiterem Charakter, Tochter achtbarer Eltern. Sie waren angesehene Leute, die Reichtum und Einfluß besaßen; sie nahmen mich freundlich und freudig auf. Und da schien es mir nun, daß das junge Mädchen mir zugetan war: Dieser Gedanke versetzte mein Herz in Glut. Später freilich merkte ich selbst, daß ich sie vielleicht gar nicht richtig geliebt, sondern mehr ihren Verstand und ihren edlen Charakter verehrt hatte, wie das ja auch nicht anders möglich war. Meine Selbstsucht hinderte mich jedoch daran, ihr damals meine Hand anzutragen; es erschien mir schrecklich, von den Verlockungen des ausschweifenden, freien Junggesellenlebens in so jungen Jahren und noch dazu mit etwas Geld in Händen Abschied zu nehmen. Andeutungen machte ich aber doch. Jedenfalls verschob ich alle entscheidenden Schritte für kurze Zeit. Da wurde ich plötzlich für zwei Monate in einen anderen Kreis abkommandiert. Als ich nach Ablauf der zwei Monate wieder zurückkam, erfuhr ich zu meiner Überraschung, daß das junge Mädchen bereits verheiratet war: mit einem reichen Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft, der zwar älter war als ich, aber eben doch noch jung. Er hatte Beziehungen zur Hauptstadt und zur besten Gesellschaft, was bei mir nicht der Fall war, und er war ein sehr liebenswürdiger und überdies ein sehr gebildeter Mann, während mir jegliche Bildung fehlte. Dieses unerwartete Ereignis erschütterte mich dermaßen, daß sich sogar mein Verstand etwas trübte. Doch was die Hauptsache war: Ich erfuhr, dieser junge Gutsbesitzer war mit ihr schon lange heimlich verlobt gewesen! Ich war ihm zwar oft im Haus ihrer Eltern begegnet, hatte aber, durch meine eigenen Vorzüge verblendet, nichts gemerkt. Das war es nun, was mich besonders kränkte. Wie — fast alle hatten es gewußt, nur ich nicht?! Und mich packte ein unerträglicher Zorn. Mit Schamröte im Gesicht begann ich mir ins Gedächtnis zurückzurufen, wie oft ich ihr beinahe eine Liebeserklärung gemacht hätte. Und da sie mich nie unterbrochen hatte, so folgerte ich nun, mußte sie sich über mich lustig gemacht haben! Später habe ich mir allerdings überlegt und mich erinnert, daß sie sich keineswegs über mich lustig gemacht, sondern solche Gespräche immer von selbst scherzhaft abgebrochen und statt dessen andere begonnen hatte. Damals aber war ich solcher Überlegungen nicht fähig, die Rachsucht glühte in mir. Ich erinnere mich mit Erstaunen, daß diese Rachsucht und mein Zorn mir peinlich und widerwärtig waren, weil ich infolge meines leichtfertigen Charakters gar nicht imstande war, jemandem lange böse zu sein, und daß ich mich deshalb selbst künstlich aufhetzte und schließlich geradezu gemein und albern wurde. Ich wartete nun auf eine Gelegenheit. Eines Tages gelang es mir, meinen „Nebenbuhler« in einer großen Gesellschaft zu beleidigen, und zwar scheinbar aus ganz anderem Grunde: indem ich mich über eine Ansicht lustig machte, die er über ein wichtiges Ereignis jener Zeit, es war im Jahr sechsundzwanzig, geäußert hatte; das tat ich, wie die Leute sagten, recht witzig und geschickt. Darauf zwang ich ihn zu einer Aussprache und bei dieser Aussprache benahm ich mich so grob, daß er meine Forderung zum Duell annahm — trotz des gewaltigen Unterschiedes zwischen uns, denn ich war nicht nur jünger als er, sondern auch ein unbedeutender Mensch von geringem Rang. Später habe ich zuverlässig erfahren, daß auch er meine Forderung aus einem Gefühl der Eifersucht angenommen hatte. Er war auch schon früher ein bißchen eifersüchtig auf mich gewesen, als sie noch seine Braut war; jetzt aber glaubte er, wenn sie erfahren würde, daß er sich von mir hatte beleidigen lassen, ohne mich zum Duell zu fordern, müßte sie ihn verachten und in ihrer Liebe wankend werden. Einen Sekundanten fand ich rasch, einen Leutnant aus, unserem Regiment. Obwohl Duelle damals streng bestraft wurden, waren sie doch beim Militär geradezu Mode, so festgewurzelt sind manchmal veraltete rohe Bräuche. Es war Ende Juni, und unsere Begegnung sollte am folgenden Tage um sieben Uhr morgens vor der Stadt sein. Da passierte mir etwas, was in Wahrheit wie eine Fügung des Schicksals aussah. Als ich am Abend in wütender, widerwärtiger Stimmung nach Hause zurückkehrte, ärgerte ich mich über meinen Burschen Afanassi und schlug ihn mit voller Kraft zweimal ins Gesicht, daß er blutete. Er diente mir schon lange, und es war auch früher schon vorgekommen, daß ich ihn schlug, doch niemals so roh. Werdet ihr es glauben, liebe Freunde? Vierzig Jahre sind seitdem vergangen; trotzdem denke ich auch jetzt nur mit qualvoller Scham daran zurück! Ich legte mich ins Bett und schlief drei Stunden, als ich erwachte, brach der Tag schon an. Ich erhob mich sogleich. Ich mochte nicht mehr schlafen, trat ans Fenster, öffnete es und sah hinaus. Vor meinem Fenster befand sich ein Garten, die Sonne ging warm und schön auf, und die Vögel zwitscherten. ‚Woher‘, dachte ich, ‚kommt bloß dieses ekelhafte, schmähliche Gefühl in meinem Herzen? Kommt es, weil ich hingehe, um, Blut zu vergießen? Nein‘, dachte ich, ‚davon scheint es nicht zu kommen. Oder weil ich mich vor dem Tod fürchte? Mich fürchte, erschossen zu werden? Nein, das ist es auch nicht, das ist es ganz und gar nicht!‘ Und auf einmal wußte ich, woher es kam: weil ich am Abend Afanassi geschlagen hatte! Alles trat mir plötzlich erneut vor Augen, als ob es sich noch einmal wiederholte. Er steht vor mir, und ich schlage ihn, weit ausholend, mitten ins Gesicht. Er hält die Hände an die Hosennaht, den Kopf gerade, die Augen weit geöffnet wie im Glied; bei jedem Schlag fährt er zusammen, wagt aber nicht einmal die Hand zu heben, um sich zu schützen … Ein Mensch hat sich so tief erniedrigt, ein Mensch schlägt einen Menschen! Welch ein Verbrechen! Wie eine spitze Nadel ging es mir durchs Herz! Ich stand wie betäubt da; die Sonne aber leuchtete, die Blätter glänzten fröhlich, und die Vögel, die kleinen Vögel, priesen Gott. Ich bedeckte mein Gesicht mit den Händen, warf mich aufs Bett und brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus. Und da fiel mir mein Bruder Markel ein und die Worte, die er vor seinem Tod zu den Dienstboten gesprochen hatte: „Meine Lieben, Teuren, weswegen dient ihr mir? Weswegen liebt ihr mich? Bin ich es denn wert, daß ihr mir dient?« ‚Ja, bin ich es denn wert?‘ schoß es mir auf einmal durch den Kopf. ‚In der Tat, wodurch bin ich es denn wert, daß ein anderer Mensch, ein Mensch wie ich, nach Gottes Bild geschaffen, mir dient?‘ Diese Frage bohrte damals zum erstenmal in meinem Leben in meinem Gehirn. „Liebe Mutter, du mein Blutströpfchen, wahrlich, ein jeder trägt allen gegenüber an allem Schuld, das wollen die Menschen nur nicht wahrhaben. Doch wenn sie es wahrhaben würden, wäre sofort das Paradies da!« ‚Herrgott‘, dachte ich unter Tränen, das ist ja auch wahr! Ich bin wirklich an den Sünden aller mehr schuld als alle und bin auch schlechter als alle Menschen auf der Welt!‘ Und auf einmal trat mir die ganze Wahrheit in voller Deutlichkeit vor Augen. Was bin ich im Begriff zu tun? Ich gehe hin, um einen guten, verständigen, edeldenkenden Menschen zu töten, der mir nie etwas zuleide getan hat, dessen Gattin ich dadurch für ihr Leben unglücklich mache! So lag ich auf dem Bett, mit dem Gesicht auf dem Kissen, und bemerkte gar nicht, wie die Zeit verging. Auf einmal trat mein Kamerad, der Leutnant, mit den Pistolen herein, um mich abzuholen. „Das ist gut«, sagte er, daß du schon aufgestanden bist. Es ist Zeit, wir wollen gehen!« Ich lief unruhig hin und her und war ganz fassungslos; dann gingen wir hinaus, um in den Wagen zu steigen. „Warte einen Augenblick«, sagte ich. „Ich muß nur schnell noch etwas holen, ich habe etwas vergessen.« Ich lief in die Wohnung zurück, in Afanassis Kammer. „Afanassi«, sagte ich, „ich habe dich gestern zweimal ins Gesicht geschlagen, verzeih mir!« Er fuhr richtig zusammen, als ob er einen Schreck bekäme, und starrte mich an. Ich sah ein, daß das noch zuwenig, viel zuwenig war. Und warf mich, so wie ich war, mit den Epauletten auf den Achseln, ihm zu Füßen. „Verzeih mir!« sagte ich. Da war er nun völlig bestürzt. „Euer Wohlgeboren«, sagte er. „Väterchen, gnädiger Herr, wie können Sie nur … Verdiene ich denn das?« Und plötzlich brach er selbst in Tränen aus, so wie ich vorher, bedeckte das Gesicht mit den Händen und wandte sich zum Fenster; sein ganzer Körper wurde vom Weinen erschüttert. Ich aber eilte zu meinem Kameraden hinaus, sprang in den Wagen und rief: „Vorwärts! Hast du schon einmal einen Sieger gesehen? Hier hast du einen vor dir!« Ich war so voller Begeisterung, daß ich auf dem ganzen Weg lachte und redete und redete, ich weiß nicht mehr, was ich alles redete. Er sah mich an. „Nun, Bruder«, sagte er, „du bist ja ein forscher Kerl. Ich sehe, du wirst der Uniform Ehre machen!« So fuhren wir an den verabredeten Ort. Die anderen waren schon da und erwarteten uns. Man stellte uns zwölf Schritte voneinander entfernt auf. Er hatte den ersten Schuß. Ich stand mit heiterer Miene da, Angesicht in Angesicht, zuckte mit keiner Wimper und blickte ihn gar nicht mehr feindlich an, ich wußte, was ich zu tun hatte. Er schoß, und die Kugel streifte mir nur ein wenig die Backe und das Ohr. „Gott sei Dank!« rief ich. „Sie haben keinen Menschen getötet!« Dann nahm ich meine eigene Pistole, drehte mich um, schleuderte sie in hohem Bogen in den Wald und rief: „Da gehörst du hin!« Darauf wandte ich mich wieder um und sagte zu meinem Gegner: „Mein Herr, verzeihen Sie mir jungem Dummkopf, daß ich Sie durch meine Schuld beleidigt und gezwungen habe, auf mich zu schießen. Ich bin zehnmal schlechter als Sie, und das reicht vielleicht noch lange nicht. Teilen Sie das der Person mit, die Sie über alles in der Welt verehren.« Kaum hatte ich das gesagt, fingen alle drei an durcheinanderzuschreien. „Aber ich bitte Sie!« sagte mein Gegner, richtiggehend zornig geworden. „Wenn Sie sich nicht schlagen wollen, wozu haben Sie mich dann belästigt?« — „Gestern«, antwortete ich ihm fröhlich, „war ich noch dumm. Heute jedoch bin ich verständig geworden.« — „Was Sie von gestern sagen, das glaube ich«, erwiderte er. „Was Sie aber von heute sagen, darin kann ich Ihnen kaum beipflichten.« — „Bravo!« rief ich ihm zu und klatschte dabei in die Hände. „Auch darin bin ich mit Ihnen einverstanden, ich habe es verdient!« — „Werden Sie nun schießen, mein Herr, oder nicht?« — „Nein, ich werde nicht schießen«, sagte ich. „Sie können noch einmal schießen, wenn, Sie wollen. Besser wäre es jedoch für Sie, wenn Sie es nicht täten.« Auch die Sekundanten schrien, besonders meiner: „Das ist eine Schande für das Regiment! Er steht an der Barriere und bittet um Verzeihung! Wenn ich das nur geahnt hätte!« Ich stand da und lachte nicht mehr. „Meine Herren«, sagte ich. „Ist es in unserer Zeit wirklich etwas so Erstaunliches, einen Menschen zu treffen, der seine Dummheit selbst bekennt und öffentlich um Entschuldigung bittet für das, was er selbst verschuldet hat?« — „Aber nicht an der Barriere!« rief mein Sekundant wieder. „Das ist es eben«, antwortete ich ihm. „Das Richtige wäre es gewesen, gleich um Entschuldigung zu bitten, als wir hierherkamen, noch ehe mein Gegner schoß, und ihn nicht zu einer großen Sünde, einer Todsünde zu verleiten. Aber wir selbst haben die Verhältnisse in der Welt so sinnlos gestaltet, daß eine solche Handlungsweise fast unmöglich war. Denn erst jetzt, da ich seinem Schuß auf zwölf Schritt Entfernung standgehalten habe, können meine Worte für ihn eine Bedeutung haben. Hätte ich sie dagegen vor dem Schuß, gleich bei der Ankunft, gesprochen, hätten Sie alle einfach gesagt: Er ist ein Feigling! Er hat Angst vor der Pistole bekommen! Es lohnt nicht, auf ihn zu hören! … Meine Herren!« rief ich plötzlich aus vollem Herzen. „Blicken Sie um sich auf die Gaben Gottes! Der Himmel ist so klar, die Luft so rein, die Gräser so zart, die Vögel und die ganze Natur so schön und sündlos! Nur wir allein sind gottlos und dumm und verstehen nicht, daß das Leben ein Paradies ist. Wir brauchen nämlich nur danach zu streben, das zu verstehen, dann wird das Paradies sogleich in seiner ganzen Schönheit erstehen, und wir werden uns unter Tränen umarmen …« Ich wollte noch mehr sagen, konnte es aber nicht. Der Atem versagte mir; es war mir so froh, so jugendlich zumute, und mein Herz war von einer Glückseligkeit erfüllt, wie ich sie noch nie empfunden hatte. „Das ist alles klug und fromm«, sagte mein Gegner. Jedenfalls sind Sie ein origineller Mensch.« — „Lachen Sie nur über mich«, sagte ich lachend zu ihm. „Später werden Sie mich selbst verstehen.« — „Ich bin bereit, Sie auch jetzt schon zu verstehen«, sagte er. „Erlauben Sie, daß ich Ihnen die Hand reiche. Denn Sie scheinen tatsächlich ein aufrichtiger Mensch zu sein.« — „Nein«, versetzte ich, Jetzt ist dafür nicht die Zeit. Später, wenn ich ein besserer Mensch geworden bin und Ihre Achtung verdiene, dann reichen Sie mir bitte die Hand, dann werden Sie damit etwas Gutes tun.« Wir kehrten nach Hause zurück. Mein Sekundant schimpfte während der ganzen Fahrt, ich aber umarmte ihn. Von dem Vorgang erfuhren alle Kameraden sofort, und sie versammelten sich noch an demselben Tag, um über mich Gericht zu halten. „Er hat die Uniform beschmutzt!« hieß es. „Er soll seinen Abschied einreichen!« Es fehlte allerdings auch nicht an Verteidigern. „Er hat aber doch dem Schuß standgehalten«, sagten sie. Ja«, wurde entgegnet, „aber er hat vor weiteren Schüssen Angst gehabt und an der Barriere um Verzeihung gebeten.« — „Hätte er vor den Schüssen Angst gehabt«, entgegneten meine Verteidiger, „hätte er erst seine eigene Pistole abgefeuert, bevor er um Verzeihung bat! Er hat sie aber, noch geladen, in den Wald geworfen! Nein, hier liegt etwas anderes vor, etwas Originelles.« Ich hörte zu, und mir war vergnüglich zumute, während ich sie so ansah. „Meine lieben Freunde und Kameraden«, sagte ich, „beunruhigt euch nicht darüber, daß ich meinen Abschied einreichen soll, das habe ich bereits getan. Ich habe ihn schon heute vormittag auf dem Regimentsbüro eingereicht. Und sobald ich meinen Abschied erhalte, werde ich in ein Kloster geben. Zu diesem Zweck und keinem anderen reiche ich ihn ein.« Sowie ich das gesagt hatte, brachen sie allesamt in ein lautes Gelächter aus. „Das hättest du uns gleich sagen sollen! Na, jetzt ist ja alles klar, über einen Mönch können wir nicht zu Gericht sitzen!« So sprachen sie lachend und konnten sich gar nicht beruhigen. Sie lachten aber nicht spöttisch, sondern freundlich und heiter; alle hatten mich auf einmal liebgewonnen, sogar meine heftigsten Ankläger, und danach trugen sie mich den Monat bis zu meinem Abschied geradezu auf Händen. „Ach du Mönch!« sagten sie. Und jeder hatte für mich ein freundliches Wort. Sie versuchten auch, mir meinen Plan auszureden, bedauerten mich sogar. „Was tust du dir bloß an?« — „Nein«, sagten andere, „er ist ein tapferer Kerl. Er hat dem Schuß standgehalten und hätte aus seiner Pistole schießen können. Er hat aber in der vorhergehenden Nacht geträumt, er soll Mönch werden, daher hat er so gehandelt.« Fast ebenso stellte sich die Gesellschaft in der Stadt zu der Angelegenheit. Früher hatte man mich nicht sonderlich beachtet, sondern mich nur gern aufgenommen. Doch jetzt wetteiferten auf einmal alle, mich kennenzulernen und zu sich einzuladen; sie lachten zwar über mich, mochten mich aber. Es sei hier vermerkt, daß die Vorgesetzten die Sache ignorierten, obgleich von unserem Duell damals alle ungeniert sprachen. Mein Gegner war mit unserem General verwandt, und da die Sache wie ein Scherz ohne, Blutvergießen abgelaufen war und ich außerdem ein Abschiedsgesuch eingereicht hatte, taten sie, als sähen sie die Sache wirklich als einen Scherz an. Ich gewöhnte mir damals an, laut und furchtlos zu reden, trotz des Lachens der Leute; dieses Lachen war nämlich nie boshaft, sondern gutmütig. Die Gespräche fanden größtenteils abends in Damengesellschaft statt. Die Frauen hörten mich besonders gern reden und brachten dann auch die Männer dahin. „Wie ist das möglich, daß ich an den Sünden aller schuld sein soll?« sagten sie und lachten mir ins Gesicht. „Kann ich denn zum Beispiel auch an Ihren Sünden schuld sein?« — „Wie sollten Sie das verstehen«, antwortete ich, „wo doch die ganze Welt längst auf eine falsche Bahn geraten ist und wir eine eindeutige Lüge für die Wahrheit halten und auch von anderen ebensolche Unwahrheit verlangen? Da habe ich es nun ein einziges Mal im Leben unternommen, aufrichtig vorzugehen — und was ist die Folge? Sie betrachten mich alle als einen religiösen Irren. Sie haben mich zwar gern, machen sich aber über mich lustig.« — „Wie sollte man auch einen Menschen wie Sie nicht gern haben?« sagte die Gastgeberin laut und lachte dabei. Auf einmal sah ich, wie sich aus dem großen Kreis der Damen eben jene junge Frau erhob, die ich noch vor kurzem zur Braut erkoren und um derentwillen ich das Duell herbeigeführt hatte. Ich hatte bis dahin gar nicht bemerkt, daß auch sie zu dieser Abendgesellschaft gekommen war. Sie trat zu mir, reichte mir die Hand und sagte: „Gestatten Sie mir, Ihnen als erste zu erklären, daß ich nicht über Sie lache, sondern Ihnen unter Tränen danke und Ihnen für Ihr damaliges Verhalten meine Hochachtung ausspreche.« Darauf trat auch ihr Mann hinzu, und nach ihm alle anderen, und es fehlte nicht viel, daß sie mich geküßt hätten; mir wurde ganz fröhlich zumute. Am meisten fiel mir dabei ein älterer Herr auf, der ebenfalls zu mir getreten war. Ich kannte ihn zwar schon dem Namen nach, hatte ihn aber niemals näher kennengelernt und vor diesem Abend noch kein Wort mit ihm gesprochen.

d) Der geheimnisvolle Besucher

Er wohnte schon lange in unserer Stadt und hatte eine bedeutende Stellung als Beamter inne. Er war allgemein geachtet, reich und durch seine Wohltätigkeit bekannt; er hatte eine beträchtliche Summe für das Armenhaus und die Waisenanstalt gespendet und tat außerdem heimlich, ohne davon zu reden, viel Gutes, was erst nach seinem Tod an die Öffentlichkeit kam. Er war etwa fünfzig, hatte ein beinahe strenges Gesicht und war wortkarg. Verheiratet war er erst seit zehn Jahren mit einer jungen Frau, mit der er drei kleine Kinder hatte. Einen Tag nach jener Gesellschaft saß ich abends bei mir zu Hause, als sich auf einmal die Tür öffnete und dieser Herr hereintrat.

Ich muß bemerken, daß ich damals nicht mehr in meiner früheren Wohnung wohnte; sowie ich meinen Abschied eingereicht hatte, war ich umgezogen und hatte mir bei einer alten Beamtenwitwe eine Wohnung mit Bedienung gemietet. Den Umzug hatte ich nur deshalb vorgenommen, weil ich Afanassi noch an dem Tag, als ich von dem Duell zurückkam, zur Kompanie zurückgeschickt hatte. Ich schämte mich nämlich, ihm nach allem, was zwischen uns vorgefallen war, in die Augen zu sehen — so sehr neigt ein grüner Weltmann mitunter dazu, sich sogar seiner gerechtesten Taten zu schämen!

„Ich habe Ihnen schon mehrere Tage lang in verschiedenen Häusern mit großem Interesse zugehört«, sagte der Herr. „Und es ist bei mir der Wunsch aufgetaucht, Sie endlich persönlich kennenzulernen, um mit Ihnen noch eingehender sprechen zu können. Wollen Sie mir diesen großen Gefallen erweisen, mein Herr?« — „Mit dem größten Vergnügen«, erwiderte ich. „Und ich rechne es mir zur besonderen Ehre an.« Ich hatte jedoch in Wahrheit einen ordentlichen Schreck bekommen — so einen starken Eindruck machte er damals auf mich. Denn obgleich mir die Leute gewöhnlich aufmerksam zuhörten und mich neugierig betrachteten, hatte sich mir noch nie jemand mit so ernster, strenger, nachdenklicher Miene genähert. Und er kam sogar selbst zu mir in die Wohnung.

Er setzte sich. „Ich nehme an Ihnen große Charakterstärke wahr«, fuhr er fort, denn Sie haben sich nicht gescheut, der Wahrheit in einem Falle zu dienen, wo Sie Gefahr liefen, sich für Ihre Wahrheitsliebe die allgemeine Verachtung zuzuziehen.«

„Sie loben mich vielleicht übermäßig«, erwiderte ich.

„Nicht doch, nicht übermäßig«, versetzte er. „Glauben Sie mir, so einen Schritt zu tun ist weit schwerer, als Sie denken. Nur das ist es eigentlich, was mir imponiert hat, und deswegen bin ich zu Ihnen gekommen. Beschreiben Sie mir, wenn Ihnen meine vielleicht ungebührliche Neugier nicht lästig ist und falls Sie sich noch erinnern, was Sie in dem Augenblick empfunden haben, als Sie sich bei dem Zweikampf entschlossen, um Verzeihung zu bitten. Halten Sie meine Frage nicht für leichtfertig. Ich habe vielmehr, wenn ich eine solche Frage stelle, eine geheime Absicht, die ich Ihnen später wohl noch erklären werde — wenn es Gott gefallen sollte, uns einander näherzubringen.«

Während er sprach, hatte ich ihm die ganze Zeit in die Augen gesehen, und plötzlich empfand ich zu ihm das größte Vertrauen und außerdem eine ungewöhnliche Wißbegier: Ich fühlte, daß in seiner Seele ein besonderes Geheimnis verborgen sein mußte.

„Sie fragen, was ich in dem Augenblick empfunden habe, als ich meinen Gegner um Verzeihung bat«, antwortete ich. „Ich will Ihnen aber lieber von Anfang an erzählen, was ich anderen noch nicht erzählt habe.« Und ich berichtete ihm alles, was zwischen mir und Afanassi vorgefallen war.

„Daraus können Sie selbst ersehen«, schloß ich, „daß mir die Bitte um Verzeihung beim Duell bereits leichter wurde, da ich ja schon zu Hause einen Anfang gemacht hatte. Nachdem ich diesen Weg einmal betreten hatte, konnte ich alles Weitere nicht nur ohne Schwierigkeit, sondern sogar freudig und heiter tun!«

Er hatte aufmerksam zugehört und sah mich nun freundlich an.

„Alles das ist außerordentlich interessant«, sagte er. „Und ich werde noch oft zu Ihnen kommen.«

Seitdem besuchte er mich fast jeden Abend. Und wir wären die besten Freunde geworden, wenn er auch über sich selbst gesprochen hätte. Doch über sich redete er fast kein Wort, er fragte mich nur immer über mich aus. Trotzdem schloß ich ihn ins Herz und teilte ihm vertrauensvoll alle meine Empfindungen mit, weil ich mir sagte: ‚Wozu muß ich seine Geheimnisse wissen? Ich sehe auch ohne das, daß er ein braver Mensch ist. Außerdem ist er ein sehr ernsthafter Mensch und mir an Jahren weit voraus, und trotzdem kommt er zu mir und verachtet mich nicht.‘ Ich habe von ihm viel Nützliches gelernt, denn er besaß einen vortrefflichen Verstand.

„Daß das Leben ein Paradies ist«, sagte er einmal zu mir, daran habe ich schon lange gedacht.« Und fügte plötzlich hinzu: „Ich denke ja nur daran.« Er sah mich an und lächelte. „Ich bin fester davon überzeugt als Sie selbst«, sagte er. Sie werden später erfahren, weshalb.«

Ich hörte das und dachte: ‚Er will mir gewiß etwas gestehen.‘

„Das Paradies«, sagte er, „liegt in jedem von uns verborgen. Auch in mir verbirgt es sich jetzt, und wenn ich will, wird es gleich morgen in mir erstehen, und zwar für mein ganzes Leben.«

Ich schaute ihn an: Er sprach mit tiefer Rührung und blickte mir geheimnisvoll ins Gesicht, als ob er mich etwas fragen wollte.

„Darüber aber«, fuhr er fort, daß jeder Mensch neben seinen eigenen Sünden an den Sünden aller Menschen schuld ist, darüber urteilen Sie vollkommen richtig, und es ist erstaunlich, wie Sie diesen Gedanken auf einmal in seinem vollen Umfang haben erfassen können. Es ist tatsächlich richtig, daß, sowie die Menschen diesen Gedanken begriffen haben, das Himmelreich für sie beginnen wird, und nicht mehr in sehnsüchtiger Hoffnung, sondern in Wirklichkeit.«

„Aber wann«, rief ich traurig, „wann wird das geschehen? Und wird es überhaupt jemals geschehen? Ist das nicht nur ein schöner Traum?«

„Aber das glauben Sie ja selbst nicht!« erwiderte er. „Sie predigen — und glauben selbst nicht! Seien Sie überzeugt, daß dieser schöne Traum, wie Sie es nennen, unzweifelhaft in Erfüllung gehen wird, glauben Sie das! Nur wird es nicht jetzt gleich geschehen, denn jedes Geschehen hat sein Gesetz. Das ist ein geistiger, ein psychologischer Prozeß. Um der Welt eine neue Gestalt zu geben, müssen die Menschen selbst seelisch einen anderen Weg einschlagen. Ehe nicht jeder wirklich jedem ein Bruder wird, tritt der Zustand der allgemeinen Verbrüderung nicht ein. Durch keine Wissenschaft und durch keinen für die Gemeinsamkeit verheißenen Vorteil werden sich die Menschen dahin bringen lassen, ihr Eigentum und ihre Rechte gleichmäßig untereinander zu verteilen, ohne daß jemand benachteiligt wird. Jeder wird glauben, zuwenig erhalten zu haben, und immer werden sie murren und einander beneiden und vernichten. Sie fragen, wann der glückselige Zustand eintreten wird? Er wird eintreten, doch erst muß die Periode der menschlichen Isolierung ihren Abschluß finden.«

„Welcher Isolierung?« fragte ich.

„Derjenigen«, antwortete er, „die jetzt überall herrscht, besonders in unserem Jahrhundert. Sie hat noch nicht ihren Abschluß gefunden, die Zeit dafür ist noch nicht gekommen. Denn jeder strebt danach, seine Persönlichkeit so stark wie möglich abzusondern; er möchte an sich selbst die Fülle des Lebens erfahren. Dabei ist das Resultat aller seiner Anstrengungen statt der Fülle des Lebens nur völliger Selbstmord, denn statt sein Wesen allseitig zu entfalten, verfällt man in totale Isolierung. Denn in unserem Jahrhundert sondern sich alle als Einzelwesen ab; jeder isoliert sich in seiner Höhle; jeder entfernt sich von dem anderen, verbirgt sich und sein Besitztum — und das Ende ist schließlich, daß er selbst von den Menschen zurückgestoßen wird und selbst die Menschen zurückstößt. Er sammelt in seiner Isolierung Reichtum und denkt: ‚Wie stark bin ich jetzt und wie gesichert!‘ Aber er weiß nicht, der Tor, daß er immer mehr in eine selbstmörderische Schwachheit versinkt, je mehr er sammelt. Denn er hat sich daran gewöhnt, nur auf sich zu hoffen, und hat sich vom Ganzen abgesondert, hat seine Seele daran gewöhnt, nicht mehr an menschliche Hilfe zu glauben, weder an die Menschen noch an die Menschheit. Und er zittert nur, daß sein Geld und die Rechte, die er sich erworben hat, verlorengehen könnten. Allerorten verkennt jetzt der menschliche Verstand in geradezu lächerlicher Weise, daß die wahre Sicherheit des Individuums nicht in der persönlichen Isolierung seiner Anstrengungen, sondern im allgemeinen Zusammenschluß der Menschheit besteht. Doch es wird unzweifelhaft dahin kommen, daß auch diese furchtbare Isolierung ihr Ende findet und alle mit einem Male begreifen, wie unnatürlich sie sich voneinander abgesondert haben. Eine solche Zeitströmung wird kommen, und sie werden sich darüber wundern, daß sie so lange im Dunkeln gesessen und das Licht nicht gesehen haben. Dann wird auch das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen … Aber bis dahin muß doch das Banner bewahrt werden. Und ab und zu muß wenigstens ein einzelner ein gutes Beispiel geben und die Seele aus der Isolierung zur Großtat der allgemeinen Bruderliebe hinführen, mag er auch deswegen als ein frommer Narr gelten. Das muß geschehen, damit der große Gedanke nicht stirbt!«

In solchen flammenden Gesprächen verbrachten wir unsere Abende, einen nach dem anderen. Ich ging auch nicht mehr in Gesellschaften und machte viel weniger Besuche als früher, zumal ich auch schon allmählich aus der Mode kam. Ich sage das nicht, um die Menschen zu tadeln, denn sie mochten mich weiterhin und waren freundlich zu mir. Daß aber die Mode tatsächlich eine große Herrscherin in der Welt ist, muß doch zugegeben werden. Auf meinen geheimnisvollen Besucher begann ich mich schließlich richtig zu freuen. Abgesehen von dem Genuß, den mir sein Verstand bereitete, ahnte ich nämlich mittlerweile, daß er in seinem Innern eine bestimmte Absicht hegte und sich vielleicht auf eine große Tat vorbereitete. Vielleicht gefiel ihm an mir auch, daß ich äußerlich keine Neugier nach seinem Geheimnis bekundete, weder durch Fragen noch durch Andeutungen. Aber ich merkte schließlich, daß er sich selbst schon mit dem Wunsch quälte, mir etwas zu gestehen. Zumindest deutete sich das an, nachdem er mich etwa einen Monat lang besucht hatte. „Wissen Sie«, fragte er mich einmal, „daß sich die Leute in der Stadt sehr für uns beide interessieren und sich darüber wundern, daß ich so oft zu Ihnen komme? Nun, sollen sie sich wundern, bald wird alles klarwerden!«

Mitunter befiel ihn eine außerordentliche Erregung, und fast immer stand er in solchen Fällen auf und ging. Manchmal sah er mich lange und gleichsam prüfend an, so daß ich dachte: ‚Jetzt wird er mir gleich etwas sagen!‘ Doch dann brach er ab und begann von etwas Belanglosem zu sprechen. Häufig klagte er auch über Kopfschmerzen. Und einmal, als ich es gar nicht erwartet hatte — er hatte lange und voll Begeisterung gesprochen —, sah ich, wie er plötzlich blaß wurde. Sein Gesicht verzerrte sich, und er starrte mich unverwandt an.

„Was haben Sie?« fragte ich. „Ist Ihnen nicht wohl?« Er hatte gerade vorher über Kopfschmerzen geklagt. „Ich, wissen Sie … ich … ich habe einen Menschen ermordet.« Nach diesen Worten lächelte er, aber er war kreidebleich. Warum lächelt er? Diese Frage durchbohrte mir plötzlich das Herz, ehe ich etwas begriffen hatte. Ich war selber blaß geworden.

„Was sagen Sie da?« rief ich.

„Sehen Sie«, antwortete er, noch immer mit dem blassen Lächeln, „wie schwer es mir geworden ist, das erste Wort zu sagen. Jetzt habe ich es gesagt, und ich glaube, ich bin auf den richtigen Weg gekommen. Ich werde ihn weitergehen!«

Lange glaubte ich ihm nicht. Und auch dann glaubte ich ihm nicht gleich, sondern erst, nachdem er drei Tage hintereinander zu mir gekommen war und alles ausführlich erzählt hatte. Ich hielt ihn zunächst für geistesgestört; schließlich mußte ich mich aber doch betrübt und erstaunt von der Richtigkeit seiner Selbstbezichtigung überzeugen.

Er hätte vor vierzehn Jahren ein großes, furchtbares Verbrechen an einer reichen, schönen jungen Frau begangen, der Witwe eines Gutsbesitzers, die in unserer Stadt ein eigenes Haus besaß, in dem sie gelegentlich wohnte. Von heftiger Liebe zu ihr ergriffen, machte er ihr eine Liebeserklärung und suchte sie zu einer Heirat zu überreden. Aber sie hatte ihr Herz bereits einem anderen geschenkt, einem vornehmen hohen Offizier, der damals im Felde stand, den sie jedoch bald zurückerwartete. Sie lehnte den Antrag des neuen Bewerbers ab und bat ihn, nicht mehr zu ihr zu kommen. Er stellte seine Besuche auch wirklich ein, aber da er die Einrichtung ihres Hauses kannte, drang er eines Nachts vom Garten aus über das Dach bei ihr ein — ein überaus dreistes Unternehmen, bei dem er sehr leicht hätte ertappt werden können. Indes gelingen erfahrungsgemäß gerade die ungewöhnlich dreisten Verbrechen häufiger als andere. Nachdem er durch ein Dachfenster in den Dachboden eingedrungen war, stieg er auf einer kleinen Treppe zu den Wohnzimmern hinunter, da er wußte, daß die Tür am Ende der Treppe durch die Nachlässigkeit der Diener nicht immer verschlossen war. Er rechnete auch diesmal damit — und sollte recht behalten. In die Wohnzimmer gelangt, ging er im Dunkeln in ihr Schlafzimmer, wo ein Lämpchen vor dem Heiligenbild brannte. Und zufällig mußten auch gerade die beiden Stubenmädchen heimlich, ohne Urlaub, zu einer Namenstagsfeier in der Nachbarschaft, in derselben Straße, gegangen sein. Die übrigen Diener und Mägde schliefen in den Gesindestuben und in der Küche im unteren Stockwerk. Beim Anblick der Schlafenden loderte in ihm zuerst die Leidenschaft auf, dann aber bemächtigte sich seiner eine wütende Eifersucht, und unbewußt, wie ein Trunkener, trat er heran und stieß ihr das Messer ins Herz, so daß sie nicht einmal schrie. Danach richtete er es mit teuflischer Berechnung ein, daß der Verdacht auf die Dienerschaft fallen mußte. Er schämte sich nicht, die Geldbörse der Ermordeten einzustecken, öffnete mit den Schlüsseln, die er unter ihrem Kopfkissen hervorholte, ihre Kommode und entnahm ihr mehrere Dinge — genauso, als ob es ein ungebildeter Diener getan hätte, das heißt, er ließ die Wertpapiere liegen und nahm nur das Geld und einige größere Goldsachen, während er die viel wertvolleren kleineren Stücke verschmähte. Er nahm auch noch etwas zum Andenken an sich, aber davon später. Nachdem er diese furchtbare Tat ausgeführt hatte, verließ er das Haus, wie er gekommen war. Weder am folgenden Tag, als das Verbrechen entdeckt wurde, noch jemals später war es jemandem in den Sinn gekommen, den wirklichen Täter auch nur zu verdächtigen. Auch von seiner Liebe zu ihr hatte niemand gewußt, denn er war von jeher schweigsam und wenig mitteilsam gewesen, und einen Freund, dem er sein Inneres entdeckt hätte, besaß er nicht. Man hielt ihn einfach für einen Bekannten der Ermordeten, und zwar nicht einmal für einen nahen Bekannten, denn in den letzten zwei Wochen hatte er sie gar nicht besucht. Dagegen verdächtigte man sofort ihren leibeigenen Diener Pjotr, und zufällig kamen alle Umstände zusammen, diesen Verdacht zu bestätigen. Denn die Verstorbene hatte ihm nicht verheimlicht, daß sie, verpflichtet, von ihren Bauern einen Rekruten zu stellen, ihn zu den Soldaten geben wollte; er stand allein und führte sich außerdem ziemlich übel auf. Man hatte gehört, wie er in betrunkenem Zustand in einer Schenke gedroht hatte, sie zu ermorden. Zwei Tage vor ihrem Tod war er geflohen und hatte sich irgendwo in der Stadt aufgehalten. Einen Tag nach dem Mord fand man ihn auf der Landstraße am Stadtrand besinnungslos betrunken; in der Tasche hatte er sein Messer, und obendrein war seine rechte Hand noch blutbefleckt. Er beteuerte, das stamme aus seiner Nase, doch man glaubte ihm nicht. Die Stubenmädchen gestanden, daß sie bei einer Namenstagsfeier gewesen waren und daß die Haustür bis zu ihrer Rückkehr unverschlossen geblieben war. Auch sonst fanden sich noch eine Menge ähnlicher Indizien, auf Grund derer man den schuldlosen Diener festnahm. Die Untersuchung begann; nach einer Woche erkrankte der Verhaftete jedoch an einem schweren Fieber und starb bewußtlos im Krankenhaus. Damit endete der Prozeß. Man überließ das Weitere dem Willen Gottes und alle, Richter, Obrigkeit und Publikum, blieben der Überzeugung, daß kein anderer als der verstorbene Diener das Verbrechen begangen habe. Aber danach begann die Strafe.

Der geheimnisvolle Besucher, der inzwischen schon mein Freund geworden war, gab zu, daß er anfangs überhaupt nicht von Gewissensbissen gequält wurde. Qualen mußte er zwar lange Zeit erdulden, doch nicht infolge von Gewissensbissen, sondern aus Schmerz darüber, daß er die geliebte Frau getötet hatte, daß sie nun nicht mehr auf der Welt war, daß er durch ihre Ermordung seine Liebe getötet hatte, während das Feuer der Leidenschaft in ihm verblieben war. Über das unschuldig vergossene Blut, über die Ermordung eines Menschen dachte er damals fast gar nicht nach. Der Gedanke, daß sie die Frau eines anderen hätte werden können, erschien ihm unerträglich, daher war er lange Zeit ehrlich davon überzeugt, daß er anders nicht hatte handeln können. Die Verhaftung des Dieners verursachte ihm anfangs ein gewisses Unbehagen, aber die Krankheit und dann der Tod des Inhaftierten beruhigten ihn wieder; denn dieser war zweifellos nicht infolge der Verhaftung oder der Angst gestorben, so urteilte er damals, sondern an einer Krankheit, die er sich bei seiner Flucht zugezogen hatte, als er sinnlos betrunken die ganze Nacht auf der feuchten Erde gelegen und sich erkältet hatte. Wegen des Diebstahls der Schmucksachen und des Geldes machte er sich wenig Vorwürfe. Diesen Diebstahl, so rechtfertigte er sich, hatte er ja nicht aus Eigennutz begangen, sondern um den Verdacht abzulenken. Der Wert des Gestohlenen war unbedeutend, und er spendete auch bald die ganze Summe und sogar weit mehr für das Armenhaus in unserer Stadt. Er tat dies absichtlich, um sein Gewissen wegen des Diebstahls zu beruhigen, und bemerkenswerterweise erreichte er für lange Zeit diesen Zweck wirklich, das hat er mir selbst gesagt. Er stürzte sich damals in eine umfangreiche dienstliche Tätigkeit, drängte sich selbst nach einem mühevollen, schweren Auftrag, der ihn etwa zwei Jahre lang beschäftigte. Und da er einen starken Charakter hatte, vergaß er das Vergangene beinahe; und wenn es ihm wieder einmal ins Gedächtnis kam, bemühte er sich, nicht daran zu denken. Er widmete sich auch der Wohltätigkeit, rief auf diesem Gebiet in unserer Stadt manche nützliche Einrichtung ins Leben, für die er viel Geld aufwendete, machte sich auch in Moskau und Petersburg bekannt und wurde dort zum Mitglied von Wohltätigkeitsvereinen gewählt. Und doch machte ihn die Qual, die über seine Kräfte ging, schließlich melancholisch. Da gefiel ihm ein schönes, kluges junges Mädchen, und er heiratete sie in der Hoffnung, er könnte durch das Eheleben seinen inneren Kummer vertreiben und sich von den alten Erinnerungen lösen, indem er einen neuen Weg einschlug und eifrig seine Pflicht gegenüber seiner Frau und seinen Kindern erfüllte. Es geschah genau das Gegenteil von dem, was er erwartet hatte. Schon im ersten Monat seiner Ehe begann ihn der Gedanke zu peinigen: ‚Da liebt mich nun meine Frau, doch wenn sie es erführe — was dann?‘ Als sie sich zum erstenmal schwanger fühlte und ihm das mitteilte, erregte ihn sofort der Gedanke: ‚Ich gebe einem Kind das Leben und habe doch selber jemand das Leben genommen!‘ Und als ihm Kinder geboren waren, sagte er sich: ‚Wie darf ich sie lieben, lehren und erziehen, wie soll ich mit ihnen über die Tugend reden? Ich habe Blut vergossen!‘ Die Kinder wuchsen prächtig heran, er wollte sie gern liebkosen. ‚Ich kann ihnen aber nicht in die unschuldigen Gesichter sehen‘, sagte er sich. ‚Ich bin dessen nicht würdig.‘ Zuletzt flimmerten ihm furchtbare Bilder vor den Augen: das Blut des ermordeten Opfers, das vernichtete junge Leben, das nach Rache schreiende Blut. Er hatte marternde Träume. Da er jedoch ein festes Herz besaß, ertrug er diese Qualen lange. ‚Ich werde alles durch diese Qualen sühnen!‘ sagte er sich. Aber auch diese Hoffnung erwies sich als nichtig: Sein Leiden wurde immer stärker. In der Gesellschaft begann man ihn wegen seiner Wohltätigkeit zu achten, obwohl alle vor seinem strengen, finsteren Wesen Scheu empfanden. Doch je mehr man ihn achtete, desto unerträglicher wurde es ihm. Er gestand mir, daß er schon daran gedacht hatte, sich das Leben zu nehmen. Aber statt dessen tauchte in seinem Kopf ein anderer Gedanke auf, ein Gedanke, den er zuerst für unmöglich und sinnlos hielt, der aber schließlich in ihm so feste Wurzeln schlug, daß er ihn nicht mehr loswerden konnte. Sein Plan war dieser: aufzustehen und vor aller Öffentlichkeit zu erklären, daß er einen Menschen ermordet hatte. Drei Jahre trug er sich mit diesem Gedanken, der ihm bald in diesem, bald in jenem Licht erschien. Zuletzt rang er sich in seinem tiefsten Innern zu der Überzeugung durch, er könnte durch das Eingeständnis des Verbrechens seine Seele heilen und ein für allemal zur Ruhe gelangen. Doch trotz dieser Überzeugung war sein Herz von großer Angst erfüllt, denn wie sollte er seinen Plan ausführen? Und da ereignete sich auf einmal der bewußte Vorfall bei meinem Duell.

„Unter dem Eindruck Ihres Auftretens habe ich jetzt meinen Entschluß gefaßt!« sagte er zu mir.

Ich sah ihn an, schlug die Hände zusammen.

„Konnte so ein unbedeutender Vorfall denn wirklich einen solchen Entschluß bei Ihnen entstehen lassen?« rief ich aus.

„Mein Entschluß ist drei Jahre lang im Entstehen gewesen« antwortete er. „Ihre Handlungsweise hat nur den letzten Anstoß gegeben. Sie anschauend, machte ich mir selbst Vorwürfe und beneidete Sie«, sagte er, und seine Stimme klang dabei fast drohend.

„Aber man wird Ihnen nicht einmal glauben«, wandte ich ein. „Vierzehn Jahre sind seitdem vergangen.«

„Ich habe Beweise, entscheidende Beweise. Die werde ich vorlegen.«

Da mußte ich weinen und umarmte ihn.

„Nur über einen Punkt geben Sie bitte Ihr entscheidendes Urteil ab. Über einen Punkt!« sagte er zu mir, als ob jetzt alles von mir abhinge. „Meine Frau, meine Kinder! Meine Frau wird vielleicht vor Kummer sterben, und meine Kinder sind dann lebenslänglich die Kinder eines Sträflings, selbst wenn sie den Adel und ihr Vermögen nicht verlieren. Und was für ein Andenken hinterlasse ich in ihren Herzen, was für ein Andenken!«

Ich schwieg.

„Wie soll ich mich von ihnen trennen, sie für das ganze Leben verlassen! Für das ganze Leben, für das ganze Leben!«

Ich saß da und flüsterte still für mich ein Gebet. Dann stand ich auf, mir war schrecklich zumute.

„Nun«, fragte er und sah mich gespannt an.

„Gehen Sie hin«, sagte ich, „und bekennen Sie es den Menschen! Alles wird vorübergehen, nur die Wahrheit wird bestehenbleiben. Wenn Ihre Kinder herangewachsen sind, werden sie verstehen, wieviel Hochherzigkeit in Ihrem großen Entschluß gelegen hat.«

Er verließ mich damals, anscheinend fest entschlossen. Doch über zwei Wochen kam er Abend für Abend weiterhin zu mir; immer bereitete er sich noch vor, immer konnte er sich noch nicht entschließen. Mein Herz wurde von diesem Anblick ganz bedrückt.

So kam er einmal mit entschlossener Miene und sagte ergriffen: „Ich weiß, daß für mich das Paradies anbrechen wird, sowie ich nur mein Verbrechen gestanden habe. Vierzehn Jahre habe ich in der Hölle zugebracht. Ich will leiden. Ich werde das Leid auf mich nehmen und erst dadurch wahrhaft zu leben anfangen. Mit der Unwahrheit kann man durch die ganze Welt wandern, aber nicht zurückkehren, sagt das Sprichwort. Jetzt darf ich meinen Nächsten nicht lieben, nicht einmal meine eigenen Kinder. O Gott, vielleicht werden gerade meine Kinder einst begreifen, wie schwer mein Leid gewesen ist, und mich nicht verdammen! Gott ist nicht mit den Starken, sondern mit den Aufrichtigen!«

„Alle werden für Ihre mutige Tat Verständnis haben«, sagte ich zu ihm. „Wenn nicht gleich, so doch später. Denn Sie haben der Wahrheit gedient, der höchsten, himmlischen Wahrheit …«

Und wieder ging er scheinbar getröstet von mir. Aber am folgenden Tag erschien er wieder mit gereiztem, blassem Gesicht und redete in spöttischem Ton: „Jedesmal, wenn ich zu Ihnen komme, sehen Sie mich neugierig an, als ob Sie mich fragen wollten: Hat er sich immer noch nicht entschlossen? Immer noch nicht gestellt? So warten Sie doch noch ein Weilchen, und verachten Sie mich nicht allzusehr! Das ist nicht so leicht auszuführen, wie Sie denken. Vielleicht tue ich es überhaupt noch nicht. Werden Sie mich dann denunzieren, wie?«

Dabei wagte ich ihn mitunter gar nicht anzusehen, geschweige denn mit dummer Neugier. Ich war so zerquält, daß ich beinah krank wurde; nicht einmal nachts konnte ich mehr schlafen.

„Ich komme eben von meiner Frau«, fuhr er fort. „Verstehen Sie überhaupt, was das heißt: eine Frau haben? Als ich wegging, riefen mir die Kinderchen zu: ‚Adieu, Papa, kommen Sie recht bald wieder und lesen Sie uns etwas Schönes vor!‘ Nein, Sie haben dafür kein Verständnis! Wer könnte auch fremdes Leid nachfühlen!«

Seine Augen funkelten, seine Lippen zuckten. Auf einmal schlug er mit der Faust so heftig auf den Tisch, daß die darauf befindlichen Gegenstände in die Höhe sprangen — es war das erste Mal, daß dieser sanfte Mensch sich vor mir so gehenließ.

„Ist das alles denn überhaupt nötig?« rief er. „Muß es denn sein? Es ist ja niemand verurteilt worden. Niemand wurde um meinetwillen zur Zwangsarbeit nach Sibirien geschickt. Der Diener ist an einer Krankheit gestorben. Und für das vergossene Blut habe ich durch meine Qualen genug gebüßt. Und man würde mir auch gar nicht glauben, keinen meiner Beweise wird man gelten lassen. Ist es nötig, daß ich mich stelle, wirklich nötig? Ich bin bereit, mich zur Strafe für das vergossene Blut noch mein ganzes restliches Leben zu quälen, nur um nicht meine Frau und meine Kinder zugrunde zu richten. Wäre das gerecht, wenn ich sie mit ins Verderben ziehe? Irren wir uns da nicht? Wo ist da Recht und Gerechtigkeit? Würden die Menschen meine Wahrheitsliebe überhaupt anerkennen, schätzen, ehren?«

‚O Gott‘, dachte ich bei mir, ‚in so einem Augenblick denkt er noch an die Achtung der Menschen!‘ Und er tat mir so leid, daß ich gern sein Los mit ihm geteilt hätte, wenn ich es ihm dadurch hätte erleichtern können. Ich sah, daß er überaus erregt war, und war zutiefst erschrocken, weil ich nicht mehr allein mit dem Verstand, sondern mit der lebendigen Seele begriff, was einen Menschen ein solcher Entschluß kostet.

„Entscheiden Sie mein Schicksal!« rief er wieder.

„Gehen Sie hin und stellen Sie sich!« flüsterte ich ihm zu. Die Stimme gehorchte mir nicht, aber ich flüsterte in entschiedenem Ton.

Dann nahm ich das Neue Testament in russischer Übersetzung vom Tisch und schlug die Stelle Johannes, Kapitel zwölf, Vers vierundzwanzig auf: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn in die Erde gefallen, nicht erstirbt, so bleibt es allein. Wenn es aber erstirbt, so bringt es viel Frucht.«

Er las den Vers.

„Das ist richtig«, sagte er, lächelte jedoch dabei bitter. „Ja, es ist schrecklich«, fuhr er nach einer kleinen Pause fort, „was man in diesen Büchern alles für Sprüche findet. Es ist leicht, sie einem unter die Nase zu halten. Wer hat sie denn geschrieben? Doch wohl Menschen?«

„Der Heilige Geist hat sie geschrieben«, antwortete ich.

„Sie haben gut reden«, sagte er, immer noch lächelnd, aber schon beinahe voller Haß.

Ich nahm das Buch wieder, schlug es an einer anderen Stelle auf und wies ihn auf den Brief an die Hebräer, Kapitel zehn, Vers einunddreißig hin.

Er las: „Schrecklich ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.«

Er las das und schleuderte das Buch geradezu von sich, dabei zitterte er sogar.

„Da haben Sie einen furchtbaren Vers ausgewählt«, rief er, „das muß man schon sagen!« Er stand von seinem Stuhl auf: „Nun, leben Sie wohl!« sagte er. „Vielleicht werde ich nicht mehr zu Ihnen kommen. Im Paradies werden wir uns wiedersehen. Also vierzehn Jahre ist es her, daß ich in die Hände des lebendigen Gottes gefallen bin. Ja, das kann man mit Recht von diesen vierzehn Jahren sagen. Morgen werde ich diese Hände bitten, mich freizusprechen.«

Ich hätte ihn gern umarmt und geküßt. Aber ich wagte es nicht, so verkrampft war sein Gesicht, so starr sein Blick.

Er ging hinaus.

‚Mein Gott!‘ dachte ich. ‚Wohin ist dieser Mensch gegangen?‘ Dann warf ich mich vor dem Heiligenbild auf die Knie und betete für ihn unter Tränen zu der Allerheiligsten Muttergottes, der Beschützerin und Helferin.

Wohl eine halbe Stunde mochte über meinem Gebet vergangen sein, und es war schon spät in der Nacht, gegen zwölf Uhr. Da öffnete sich plötzlich meine Tür, und er trat wieder herein.

„Wo sind Sie gewesen?« fragte ich ihn erstaunt.

„Ich habe«, sagte er, „ich habe etwas vergessen, glaube ich. Mein Taschentuch, glaube ich … Nun, wenn ich auch nichts vergessen habe, so gestatten Sie bitte doch, daß ich mich setze …«

Er setzte sich auf einen Stuhl. Ich stand vor ihm.

„Setzen Sie sich auch!« sagte er.

Ich setzte mich. So saßen wir etwa zwei Minuten; er sah mich unverwandt an und lächelte auf einmal, das habe ich im Gedächtnis behalten. Dann stand er auf, umarmte mich fest und küßte mich.

„Vergiß das nicht«, sagte er, „daß ich zum zweitenmal zu dir gekommen bin. Hörst du, vergiß das nicht!« Zum erstenmal hatte er mich „du« genannt.

Er ging hinaus. ‚Morgen wird er es tun!‘ dachte ich.

Und so geschah es denn auch. Ich wußte an diesem Abend nicht, daß gerade auf den nächsten Tag sein Geburtstag fiel. Ich selbst war in den letzten Tagen nicht ausgegangen und hatte es daher von niemand erfahren können. An diesem Tag fand bei ihm alljährlich eine große Gesellschaft statt.

Und da trat er nun nach dem festlichen Mittagessen in die Mitte der Gäste, in der Hand ein Schriftstück, das eine formelle Anzeige enthielt. Und da die Obrigkeit selbst anwesend war, las er das Schriftstück auf der Stelle laut vor, und zwar mit einer vollständigen Beschreibung des Verbrechens, mit allen Einzelheiten! „Wie einen Unmenschen stoße ich mich selbst aus der Gemeinschaft der Menschen aus! Gott hat mich heimgesucht«, schloß das Schriftstück.«Ich will leiden!«

Dann zog er alles aus der Tasche, was er vierzehn Jahre lang aufbewahrt hatte und womit er sein Verbrechen zu beweisen gedachte, und legte es auf den Tisch: die Goldsachen der Ermordeten, die er in der Absicht, den Verdacht von sich abzulenken, entwendet hatte, ihr Kreuz und ihr Medaillon mit dem Bild ihres Bräutigams, ihr Notizbuch und endlich zwei Briefe, einen Brief ihres Bräutigams mit der Nachricht von seiner baldigen Ankunft und ihre Antwort darauf, die sie angefangen, aber noch nicht zu Ende geschrieben und auf dem Tisch liegengelassen hatte, um sie am folgenden Tag zu beenden und abzuschicken. Beide Briefe hatte er an sich genommen — wozu eigentlich? Und wozu hatte er sie dann vierzehn Jahre lang aufbewahrt, statt sie als verräterische Beweisstücke zu vernichten?

Und siehe da, was geschah nun? Alle staunten und erschraken, doch niemand wollte ihm glauben. Alle hatten zwar mit außerordentlichem Interesse zugehört, aber so, wie man einem Kranken zuhört, und einige Tage später stand bereits überall fest und wurde mit aller Bestimmtheit behauptet, der Unglückliche habe den Verstand verloren. Obrigkeit und Gericht konnten allerdings nicht umhin, einen Prozeß einzuleiten, doch auch sie verzögerten die Sache beträchtlich. Obgleich die vorgelegten Gegenstände und Briefe zu denken gaben, sagte man sich schließlich auch hier, selbst wenn sich diese Beweisstücke als echt erweisen würden, könne eine definitive Anklage auf Grund derselben dennoch nicht erhoben werden. Es bestehe immerhin die Möglichkeit, daß sie ihm als ihrem Bekannten alle diese Dinge anvertraut hatte. Ich hörte übrigens, daß die Echtheit der Gegenstände wenig später durch Bekannte und Verwandte der Ermordeten zweifelsfrei festgestellt worden ist. Aber wiederum war es dem Prozeß nicht beschieden, zu Ende geführt zu werden. Nach etwa fünf Tagen erfuhr man, der Mann sei erkrankt, und zwar lebensgefährlich. An welcher Krankheit er litt, kann ich nicht angeben. Es hieß, an einer Störung der Herztätigkeit, dann wurde jedoch bekannt, daß ein Konsilium von Ärzten auf dringenden Wunsch seiner Gattin auch seinen Geisteszustand untersucht hatte und zu der Ansicht gelangt war, es liege eine Geistesstörung vor. Ich verriet nichts, obgleich man mich mit Fragen bestürmte. Als ich ihn jedoch besuchen wollte, verwehrte man mir das lange, namentlich seine Gattin. „Sie sind es«, sagte sie, „der ihn verrückt gemacht hat! Er hat auch früher ein finsteres Wesen gehabt, und im letzten Jahr haben wir an ihm alle eine ungewöhnliche Erregung und seltsame Handlungen bemerkt, und ausgerechnet da müssen Sie kommen und ihn zugrunde richten! Sie haben ihn behext, er ist ja einen Monat lang nicht von Ihnen weggekommen!« Und nicht nur seine Frau, alle in der Stadt fielen über mich her und beschuldigten mich. „Sie sind an allem schuld!« sagten sie. Ich schwieg und freute mich innerlich, denn ich erkannte die unzweifelhafte Gnade Gottes ihm gegenüber, der von selbst gegen sich aufgestanden war und sich bestraft hatte. An seine Geistesgestörtheit konnte ich nicht glauben.

Endlich ließ man auch mich zu ihm; er selbst hatte es dringend verlangt, um von mir Abschied zu nehmen. Ich trat ein und sah auf den ersten Blick, daß nicht seine Tage, sondern seine Stunden gezählt waren. Er war schwach, gelb, die Hände zitterten ihm, er konnte kaum atmen, doch seine Miene drückte Ergriffenheit und Freude aus.

„Es ist vollbracht!« sagte er zu mir. „Schon lange hat es mich verlangt, dich zu sehen. Warum bist du nicht gekommen?«

Ich sagte ihm nicht, daß man mich nicht zu ihm lassen wollte.

„Gott hat sich meiner erbarmt und ruft mich zu sich. Ich weiß, daß mein Tod nahe ist, aber zum erstenmal nach so vielen Jahren erfüllen Freude und Frieden mein Herz. Sowie ich getan hatte, was notwendig war, fühlte ich in meiner Seele auch das Paradies. Jetzt darf ich schon meine Kinder lieben und küssen. Man glaubt mir nicht, niemand hat mir geglaubt, weder meine Frau noch meine Richter; auch meine Kinder werden es nie glauben. Ich sehe darin die Gnade Gottes gegenüber meinen Kindern. Ich werde sterben, und mein Name wird für sie unbefleckt bleiben. Und jetzt fühle ich, Gott im voraus. Mein Herz ist froh wie im Paradies … Ich habe meine Pflicht erfüllt …«

Er konnte aus Atemnot nicht weitersprechen, drückte mir warm die Hand und sah mich mit leuchtenden Augen an. Wir konnten nicht lange miteinander reden, da seine Frau fortwährend hereinsah. Aber er fand doch noch die Möglichkeit, mir zuzuflüstern: „Erinnerst du dich, wie ich damals zum zweitenmal zu dir kam, um Mitternacht? Ich sagte dir noch, du solltest es nicht vergessen. Weißt du, weswegen ich gekommen war? Ich war gekommen, um dich zu ermorden!«

Ich fuhr zusammen.

„Ich trat damals, als ich dich verließ, hinaus in die Dunkelheit, wanderte durch die Straßen und kämpfte mit mir selbst. Und auf einmal überkam mich ein solcher Haß gegen dich, daß mein Herz es kaum ertragen konnte. ‚Jetzt ist er der einzige, der mich gebunden hält und mein Richter ist!‘ dachte ich. ‚Ich kann meiner Bestrafung nicht mehr entgehen, denn er weiß alles!‘ Nicht daß ich eine Denunziation von deiner Seite gefürchtet hätte, dieser Gedanke kam mir überhaupt nicht. Nein, ich dachte: ‚Wie werde ich ihm künftig in die Augen sehen können, wenn ich mich nicht selber stelle? Und wenn er wer weiß wie weit wegziehen würde — solange er am Leben bleibt, ist mir der Gedanke unerträglich, daß er alles weiß und mich verurteilt!‘ Ich haßte dich, als wärst du der Urheber von allem und an allem schuld. Ich kehrte damals zu dir zurück und erinnere mich, daß bei dir auf dem Tisch ein Dolch lag. Ich setzte mich und bat dich, du möchtest dich ebenfalls setzen, und dachte eine Minute lang nach. Wenn ich dich getötet hätte, wäre ich allerdings wegen dieses Mordes verloren gewesen, auch wenn ich das frühere Verbrechen nicht bekannt hätte aber daran dachte ich in diesem Augenblick überhaupt nicht, wollte ich auch nicht denken. Ich haßte dich nur und wollte mich an dir mit Gewalt für alles rächen. Gott hat jedoch den Teufel in mir niedergerungen. Du sollst aber wissen, daß du dem Tod nie näher gewesen bist.«

Eine Woche später starb er. Die ganze Stadt begleitete seinen Sarg zum Friedhof. Der erste Geistliche hielt eine tiefempfundene Rede. Man beklagte die furchtbare Krankheit, durch die sein Leben so verkürzt worden war. Doch nach der Beerdigung war die ganze Stadt über mich entrüstet, und viele brachen den Verkehr mit mir ab. Einige allerdings, anfangs nur wenige, allmählich jedoch immer mehr, begannen an die Wahrheit seiner Selbstbezichtigung zu glauben; sie besuchten mich und versuchten mich neugierig und schadenfroh auszufragen: Der Mensch freut sich eben über den Fall und die Schmach des Gerechten. Aber ich schwieg und zog bald darauf für immer aus der Stadt fort. Und fünf Monate danach wurde ich von Gott dem Herrn gewürdigt, einen festen, herrlichen Weg zu betreten, und segnete den unsichtbaren Finger, der mir diesen Weg so deutlich gewiesen hatte. Des Gottesknechts Michail aber, der so viel hat dulden müssen, gedenke ich in meinem Gebet täglich, bis auf den heutigen Tag.