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3. Aus den Gesprächen und Belehrungen des Starez Sossima

e) Über den russischen Mönch und seine mögliche Bedeutung

Meine Väter und Lehrer, was ist ein Mönch? In der aufgeklärten Welt wird dieses Wort von manchen heutzutage schon mit Spott ausgesprochen, und von einigen geradezu als Schimpfwort gebraucht. Und je länger das dauert, desto schlimmer wird es. Leider ist es wahr, daß es auch unter den Mönchen viele Tagediebe, Wüstlinge, Schlemmer und Herumtreiber gibt. Auf sie weisen die gebildeten Weltleute hin. „Ihr seid Faulenzer und nutzlose Glieder der menschlichen Gesellschaft!« sagen sie. „Ihr lebt von fremder Arbeit, als schamlose Bettler!« Und doch gibt es unter den Mönchen auch so viele demütige und fromme Männer, die es nach Einsamkeit verlangt und nach heißem Gebet in der Stille. Auf sie weisen die Weltleute weniger hin, ja sie übergehen sie sogar stillschweigend. Wie würden sie sich aber wundern, wenn ich sage, daß von diesen frommen, sich nach einsamem Gebet sehnenden Mönchen vielleicht noch einmal die Rettung der russischen Erde kommen wird! Denn in Wahrheit sind sie in der Stille vorbereitet „auf den Tag und die Stunde und den Monat und das Jahr«. Sie bewahren bis dahin in ihrer Einsamkeit das Bild Christi herrlich und unentstellt in der Wahrheit Gottes, so wie es aus der Zeit der ältesten Väter, der Apostel und Märtyrer überliefert ist; und sobald es nötig ist, werden sie es der schwankenden Wahrheit dieser Welt zeigen. Das ist ein gewaltiger Gedanke. Vom Osten her wird dieser Stern aufgehen.

So denke ich über den Mönch — und ist das wirklich unwahr und hochmütig? Schaut euch doch nur die Weltleute und diese ganze Welt an, die sich über das Volk Gottes erhaben dünkt: Ist nicht bei ihnen das Antlitz Gottes und seine Wahrheit entstellt? Sie haben ihre Wissenschaft, doch in der Wissenschaft ist nur das enthalten, was den Sinnen unterworfen ist. Die geistige Welt aber, die höhere Hälfte des menschlichen Wesens, wird vollständig negiert und mit einem gewissen Triumph, ja sogar mit Haß zurückgewiesen. Die Welt hat die Freiheit verkündet, besonders in der letzten Zeit — und was sehen wir als Resultat dieser ihrer Freiheit? Nur Knechtschaft und Selbstmord! Denn die Welt sagt: „Du hast Bedürfnisse, darum befriedige sie; du besitzt dasselbe Recht wie die Vornehmsten und Reichsten! Scheue dich nicht, sie zu befriedigen, sondern steigere sie sogar noch!« Das ist die heutige Lehre der Welt. Darin sehen sie die Freiheit. Und was ist die Folge dieses Rechtes auf Steigerung der Bedürfnisse? Bei den Reichen Isolierung und geistiger Selbstmord, und bei den Armen Neid und Mord. Denn das Recht haben sie ihnen zwar gegeben, doch die Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse haben sie ihnen nicht gewiesen. Sie versichern, die Welt werde sich immer mehr einigen, sich zu einer brüderlichen Gemeinschaft zusammenschließen, indem sie die Entfernungen verkürzt und die Gedanken durch die Luft übermittelt. O weh, glaubt nicht an eine solche Einigung der Menschen! Dadurch, daß sie unter Freiheit nur Steigerung und schnelle Befriedigung ihrer Bedürfnisse verstehen, verderben sie ihre Natur, weil sie in sich viele sinnlose, dumme Wünsche und Gewohnheiten und törichte Einfälle wecken. Sie leben nur, um einander zu beneiden und ihre Lüste und ihre Eitelkeit zu befriedigen. Diners, Spazierfahrten, Equipagen, hoher Rang und knechtische Untergebene: diese Dinge gelten bereits als so notwendiges Bedürfnis, daß sie sogar ihr Leben, ihre Ehre und ihre Menschenliebe opfern, um nur dieses Bedürfnis zu befriedigen, und sich sogar töten, wenn sie es nicht befriedigen können. Bei denen, die nicht reich sind, sehen wir dasselbe; die Armen aber betäuben ihren Ärger, daß sie ihre Bedürfnisse nicht befriedigen können, und ihren Neid einstweilen durch Trinken. Bald werden sie sich jedoch an Blut statt an Branntwein berauschen; dahin bringt man sie ja geradewegs. Ich frage euch, ist ein solcher Mensch frei? Ich kannte einen „Kämpfer für die Idee«, der mir selbst erzählt hat, als ihm im Gefängnis der Tabak entzogen wurde, habe er unter dieser Entbehrung dermaßen gelitten, daß er nahe daran gewesen sei, seiner „Idee« untreu zu werden, nur um Tabak zu bekommen. So einer sagt: „Ich werde für die Menschen kämpfen!« Was wird so ein Mensch denn anfangen, wozu ist er fähig? Höchstens zu einer raschen Tat, Ausdauer besitzt er nicht. Und es ist nicht verwunderlich, daß sie sich, statt frei zu werden, in Knechte verwandelt haben, daß sie, statt der Bruderliebe und der menschlichen Vereinigung zu dienen, in die Isolierung geraten sind, wie mir in meiner Jugend mein geheimnisvoller Besucher und Lehrer bewies. Und daher erlischt in der Welt mehr und mehr die Idee, der Menschheit zu dienen, die Idee der Verbrüderung und Solidarität aller Menschen. Diese Idee wird tatsächlich bereits verhöhnt und verspottet, denn wie kann man von seinen Gewohnheiten ablassen und was sollte aus jenem Unfreien werden, der sich doch daran gewöhnt hat, seine zahllosen, selbsterdachten Bedürfnisse zu befriedigen. Er ist isoliert; was kümmert ihn da noch das Ganze? Und so haben sie es nun dahin gebracht, daß Gut und Geld angewachsen sind, die Freude jedoch abgenommen hat.

Von ganz anderer Art ist der Weg des Mönches. Über den klösterlichen Gehorsam, über Fasten und Beten wird zwar viel gespottet, und doch ist gerade dies der Weg zur wahren, rechten Freihielt! Ich entledige mich überflüssiger Bedürfnisse, demütige und geißle meinen selbstsüchtigen, stolzen Willen durch Gehorsam und erreiche so mit Gottes Hilfe geistige Freiheit und mit ihr auch geistige Heiterkeit! Wer von beiden ist besser befähigt, Träger einer großen Idee zu sein und ihr zu dienen: der isolierte Reiche oder einer, der sich von der Tyrannei des Besitzes und der Gewohnheiten frei gemacht hat? Man tadelt den Mönch wegen seiner Isolierung. „Du hast dich abgesondert«, heißt es, „um in den Klostermauern deine Seele zu retten, vergißt aber, brüderlich der Menschheit zu dienen!« Doch wollen wir erst einmal sehen, wer mit größerem Eifer Bruderliebe übt! Die Isolierung ist nämlich nicht auf unserer, sondern auf ihrer Seite, sie merken es bloß nicht. Von uns sind von jeher diejenigen ausgegangen, die für das einfache Volk tätig gewesen sind — warum sollten sich solche nicht auch jetzt finden? Gerade die demütigen, frommen Faster und Schweiger werden sich erheben und ein großes Werk in Angriff nehmen. Vom Volk kommt Rußlands Rettung. Und das russische Kloster hat von jeher in enger Beziehung zum Volk gestanden. Wenn das Volk isoliert ist, so sind wir es auch. Das Volk ist auf unsere Art gläubig; ein ungläubiger Weltverbesserer wird bei uns in Rußland doch nichts erreichen, mag er es noch so aufrichtig meinen und einen noch so genialen Verstand besitzen. Behaltet das gut im Gedächtnis! Das Volk wird den Atheisten entgegentreten und sie niederringen, und es wird ein einiges, rechtgläubiges Rußland erstehen! Behütet das Volk, bewahrt sein Herz vor allem Übel! Erzieht es in der Stille! Das ist das große Werk, das ihr als Mönche auszuführen habt, denn dieses Volk ist der Träger des göttlichen Glaubens!

f) Über Herren und Diener. Ob Herren und Diener im Geiste Brüder werden können

O Gott, wer will behaupten, daß es nicht auch beim Volk Sünde gibt? Die Flamme des sittlichen Verfalls wächst sogar offensichtlich, stündlich, sie schlägt immer höher. Auch beim Volk beginnt die Isolierung. Betrügerische Aufkäufer und Wucherer kommen auf. Schon erhebt der Kaufmann immer größere Ansprüche auf Respekt; er möchte als gebildeter Mann erscheinen, obwohl er keine Bildung besitzt, und vernachlässigt deshalb in schmählicher Weise die alten Bräuche, schämt sich sogar des Glaubens seiner Väter. Er macht Besuche bei Fürsten und ist doch nur ein verdorbener Bauer. Das Volk verfällt dem Trunk und kann nicht mehr davon lassen. Wie viele Roheiten in der Familie, gegenüber der Frau, sogar den Kindern gegenüber, sind die Folge dieser Trunksucht! Ich habe in Fabriken zehnjährige Kinder gesehen: schwächliche, ausgemergelte, gebeugte Kinder, die doch schon verdorben waren. Ein stickiger Arbeitsraum, stampfende Maschinen, den ganzen Tag Arbeit, gemeine Worte und Branntwein, Branntwein — ist es das, was die Seele so eines kleinen Kindes braucht? So ein Kind braucht Sonne, kindliche Spiele, von allen Seiten gute Beispiele — und wenigstens ein klein bißchen Liebe. Auf daß es anders werde, ihr Mönche! Auf daß die Quälerei der Kinder aufhöre, erhebt euch so schnell wie möglich, so schnell wie möglich und predigt! Gott aber wird Rußland retten! Wenn der einfache Mann auch verdorben ist und sich nicht mehr von der schmutzigen Sünde frei machen kann, so weiß er doch wenigstens, daß seine schmutzige Sünde von Gott verflucht ist und daß er schlecht handelt, wenn er sündigt. Unser Volk glaubt noch unerschütterlich an die Wahrheit, erkennt Gott an und kann noch ergriffen weinen. Anders die Angehörigen der höheren Schichten. Sie wollen auf wissenschaftlicher Grundlage alles gerecht einrichten, nur mit ihrem Verstand, ohne Christus, den man bisher noch immer nötig hatte; sie haben bereits verkündet, es gebe keine Verbrechen und keine Sünde mehr. Und aus ihrer Sicht ist das auch richtig: Wenn du keinen Gott hast, was kann es da für Verbrechen geben? In Westeuropa erhebt sich das Volk bereits mit Gewalt gegen die Reichen, und Demagogen verleiten es allerorten zum Blutvergießen und lehren, sein Zorn sei gerecht. Doch „verflucht ist ihr Zorn, denn er ist grausam!« Aber der Herr wird Rußland retten, wie er es schon oft gerettet hat. Aus dem Volk wird die Rettung kommen, aus seinem Glauben und aus seiner Demut. Meine Väter und Lehrer, hütet den Glauben des Volkes! Und es ist kein leerer Traum: Mein Leben lang hat mich an unserem prächtigen Volk seine herrliche, echte Würde stark beeindruckt, ich habe das selbst mit Staunen gesehen und kann es selbst bezeugen, trotz des Schmutzes seiner Sünden und trotz des armseligen Aussehens unseres einfachen Volkes habe ich es gesehen. Es ist nicht knechtisch, trotz der zweihundertjährigen Knechtschaft. Es ist frei in Haltung und Benehmen, dabei ohne alles Verletzende. Auch rachsüchtig und neidisch ist es nicht. Du bist vornehm und reich, du bist klug und hast Talent — nun schön, Gott segne dich! Ich achte dich, doch ich weiß, daß auch ich ein Mensch bin. Eben indem ich dich neidlos achte, bekunde ich vor dir meine Menschenwürde! Wenn sie das auch nicht so sagen — denn sie verstehen sich noch nicht auszudrücken —, handeln sie doch so, das habe ich selbst gesehen, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Und ob ihr es mir glaubt oder nicht, je ärmer und einfacher unser Russe ist, um so mehr von diesem herrlichen Sinn für Gerechtigkeit ist an ihm zu finden! Die reichen Aufkäufer und Wucherer unter ihnen sind nämlich in der Mehrzahl schon verdorben, und viel, viel Schuld daran trägt unsere Unachtsamkeit und Fahrlässigkeit! Aber Gott wird die Seinen retten, weil Rußland groß ist durch seine Demut. Sehnsüchtig hoffe ich, unsere Zukunft zu sehen, und es ist mir, als sähe ich sie schon klar vor mir: Denn es wird so kommen, daß sich selbst der verderbteste Reiche bei uns schließlich vor dem Armen seines Reichtums schämt, während ihm der Arme angesichts dieser Demut verständnisvoll den Vorrang läßt und mit Freude und Freundlichkeit antwortet. Glaubt mir, dahin wird es kommen, dahin geht die ganze Entwicklung! Nur in der geistigen Würde des Menschen besteht die Gleichheit, und das wird man nur bei uns begreifen. Könnten wir Brüder sein, dann gäbe es auch eine Bruderschaft. Ehe sich diese jedoch nicht einstellt, teilen sie nie untereinander. Wir bewahren das Vorbild Christi, und wie ein kostbarer Diamant wird es der ganzen Welt leuchten … Amen, es soll also geschehen! Meine Väter und Lehrer, ich hatte einmal ein ergreifendes Erlebnis. Auf meinen Pilgerreisen traf ich eines Tages in der Gouvernementsstadt K. meinen früheren Burschen Afanassi; seit ich mich von ihm getrennt hatte, waren damals schon acht Jahre vergangen. Er sah mich zufällig auf dem Markt — mein Gott, wie er sich freute! Er stürzte nur so auf mich los: „Väterchen, gnädiger Herr, sind Sie es denn auch? Sehe ich Sie wirklich wieder?« Er nahm mich mit zu sich nach Hause. Er war inzwischen aus dem Militär entlassen, hatte geheiratet und war Vater von zwei kleinen Kindern. Er lebte mit seiner Frau von einem kleinen Handel auf dem Markt, wo er immer nur eine Kiepe voll Ware feilbot. Sein Stübchen war ärmlich, aber sauber und freundlich. Er nötigte mich, Platz zu nehmen, stellte den Samowar auf und ließ seine Frau holen, als hätte ich ihm durch mein Erscheinen einen Festtag bereitet. Er zeigte mir seine Kinderchen und bat: „Segnen Sie sie, Väterchen!« — „Kommt es mir zu, sie zu segnen?« antwortete ich ihm. „Ich bin ein einfacher, demütiger Mönch. Ich werde für sie beten. Und auch für dich, Afanassi Pawlowitsch, bete ich seit jenem Tag immerzu, jeden Tag. Denn von dir hat alles seinen Anfang genommen.« Und ich erklärte ihm das, so gut ich es vermochte. Er war ganz fassungslos; er sah mich immer nur an und konnte es gar nicht begreifen, daß ich, sein früherer Herr, ein Offizier, nun so und in solcher Tracht vor ihm stand. Er brach sogar in Tränen aus. „Warum weinst du?« sagte ich zu ihm. „Du unvergeßlicher Mensch! Freu dich vielmehr von Herzen über mich, du Lieber, mein Weg ist freudig und hell!« Er sprach nicht viel, sagte immer nur „Ach« und „Oh« und schüttelte gerührt über mich den Kopf. „Wo ist denn Ihr Reichtum geblieben?« fragte er. Ich antwortete ihm: „Den habe ich dem Kloster gegeben, wir leben in Gütergemeinschaft.« Nachdem wir Tee getrunken hatten, begann ich mich von ihnen zu verabschieden, und auf einmal gab er mir einen halben Rubel als Spende für das Kloster. Dann spürte ich, wie er mir noch einen zweiten halben Rubel in die Hand schob, dazu sagte er hastig: „Das werden Sie als Wanderer und Pilger vielleicht gebrauchen können, Väterchen!« Ich nahm seinen halben Rubel, verbeugte mich vor ihm und seiner Frau, ging erfreut weg und dachte: ‚Jetzt werden wir beide, er bei sich zu Hause und ich unterwegs, gewiß erstaunt lächeln und heiter den Kopf wiegen in dem Gedanken, wie wunderbar Gott uns wieder zusammengeführt hat …‘ Und seitdem habe ich ihn nie wieder zu sehen bekommen. Ich war sein Herr gewesen und er mein Diener; doch nun, da wir uns voller Liebe und Rührung geküßt hatten, war zwischen uns die große menschliche Vereinigung geschehen. Ich habe darüber viel nachgegrübelt und denke jetzt so darüber: Ist es für den Verstand wirklich so unbegreiflich, daß sich diese große, ehrliche Vereinigung bei uns Russen zu ihrer Zeit allerorten vollziehen kann? Ich glaube, daß sie sich vollziehen wird und daß der Zeitpunkt nahe ist.

Über die Dienstboten sei noch folgendes hinzugefügt. Als ich noch ein Jüngling war, habe ich mich oft über die Dienstboten geärgert, die Köchin hatte das Essen zu heiß auf den Tisch gebracht, der Bursche meine Kleider nicht gereinigt. Damals jedoch erleuchtete mich plötzlich ein Wort meines lieben Bruders, das ich von ihm in der Kindheit gehört hatte: „Bin ich es denn wert, daß mir ein anderer dient? Und habe ich das Recht, ihn wegen seiner Armut und Unwissenheit anzufahren?« Und ich staunte damals, wie spät sich oftmals die einfachsten, einleuchtendsten Gedanken in unserem Verstand durchsetzen. Ohne Diener geht es nun einmal in der Welt nicht — handle aber wenigstens so, daß sich dein Diener bei dir seelisch freier fühlt, als wenn er nicht dein Diener wäre! Und warum kann ich nicht der Diener meines Dieners sein, und zwar so, daß er es selbst bemerkt, und ohne Stolz von meiner und ohne Mißtrauen von seiner Seite? Warum kann nicht ein Dienstbote zu mir in demselben Verhältnis stehen wie ein Verwandter, daß ich ihn schließlich in meine Familie aufnehme und mich dessen freue? Das läßt sich auch jetzt schon durchführen und wird dann als Grundlage für die künftige Vereinigung der Menschen dienen, wo der Mensch sich keine Diener suchen und nicht mehr wünschen wird, Menschen, die ihm ähnlich sind, zu seinen Dienern zu machen wie jetzt, wo er vielmehr mit aller Kraft wünschen wird, nach dem Gebot des Evangeliums selbst ein Diener aller zu werden. Und sollte es wirklich nur ein leerer Traum sein, daß der Mensch seine Freude schließlich nur in Taten der Belehrung und der Mildtätigkeit finden wird und nicht in rohen Genüssen wie jetzt, in Völlerei, Wollust, Hoffart, Prahlerei und neidischer Überhebung des einen über den anderen? Ich glaube bestimmt, daß das kein leerer Traum ist und daß die Zeit der Erfüllung nahe ist. Viele lachen und fragen: „Wann wird diese Zeit anbrechen? Sieht es in der Welt etwa danach aus, als ob sie jemals anbricht?« Ich aber denke, daß wir mit Christi Hilfe dieses große Werk vollbringen werden. Wie viele Ideen hat es in der Geschichte der Menschheit gegeben, die noch zehn Jahre vor ihrem Aufkommen undenkbar schienen und sich dann doch plötzlich offenbarten und über die ganze Erde verbreiteten, sowie ihr geheimer Zeitpunkt gegeben war? So wird es auch bei uns sein, und unser Volk wird der Welt voranleuchten, und alle Menschen werden sagen: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden.« Die Spötter selbst aber sollte man fragen: Wenn unsere Hoffnung ein leerer Traum ist, wann werdet ihr selbst euer Gebäude errichten und nach eurer Gerechtigkeit, einrichten, nur mit dem Verstand, ohne Christus? Und wenn sie nun selbst behaupten, auch sie würden die allgemeine Vereinigung herbeiführen, so glauben daran in Wahrheit nur die Naivsten von ihnen, über deren Naivität man sich allenfalls wundem kann! In Wahrheit besitzen sie mehr träumerische Phantasie als wir! Sie haben vor, alles gerecht einzurichten; da sie jedoch Christus ausschalten, wird es damit enden, daß sie die Welt mit Blut überschwemmen: Blut schreit nach Blut, und wer das Schwert zieht, wird durch das Schwert umkommen. Und wenn nicht die Verheißung Christi wäre, würden sie einander sogar so weit ausrotten, daß nur noch zwei Menschen auf der Erde übrigblieben. Und auch diese beiden letzten Menschen wären in ihrem Stolz nicht imstande, ihre Leidenschaften zu bändigen, sondern der letzte würde den vorletzten vernichten und dann sich selbst. Und das würde geschehen, wenn wir nicht Christi Verheißung hätten, daß dieser Prozeß um der Frommen und Demütigen willen verkürzt werden soll. Als ich nach meinem Duell seinerzeit noch die Offiziersuniform trug, begann ich in Gesellschaften von den Dienstboten zu sprechen, und ich erinnere mich, daß alle sehr über mich staunten. „Sollen wir einen Diener etwa auf das Sofa nötigen und ihm den Tee reichen?« fragten sie. Ich gab ihnen damals zur Antwort: „Warum nicht? Wenigstens ab und zu.« Da fingen sie alle an zu lachen. Die Frage dieser Leute war leichtfertig gewesen, und meine Antwort unklar — ich denke aber, daß in meiner Antwort doch etwas Wahres steckte.

g) Über das Gebet, die Liebe und die Berührung mit anderen Welten

Jüngling, vergiß nicht das Gebet! Jedesmal wird in deinem Gebet, sofern es aufrichtig ist, ein neues Gefühl erwachen und darin ein neuer Gedanke, den du vorher noch nicht gekannt hast und der dich mit neuem Mut erfüllen wird: Du wirst erkennen, daß das Gebet eine erzieherische Kraft hat. Merke auch noch dies: Wiederhole für dich an jedem Tag und sooft du nur kannst: „O Herr, erbarme dich aller, die heute vor dich hingetreten sind!« Denn jede Stunde, ja jeden Augenblick verlassen Tausende von Menschen die Erde, und ihre Seelen treten vor Gott hin, und wie viele unter ihnen sind einsam von der Erde geschieden, ohne daß es jemand wußte, in Kummer und Gram darüber, daß niemand sie bemitleidet oder auch nur weiß, ob sie überhaupt gelebt haben oder nicht. Und da steigt vielleicht vom anderen Ende der Erde zu Gott dem Herrn auch dein Gebet für die Ruhe der Seele eines solchen Verstorbenen empor, obgleich du ihn gar nicht gekannt hast und ebensowenig er dich. Mit welcher Rührung wird seine Seele, die in Angst vor dem Herrn steht, in diesem Augenblick empfinden, daß auch für ihn jemand betet, daß auf der Erde ein menschliches Wesen zurückgeblieben ist, das auch ihn liebt! Und auch Gott wird gnädiger auf euch beide schauen: Wenn schon du den Verstorbenen so bemitleidet hast, um wieviel mehr wird Er mit ihm Mitleid haben, der unendlich viel barmherziger und liebevoller ist als du. Und Er wird ihm deinetwillen verzeihen.

Ihr Brüder, schreckt nicht zurück vor der Sünde der Menschen! Liebet den Menschen auch in seiner Sünde, denn das ist schon ein Abbild der göttlichen Liebe und der Gipfel der Liebe auf Erden. Liebet die ganze Schöpfung Gottes, das Weltall wie auch jedes Sandkörnchen! Liebet jedes Blättchen, jeden Lichtstrahl Gottes! Liebet die Tiere, liebet die Pflanzen, liebet jedes Ding! Wenn du jedes Ding liebst, wirst du das Geheimnis Gottes in den Dingen erfassen. Und wenn du es einmal erfaßt hast, wirst du es immer mehr und tiefer erkennen, unaufhörlich, Tag für Tag. Und du wirst schließlich die ganze Welt mit allumfassender Liebe liebgewinnen. Liebet die Tiere! Ihnen hat Gott einen Anfang des Denkens gegeben und eine harmlose Lebensfreude. Trübt ihnen diese Freude nicht, quält sie nicht, nehmt ihnen nicht ihre Freude, handelt nicht der Absicht Gottes zuwider! Mensch, überhebe dich nicht über die Tiere: Sie sind frei von Sünde, du jedoch in all deiner Herrlichkeit besudelst die Erde durch dein Erscheinen und hinterläßt eine schmutzige Spur — fast ein jeder von uns tut das! Liebet ganz besonders die Kinder, denn auch sie sind frei von Sünde wie die Engel! Sie leben zu unserer Rührung, zur Läuterung unserer Herzen, als Hinweis für uns wie wir werden sollten. Wehe dem, der einem Kind etwas zuleide tut! Mich hat Vater Anfim Kinder lieben gelehrt. Dieser liebe, schweigsame Mensch kaufte auf unseren Pilgerfahrten manchmal für die Kopeken, die man uns gab, Pfefferkuchen und Kandiszucker für die Kinder. Er konnte an einem kleinen Kind nicht ohne seelische Ergriffenheit vorübergehen, so ein Mensch war er.

Bei manchem Vorhaben wirst du, besonders angesichts der Sündhaftigkeit der Menschen, im Zweifel sein und dich fragen: Soll ich zu Gewalt greifen oder zu demütiger Liebe? Entscheide dich stets für die demütige Liebe! Wenn du das ein für allemal tust, wirst du dir die ganze Welt unterwerfen können. Die demütige Liebe ist eine gewaltige Kraft, die stärkste, die es gibt, eine Kraft, der nichts gleichkommt. Täglich und stündlich, ja in jedem Augenblick achte auf dich, ob deine Miene auch sanft und freundlich ist. Da bist du an einem kleinen Kind vorbeigegangen mit ärgerlichem Gesicht, mit einem häßlichen Wort, mit zornerfülltem Herzen; du hast das Kind vielleicht gar nicht bemerkt — aber es hat dich gesehen, und dein böses, unfrommes Bild ist vielleicht in seinem wehrlosen Herzen haftengeblieben. Du hast das nicht gewußt, doch möglicherweise hast du in die Seele des Kindes ein schlechtes Samenkorn geworfen, und das wächst vielleicht — und alles nur, weil du dich dem Kind gegenüber nicht in acht genommen, weil du keine umsichtige, tatkräftige Liebe in deinem Herzen gehegt hast. Meine Brüder, die Liebe ist eine Lehrerin, aber man muß es verstehen, sie zu erwerben! Sie läßt sich nämlich nur schwer erwerben und muß teuer erkauft werden durch lange Arbeit: Man muß nicht nur für einen zufälligen Augenblick lieben, sondern für das ganze Leben. Zufällig lieben, das kann jeder, das tut sogar ein Bösewicht. Ein Jüngling, mein Bruder, hat einmal die Vögel um Verzeihung gebeten. Das scheint sinnlos und ist doch in der Ordnung, denn alles ist wie ein Ozean, alles fließt und berührt sich; an einer Stelle rührst du etwas an, und am anderen Ende der Welt findet es seinen Widerhall. Und selbst wenn es sinnlos sein sollte, die Vögel um Verzeihung zu bitten — die Vögel und die kleinen Kinder und alle lebenden Wesen würden sich doch in deiner Nähe wohler fühlen, sowie du freundlicher und liebenswürdiger bist als jetzt, sei es auch nur ein ganz klein wenig. Alles ist wie ein Ozean, sage ich euch. Du könntest also, von allumfassender Liebe getrieben, in einer Art von Begeisterung auch zu den Vögeln beten und sie bitten, dir deine Sünden zu verzeihen. Halte diese Begeisterung hoch, so sinnlos sie auch den Menschen scheinen mag.

Meine Freunde, bittet Gott um Frohsinn! Seid fröhlich wie die Kinder, wie die Vögel unter dem Himmel! Und laßt euch in eurem Tun nicht irremachen durch die Sünde der Menschen! Fürchtet nicht, daß sie eure Tätigkeit behindern und euch die Ausführung eurer Absichten unmöglich machen wird! Sagt nicht: „Die Sünde ist stark, stark ist die Gottlosigkeit, stark ist die häßliche Umgebung. Wir aber stehen allein und sind kraftlos, die schlechte Umgebung wird uns behindern und die Ausführung unserer edlen Absichten vereiteln.« Flieht diesen Kleinmut, liebe Kinder! Da gibt es nur eine Rettung, macht euch selbst für alle Sünden der Menschen verantwortlich! Mein Freund, das ist die Wahrheit. Sobald du dich selbst aufrichtig für alles und für alle verantwortlich gemacht hast, wirst du sogleich einsehen, daß es tatsächlich so ist, daß du an allen Sünden aller Menschen schuld bist. Sobald du jedoch den Menschen die Schuld an deiner Trägheit und Schwäche gibst, Wird das am Ende dazu führen, daß du teuflischem Hochmut verfällst und gegen Gott murrst. Über den teuflischen Hochmut denke ich so: Schwer ist es für uns auf Erden, ihn auch nur zu erkennen; daher irren wir so leicht und verfallen ihm, während wir noch glauben, daß wir etwas Großes und Schönes tun. Überhaupt können wir einstweilen vieles von den stärksten Gefühlen und Regungen unserer Natur auf Erden nicht begreifen. Doch laß dich auch dadurch nicht verführen und glaube nicht, daß dir dies irgendwie als Entschuldigung dienen kann, denn der ewige Richter wird dich nach dem fragen, was du begreifen konntest, und nicht nach dem, was dir unbegreiflich war. Davon wirst du dich selbst überzeugen, und dann wirst du alles wahrheitsgemäß schauen und nicht mehr streiten können Auf der Erde gehen wir gleichsam in die Irre, und hätten wir nicht das kostbare Vorbild Christi vor Augen, würden wir ganz in die Irre geraten und zugrunde gehen wie das Menschengeschlecht vor der Sintflut. Vieles auf Erden ist uns verborgen, aber als Ersatz dafür ist uns das stille, geheime Gefühl gegeben, daß uns ein lebendiges Band mit einer anderen Welt verknüpft, mit einer höheren, himmlischen Welt. Auch die Wurzeln unserer Gedanken und Gefühle liegen nicht hier, sondern in anderen Welten. Das ist auch der Grund, weshalb die Philosophen sagen, daß wir das Wesen der Dinge auf Erden nicht begreifen können. Gott nahm Samenkörner aus anderen Welten und säte sie auf dieser Erde, und es erwuchs sein Garten, und es ging alles auf, was aufgehen konnte. Leben und lebendig sein kann das Aufgegangene aber nur durch das Gefühl seiner Berührung mit anderen geheimnisvollen Welten. Wenn dieses Gefühl in dir schwach wird oder erstirbt, dann stirbt auch das, was in dir herangewachsen war. Dann wirst du dem Leben gegenüber gleichgültig werden und es sogar hassen. So denke ich darüber.

h) Kann man Richter über seinesgleichen sein? Über den Glauben bis ans Ende

Vor allem sei dir bewußt, daß du keines Menschen Richter sein kannst. Denn niemand auf Erden kann Richter eines Verbrechers sein, bevor er, der Richter, selbst erkennt, daß er genauso ein Verbrecher ist wie der, der da vor ihm steht, und daß er selbst an dessen Verbrechen vielleicht mehr Schuld trägt als alle anderen Menschen. Erst wenn er das begreift, kann er Richter werden. So unsinnig das klingen mag — es ist doch richtig. Denn wäre ich selbst ein Gerechter, würde es womöglich den Verbrecher, der da vor mir steht, überhaupt nicht geben. Wenn du es fertigbringst, das Verbrechen des vor dir stehenden und von deinem Herzen verurteilten Verbrechers auf dich zu nehmen, so nimm es unverzüglich auf dich und leide selbst für ihn — ihn aber entlaß ohne Vorwurf. Und wirke sogar dann soviel wie möglich in diesem Geist, wenn dich das Gesetz zu seinem Richter eingesetzt hat; denn er wird hingehen und sich selbst noch härter verdammen, als dein Gericht es vermocht hätte. Und wenn er mit deinem Kuß auf den Lippen weggeht und gefühllos bleibt und über dich spottet, laß dich auch dadurch nicht beirren. Das bedeutet nur, daß seine Stunde noch nicht gekommen ist; sie wird aber zu ihrer Zeit schon kommen. Sollte sie aber nicht kommen, so macht auch das nichts aus. Wenn nicht er, so wird ein anderer an seiner Statt zur Erkenntnis gelangen und leiden und sich selbst verurteilen, und die Gerechtigkeit wird erfüllt sein. Glaube daran, ohne zu zweifeln, denn gerade darin liegt die ganze Zuversicht und der ganze Glaube der Frommen.

Wirke unermüdlich! Wenn dir in der Nacht vor dem Einschlafen einfällt, daß du nicht verrichtet hast, was du hättest verrichten sollen, so steh sofort auf und verrichte es! Wenn böse, gefühllose Menschen um dich herum dich nicht hören wollen, fall vor ihnen nieder und bitte sie um Verzeihung, denn in Wahrheit bist auch du daran schuld, daß sie dich nicht hören wollen. Wenn du jedoch mit den Erbosten gar nicht mehr reden kannst, so diene ihnen schweigend und in Demut, ohne je die Hoffnung zu verlieren. Und wenn dich alle verlassen und mit Gewalt von sich stoßen, so daß du ganz allein bleibst, dann fall auf die Erde und küsse sie und benetze sie mit deinen Tränen, und die Erde wird fruchtbar werden von deinen Tränen, selbst wenn dich in deiner Einsamkeit niemand sah und hörte. Glaube bis ans Ende, sollten auch alle Menschen auf Erden vom rechten Wege abgewichen und du als einziger treu geblieben sein, bringe auch dann Gott dein Opfer dar und preise ihn, du, der einzige Treugebliebene! Doch wenn zwei von euch Gleichgesinnten sich zusammenfinden, dann bildet ihr schon eine ganze Welt, die Welt der lebendigen Liebe. Umarmt euch dann mit gerührtem Herzen und lobt den Herrn: Sofern euer auch nur zwei sind, ist seine Gerechtigkeit bereit erfüllt.

Wenn du selbst sündigst und über deine Sündhaftigkeit oder eine plötzliche Sünde von dir betrübt bist, sogar zu Tode betrübt, freu dich über einen anderen, freu dich über einen Gerechten. Freu dich, daß er gerecht und von Sünde frei geblieben ist, selbst wenn du gesündigt hast.

Wenn dich aber die Bosheit der Menschen so entrüstet und tief bekümmert, daß du sogar wünschst, dich an den Missetätern zu rächen, so fürchte dieses Gefühl mehr als alles andere! Geh dann sofort hin und such dir Qualen, als wärst du selbst an aller Bosheit der Menschen schuld. Nimm diese Qualen auf dich und ertrage sie, und dein Herz wird zur Ruhe kommen. Du wirst einsehen, daß auch du Schuld trägst, denn du hättest selbst als der einzige Sündlose den Missetätern leuchten können und hast es nicht getan. Wenn du geleuchtet hättest, wäre mit deinem Licht auch anderen der Weg erhellt worden, und der die Missetat vollbracht hat, hätte sie bei deinem Licht vielleicht nicht vollbracht. Und selbst wenn du geleuchtet hast und siehst, daß die Menschen auch bei deinem Licht nicht auf die Rettung ihrer Seele bedacht sind, bleib trotzdem fest und zweifle nicht an der Kraft des himmlischen Lichtes; glaube daran daß sie ihre Seelen später retten werden. Wenn sie aber auch später ihre Seelen nicht retten, so werden ihre Söhne sie retten, denn dein Licht wird nicht umkommen, auch wenn du selbst schon gestorben bist. Der Gerechte geht dahin, aber sein Licht bleibt. Die Menschen retten ihre Seelen immer noch nach dem Tode des Retters. Das Menschenvolk nimmt seine Propheten nicht freundlich auf, sondern bringt sie um; dennoch lieben die Menschen ihre Märtyrer und verehren die, welche gemartert worden sind. Du aber arbeitest für das Ganze, du wirkst für die Zukunft. Trachte nie nach Belohnungen; auch ohne sie wird dir nämlich schon ein großer Lohn auf dieser Erde zuteil: deine geistige Freude, die nur der Gerechte erlangt. Fürchte dich nicht vor den Vornehmen und Starken, sondern sei weise und immer freundlich! Lerne maßzuhalten und den rechten Zeitpunkt abzuwarten! Wenn du allein bist, bete! Wirf dich gern auf die Erde nieder und küsse sie. Küsse die Erde und liebe sie unermüdlich und unersättlich! Liebe alle Menschen! Liebe alles, trachte nach dieser grenzenlos begeisterten Verzückung. Benetze die Erde mit deinen Freudentränen und liebe diese Tränen! Schäme dich dieser Verzückung nicht, schätze sie hoch: Sie ist eine große Gabe Gottes, die nicht vielen gegeben wird, sondern nur den Auserwählten!

i) Über die Hölle und das Höllenfeuer. Eine mystische Betrachtung

Meine Väter und Lehrer! Ich überlege, was wohl die Hölle sein mag. Ich urteile darüber so: Sie ist der Schmerz darüber, daß man nicht mehr lieben kann. Nur einmal in dem unendlichen, weder durch Zeit noch Raum meßbaren Sein wird einem geistigen Wesen durch sein Erscheinen auf der Erde die Fähigkeit gegeben, zu sich zu sagen: Ich bin, und ich liebe! Einmal, nur einmal wird ihm Gelegenheit zu tätiger, lebendiger Liebe gegeben, und eben zu diesem Zweck wird ihm das irdische Leben gegeben und mit ihm eine bestimmte Spanne Zeit. Doch was geschieht? Dieses glückliche Wesen weist die unschätzbare Gabe von sich, es weiß sie nicht zu schätzen: Es liebt nicht, blickt spöttisch um sich und bleibt gefühllos. Ein solcher Mensch sieht, wenn er die Erde verlassen hat, den Schoß Abrahams und spricht mit Abraham, wie es uns in dem Gleichnis von dem reichen Mann und dem armen Lazarus gezeigt ist. Er schaut das Paradies und kann zu Gott hinaufsteigen — und seine Qual besteht gerade darin, daß er zum Herrn eingehen würde, ohne geliebt zu haben, daß er mit solchen, die geliebt haben, in Berührung kommen würde — er, der ihre Liebe mißachtet hat. Denn er sieht klar und sagt sich: Ich vermag jetzt zwar bereits zu erkennen und habe zwar schon das Bedürfnis zu lieben, doch meine Liebe wird keine Großtat, kein Opfer mehr sein. Denn das irdische Leben ist beendet, und Abraham wird nicht zu mir kommen, um auch nur mit einem Tropfen lebendigen Wassers — das heißt, indem mir das frühere, tätige irdische Leben von neuem verliehen würde — die Flamme meines Bedürfnisses nach Liebe zu kühlen, die Flamme, von der ich jetzt brenne, nachdem ich sie auf Erden verschmäht habe! Mein Leben ist aus, und es wird mir keine weitere Zeit mehr gegeben werden! Obgleich ich mich freuen würde, mein Leben für andere hinzugeben, ist das doch bereits unmöglich: Jenes Leben, das ich der Liebe hätte opfern können, ist vergangen, und jetzt liegt ein Abgrund zwischen jenem Leben und diesem Sein … Man redet oft von einem materiellen Höllenfeuer. Ich spüre diesem Geheimnis nicht nach, ich fürchte mich davor. Aber ich denke, wenn es wirklich ein materielles Feuer gäbe, würden sich die Verdammten in Wahrheit darüber freuen; denn ich stelle mir vor, daß sie in der materiellen Qual wenigstens für einen Augenblick die noch schlimmere seelische Qual vergessen würden. Und es ist unmöglich, sie von dieser seelischen Qual zu befreien, weil diese Qual nicht äußerlich ist, sondern sich in ihnen befindet. Aber selbst wenn es möglich wäre, sie davon zu befreien, würden sie dadurch nur noch unglücklicher. Denn würden ihnen auch die Gerechten aus dem Paradies beim Anblick ihrer Qualen vergeben und sie in ihrer unendlichen Liebe zu sich rufen — ihre Qualen würden gerade dadurch noch vermehrt, weil die Gerechten in ihnen die Flamme der Gier nach tätiger, dankbarer Liebe, die doch schon unmöglich ist, noch stärker anfachen würden. In der Schüchternheit meines Herzens denke ich jedoch, schon das Bewußtsein dieser Unmöglichkeit würde ihnen schließlich eine Erleichterung gewähren. Indem sie die Liebe der Gerechten ohne die Möglichkeit einer Erwiderung annehmen, würden sie in dieser Ergebung und in der Wirkung dieser Demut nämlich ein Abbild jener tätigen Liebe finden, die sie auf Erden verschmäht haben: etwas, was der Wirkung von Liebe ähnelt. Es tut mir leid, meine Brüder und Freunde, daß ich das nicht deutlich auszudrücken verstehe … Wehe aber denen, die sich auf Erden selbst vernichten! Wehe den Selbstmördern! Ich denke, daß es niemand geben kann, der unglücklicher wäre als sie. Es ist Sünde, wird uns gelehrt, für sie zu beten, und die Kirche schließt sie auch formell aus, doch ich denke im geheimsten Winkel meiner Seele, daß man auch für sie beten darf. Solche Liebe kann Christus ja nicht erzürnen. Ich habe mein ganzes Leben im stillen für diese Menschen gebetet: Das beichte ich euch, meine Väter und Lehrer! Und auch jetzt bete ich täglich für sie.

Oh, es gibt in der Hölle auch solche, die stolz und wild gewesen sind, obwohl sie die unwiderlegliche Wahrheit ohne Widerspruch erkannten und anerkannten — es gibt schreckliche Menschen, die sich dem Satan und dem stolzen Geist völlig ausgeliefert haben. Für sie ist die Hölle ein selbstgewählter Aufenthalt, wo sie in ihrer Halsstarrigkeit für immer bleiben: Sie sind Märtyrer nach ihrem eigenen Willen. Denn sie haben sich selbst verflucht, indem sie Gott und das Leben verfluchten. Sie nähren sich von ihrem bösen Stolz, so wie ein Hungernder in der Wüste sein eigenes Blut aus seinem eigenen Leib saugt. Aber sie sind halsstarrig in alle Ewigkeit und weisen die Verzeihung zurück und verfluchen Gott, der sie ruft. Einen lebendigen Gott können sie sich nicht vorstellen, ohne ihn zu hassen; daher fordern sie, Gott soll kein Leben haben, sondern sich und seine ganze Schöpfung vernichten. Und sie werden bis in alle Ewigkeit im Feuer ihres Zornes brennen und nach Tod und Nichtsein dürsten. Aber sie werden den Tod nicht erlangen.


Hier endet das Manuskript Alexej Fjodorowitsch Karamasows. Ich wiederhole, es ist nicht vollständig, sondern enthält nur Bruchstücke. Die biographischen Berichte zum Beispiel umfassen nur die früheste Jugendzeit des Starez. Aus seinen Belehrungen ist vieles, was augenscheinlich zu verschiedenen Zeiten und bei unterschiedlichen Anlässen ausgesprochen worden war, zu einem einheitlich scheinenden Ganzen zusammengestellt worden. Was der Starez gerade in den letzten Stunden seines Lebens gesagt hat, ist mit voller Genauigkeit nicht wiederzugeben. Man erhält hier, nimmt man hinzu, was in Alexej Fjodorowitschs Manuskript aus den früheren Belehrungen angeführt ist, nur einen Begriff von Geist und Charakter auch dieses Gesprächs.

Das Ende des Starez trat dann ganz unerwartet ein. Zwar wußten alle, die sich an diesem letzten Abend bei ihm versammelt hatten, daß sein Tod nahe war, doch konnten sie sich nicht vorstellen, daß er so plötzlich eintreten würde, im Gegenteil. Da ihn seine Freunde in dieser Nacht anscheinend so frisch und zum Sprechen aufgelegt sahen, waren sie sogar davon überzeugt, in seinem Befinden sei eine merkliche Besserung zu verzeichnen, wenn auch nur für kurze Zeit. Selbst noch fünf Minuten vor seinem Ende war nichts dergleichen zu befürchten, wie sie später erstaunt berichteten. Er schien auf einmal einen sehr starken Schmerz in der Brust zu fühlen, wurde blaß und drückte die Hände fest gegen das Herz. Alle erhoben sich und drängten sich um ihn, er aber blickte sie, wenn auch leidend, immer noch mit einem Lächeln an, ließ sich sacht vom Lehnstuhl auf den Fußboden gleiten und kniete nieder. Dann beugte er sich mit dem Gesicht zur Erde, breitete die Arme aus, küßte wie in freudiger Verzückung die Erde und betete, wie er es gelehrt hatte. So gab er still und froh seine Seele Gott zurück.

Die Nachricht von seinem Tod verbreitete sich unverzüglich in der Einsiedelei und auch im Kloster. Diejenigen, die dem Verstorbenen am nächsten gestanden hatten, und die, denen es nach ihrem Rang zukam, begannen nach altem Brauch, seinen Leichnam zurechtzumachen, während sich die gesamte Brüderschaft in der Klosterkirche versammelte. Und noch vor Tagesanbruch erreichte, wie man später hörte, die Kunde von dem Hinscheiden des Starez die Stadt. Am Morgen sprach fast die ganze Stadt von diesem Ereignis, und eine große Zahl von Einwohnern strömte zum Kloster. Doch davon soll im folgenden Buch die Rede sein; jetzt sei nur soviel gesagt: Der Tag war noch nicht vergangen, als etwas geschah, was für alle so unerwartet kam und innerhalb des Klosters und in der Stadt einen so seltsamen, beunruhigenden, verwirrenden Eindruck machte, daß sich eine lebendige Erinnerung an jenen aufregenden Tag über viele Jahre bis heute in der Stadt erhalten hat.